Völkermord
Andrej Angrick hat in seinem bereits 2003 erschienen und jetzt wieder neu aufgelegten Buch „Besatzungspolitik und Massenmord" auf eindrucksvolle Weise den Weg der Einsatzgruppe D nachverfolgt und die Protagonisten porträtiert. Angrick ist damit ein grundlegendes Werk gelungen, das ein Muss für all diejenigen ist, die sich für die nationalsozialistische Vernichtungspolitik in der damaligen Sowjetunion interessieren. Mit dem Überfall auf die Sowjetunion nahmen auch die mobilen Mordverbände ihre Tätigkeit auf. Die Einsatzgruppe D der Sicherheitspolizei und des Sicherheitsdienstes (SD) war eine der „Sondereinheiten“ im Zweiten Weltkrieg, die an der Vernichtungspolitik in der früheren Sowjetunion beteiligt war. Die Ukraine, die Krim und der Kaukasus waren zumeist ihre Einsatzgebiete. Mit einer Stärke von ungefähr 600 Mann war sie nach den eigenen Lageberichten an ungefähr 100 000 Morden beteiligt. Der Völkermord war als Mittel der Politik gegen den Sowjetstaat angeordnet worden. Mit dem „Generalplan Ost“ sollte eines deutsch-germanischer „Garten Eden“, geschaffen worden. Insbesondere in der „Kornkammer Ukraine“, wo sie anfangs von vielen als „Befreier“ vom stalinistischen Joch empfangen wurden. Obwohl einzelne Ukrainer, soweit sie als verlässlich galten, zum Aufbau der landeseigenen Verwaltung und für Hiwi-Einheiten herangezogen wurden, war eine unabhängige Ukraine nie ernsthaft angedacht. Die Zeit des Wohlwollens war allerdings spätestens beendet, als die Bandera-Bewegung Stellung gegen das Reich bezog. Was im Buch berichtetet wird ist schwer zu verdauen, denn schonungslos werden detailliert die Pogrome der Einsatzgruppe D an der einheimischen Bevölkerung beschrieben. „Ganz normale deutsche Männer“ und ihre Helfershelfer begingen unfassbare Verbrechen. Nachdem man den größten Teil der jüdischen Bevölkerung in den besetzten Gebieten ermordet hatte, begann man die Kriegsgefangenenlager nach Juden zu durchsuchen und verfolgte „Partisanen“. Man experimentierte dabei auch mit Vergasungen. Die gesamte Einsatzgruppe setzte sich aus Personen mit sehr unterschiedlichen Biografien zusammen. Angrick stellt fest, dass die Einsatzgruppe „im Spannungsfeld ihrer kaltschnäuzigen Karrieresucht und persönlicher Wünsche, der sehr wohl ausgeprägten Struktur von Befehl und Gehorsam und der trotzdem vorhandenen Möglichkeit zur individuellen Entscheidung für oder gegen bestimmte Handlungsweisen.“ sicher kein homogener Verband war, aber trotzdem eine „erschreckend ‚homogene’, mörderische Wirkung“ hatte. Es gab sadistische Verrohungen durch das tägliche Morden, aber auch Angehörige, die die Nerven verloren und von ihren Aufgaben entbunden wurden. Angrick resümmiert: „Bezüglich der Einsatzgruppen kann man (..) anführen, dass im Rahmen militärischer Operationen noch nie zuvor so wenige Menschen willkürlich über das Leben so vieler anderer entschieden, sie ermordet und gequält hatten.“ Die Mitglieder der Sondereinsatzkommandos seien „hauptsächlich und in erster Linie Mörder“ gewesen und verdrängten ihre möglicherweise vorhandenen Skrupel. Nach dem Krieg begingen einzelne Mitglieder der Sondereinsatzkommandos Suizid, andere flohen ins Ausland, aber die meisten dieser „ganz normalen Männer“ führten ihr „ganz normales Leben“ in Deutschland fort. Nur wenige wurden zum Tode oder zu langjährigen Haftstrafen verurteilt. Den meisten gelang problemlos der Übergang in die bundesrepublikanische Gesellschaft, was laut Angrick „die spezifischen nationalen Erinnerungsformen und -diskurse der bundesdeutschen Gesellschaft maßgeblich prägen sollte.“ Ernst Reuß Andrej Angrick, Besatzungspolitik und Massenmord, Die Einsatzgruppe D in der südlichen Sowjetunion 1941-1943, Hamburger Edition, Hamburg 2023, Gebunden, 798 Seiten, 35 €.
Die bereits 2014 erschienene Biographie über Winston Churchill erscheint inzwischen auch als Taschenbuch. In diesem Jahr wäre er 150 Jahre alt geworden.
Der Verlag beschreibt ihn so: „Als Winston Churchill 25 Jahre alt war, hatte er Kriege auf drei Kontinenten erlebt, fünf Bücher geschrieben und einen Sitz im britischen Unterhaus gewonnen. Mit 60 galt er politisch als gescheiterter Mann. Doch dann kam der Zweite Weltkrieg. Churchill wurde Premierminister, leistete den entscheidenden Widerstand gegen Hitler-Deutschland und führte sein Land bis zum siegreichen Kriegsende.“ Selbst er fand seinen langjährigen politischen Werdegang mit Parteienwechseln von den Konservativen zu den Liberalen und wieder zurück, bei dem der Monarchist zum Schluss Königin Elizabeth diente, erstaunlich: „Ich diente unter der Ururgroßmutter der Queen, unter ihrem Urgroßvater, ihrem Großvater, Vater und jetzt ihr.“ Der Journalist Thomas Kielinger, der lange Jahre für „Die Welt“ aus London berichtet hatte, charakterisiert in seiner Biographie diesen exzentrischen, aber schwierigen Charakterkopf und überragenden Rhetoriker. Der am 30. November 1874 geborene Sir Winston Leonard Spencer-Churchill war ein Kind des britischen Hochadels. Sein Vater Randolph Henry Spencer-Churchill war ein bedeutender Politiker der Tories. Er war Finanzminister. Der Sohn jedoch wurde ein Ausnahmepolitiker. Aber als er mit Ach und Krach den Schulabschluss schaffte, wusste der Vater zunächst nicht, was er mit dem missratenen Sohn machen sollte. Als Politiker, Maler und Schriftsteller übertraf Winston den mit seinem Sohn Unzufriedenen aber um Längen. Winston war ein Paradiesvogel, der mit keinem anderen zeitgenössischen Politiker verglichen werden konnte und sich als Meister der Selbstinszenierung - mit einer Zigarre zwischen den Lippen - zu präsentieren wusste. Auch der Malerei hatte er sich verschrieben. Seine Bilder werden heute für mehrere Millionen Euro versteigert. Eigentlich war Winston Churchill bereits in jungen Jahren ein Held, als er im März 1901 erstmals seinen Sitz im Londoner Unterhaus einnahm. Zuvor hatte er sich bereits als Offizier und Kriegsberichterstatter einen Namen gemacht und wurde nach seiner spektakulären Flucht aus einem Gefangenenlager im Burenkrieg zuhause triumphal empfangen. Seine von ihm selbst zu Papier gebrachten Abenteuer waren schnell Bestseller. Es sollten nicht seine einzigen Bestseller werden. Mit der Schriftstellerei finanzierte er sich seinen aufwendigen Lebensstil mit Koch, Chauffeur sowie Butler und seine Erzählkunst brachte ihm zudem den Literaturnobelpreis ein. Dennoch heißt die Biographie: „Der späte Held“, womit der Autor vor allem die Zeit nach Churchills Ernennung zum Premierminister 1940 meint. In Hitler fand Winston Churchill den Gegenspieler, gegen den er in seinen Ansprachen an die Nation zu seiner Bestform auflaufen konnte. Hitler bezeichnete ihn als „verjudeten halb amerikanischen Trunkenbold“, scheiterte letztendlich aber auch an dessen Hartnäckigkeit. Das zuvor stattgefundene Ringen um Appeasement oder Wehrhaftigkeit erinnert dabei stark an heutige Zeiten. Als Hitler alle Verträge und Versprechen gebrochen hatte und Polen überfiel, erklärte auch das britische Empire Deutschland den Krieg. Gleichzeitig wird ein neues Kabinett gebildet, mit Winston Churchill erneut als Marineminister. Als die Wehrmacht am 10. Mai 1940 auch Frankreich angreift, wird Churchill Premierminister einer Allparteienregierung. Er weiß, dass die Existenz Großbritanniens auf dem Spiel steht und versucht die USA als Verbündeten zu gewinnen. Frankreich wird besetzt. Die Invasion Großbritaniens gelingt jedoch nicht, auch wegen Winston Churchill. Am 8. Mai 1945 verkündete Premierminister Winston Churchill vom Balkon des Londoner Buckingham Palace in Anwesenheit der königlichen Familie die bedingungslose Kapitulation Nazi-Deutschlands. Interessant dabei auch die von englischen Politikern geteilte Erleichterung, dass das ein Jahr zuvor stattgefundene Stauffenberg-Attentat missglückte, denn anders wäre es nach dem Krieg eine schwierigere Verhandlungsposition gewesen. Mit tiefem Misstrauen begegnete er später der Tatsache, dass Polen – dessen Befreiung von der Nazi-Tyrannei den Beginn des Weltkriegs markiert hatte – nun hinter einem „Eisernen Vorhang“ verschwand. Stalin war ihm ein neuer alter Feind. Der einst liberale Politiker Winston Churchill wandelt sich endgültig zum antisozialistischen Hardliner. Im Buch kommen auch Churchills negative Charaktereigenschaften zum Vorschein. Er äußerte sich durchaus auch rassistisch und blieb bis zum Schluss imperialistisch, war aber zuhause auch Demokrat. Trotz aller Machtfülle rüttelte er nie an den Grundpfeilern der britischen Demokratie. Selbst während des Krieges, musste er sich im Parlament einem Misstrauensvotum stellen. 1955 tritt Winston Churchill vom Amt des Premierministers , das er nach dem Krieg zwischenzeitlich verloren hatte, zurück, blieb aber dem Unterhaus bis zum Schluss als Abgeordneter erhalten. Zum Rücktritt als Regierungschef musste er regelrecht gedrängt werden. Er starb am 24. Januar 1965. Eine lesenswerte Biographie des überaus bunten und spannenden Lebens eines außergewöhnlichen Mannes, der an seinem 150. Geburtstag im November wieder in aller Munde sein wird. Ernst Reuß Thomas Kielinger: „Churchill. Der späte Held“, C.H. Beck Paperback, München 2022, 400 Seiten, 16,95 Euro.
Anfang
Es war im Oktober 1999, als ich eine Ausstellung zum Holocaust sah und ein Foto mich sehr berührte: das Foto einer Erschießung im Zweiten Weltkrieg. Als Bildunterschrift war auch der Ort angegeben, an dem die Erschießung stattgefunden hatte. Es war Winniza in der Ukraine. Winniza? Winniza hatte ich schon gehört. Mein Großvater soll dort gewesen sein, während des Krieges. Mein Großvater Ernst, der zu früh Verstorbene, nach dem ich benannt worden war. Er war zwar Parteimitglied, aber weit hinter der Front in einer Schreibstube tätig, hieß es. Vom Krieg soll er kaum etwas mitbekommen haben. Von da an interessierte es mich brennend, was in Winniza geschah und wo genau meine Großväter im Zweiten Weltkrieg tätig waren. Mich ließ das Thema nicht mehr los. Ich begann nachzuforschen. Zu meinem Erstaunen und dem Erstaunen meiner Familie musste ich erfahren, dass mein Großvater in der Kommandantur eines Kriegsgefangenenlagers in Winniza tätig gewesen war. Ich las alles, was ich dazu finden konnte, und erfuhr, dass in derartigen Lagern entsetzliche Verbrechen geschehen sind. Zu meinem noch größeren Erstaunen stellte ich fest, dass in Deutschland zwar viel über deutsche Kriegsgefangene in Sibirien zu lesen war, aber es kaum etwas über das Schicksal der sowjetischen Kriegsgefangenen gab, obwohl 3,3 Millionen von ihnen in den deutschen Vernichtungslagern umgekommen waren. Zu meinem allergrößten Erstaunen erfuhr ich bei meinen Nachforschungen, dass mein anderer Großvater, der kein Nazifreund war, mehrere Jahre – als Gefangener in russischer Hand – in eben diesem Lager in Winniza verbringen musste, nachdem die Deutschen abgezogen waren. Ich wollte nun noch genauer wissen, was in Winniza geschehen war. Anfragen an renommierte Wissenschaftler blieben ergebnislos. Meist war es den Angesprochenen nicht einmal eine Antwort wert. Mein Konzept und mein privates Fotomaterial, das ich dem Deutsch-Russischen Museum in Berlin zur Verfügung stellte, blieben dort für immer verschwunden. Trotzdem versuchte ich, weitere Erkenntnisse zu gewinnen und besuchte alle deutschen Archive, die etwas zu dieser Thematik hergeben konnten. Ich wurde dabei auch fündig. Leider waren die Ergebnisse begrenzt, doch viele Originalakten führten dazu, dass das Bild immer klarer wurde. Das Bild von zwei einfachen Soldaten an der Ostfront und von schrecklichen, zumeist ungesühnten Verbrechen. Besonders berührte mich dabei das entsetzliche Schicksal der sowjetischen Kriegsgefangen. Propaganda Nach den Anfangserfolgen der deutschen Wehrmacht beschäftigte sich auch das Propagandaministerium mit den vielen Gefangenen. Man versuchte, sie zur Bestätigung des propagierten Weltbildes zu nutzen. Goebbels ließ daher bereits am 26. August 1941 eine Fahrt der Mitglieder der Ministerkonferenz in ein Gefangenlager organisieren, an der er selbst auch teilnahm. Zweck dieses „Betriebsausflugs“ sollte sein , ich zitiere „den Konferenzteilnehmern und Vertretern des Gaues Berlin einmal die in den Wochenschauen gezeigten Unmenschen in Natur vorzuführen und hierdurch zu zeigen, vor welcher Gefahr F ü h r e r und die Wehrmacht uns gerettet haben.“ Goebbels wollte die in den Wochenschauen gezeigten …… „Bestien“… im Original vorführen. Dies misslang jedoch gründlich, denn die Teilnehmer des „Betriebsausfluges“ zeigten sich enttäuscht von den „Unmenschen“, die so gar nicht den Erwartungen entsprachen. Der Berichterstatter vom Propagandaministerium merkte in seinem Bericht enttäuscht an : „Die Fahrt brachte insofern nicht das gewünschte Ergebnis, als die Gefangenen fast durchweg Weißrussen waren und daher durchschnittlich ein durchaus menschliches Aussehen hatten (...) Ferner erklärten sie übereinstimmend, sie hätten Hunger und wollten arbeiten (...) Auch die anderen Fahrtteilnehmer haben (…) das Lager nicht mit dem Gefühl des Hasses verlassen, sondern eher in Verwunderung darüber, daß es noch so viele menschlich aussehende Russen gibt.“ Er berichtete weiter : „Ich nehme an, daß bei zukünftigen Besichtigungen vorher dafür Sorge getroffen wird, daß der in den Wochenschauen gezeigte Entwurf gezeigt wird.“ Logisch! Er war ja aus dem Propagandaministerium. Es war seine Aufgabe die Realitäten dem „Entwurf“ anzupassen. Der Berichterstatter gab bei seinen Überlegungen auch ein geradezu klassisches Beispiel der vorherrschenden „Humanität“ – nicht nur – höherer Parteikreise : Ich zitiere „Zum Abschluß der Führung wurden uns die Gefangenen gezeigt, die schon einmal ausgebrochen sind. Wir verstanden nicht, daß diese überhaupt noch lebten. (...) Sie waren hinter einem Stacheldrahtverhau und machten in dem strömenden Regen, zum größten Teil zu dreien unter einer Jacke stehend, einen erbärmlichen Eindruck. Einer der Gefangenen (...) sagte zunächst immer wieder daßelbe, nämlich sie wollten arbeiten. Dann verlangte er Brot bezw. etwas zu essen, da sie schon so lange gehungert hätten. (...) Meines Erachtens werden diese Gefangenen sowieso hinter ihrem Drahtzaun verrecken. Nicht aus Mitleid, sondern aus reinen Verstandesgründen stehe ich auf dem Standpunkt, daß man das Essen, was sie noch bekommen, sowie die Wachmannschaften, die man für sie braucht, sparen und sie, wenn sie geflohen sind, sofort töten sollte.“ Kannibalismus Die erbärmliche Situation in den Lagern in der Sowjetunion führte sogar offensichtlich öfters zu Kannibalismus. Warum es dazu kam, wurde nicht lange diskutiert. Nach Ansicht von vielen war wohl nicht die fehlende Nahrung Ursache für derartige Auswüchse, sondern das……ich zitiere…..„Untermenschentum der gefangenen Bestien“. Ein Bezirkskommandant unterstellte den kannibalistischen Gefangenen sogar Propagandamotive. Seines Erachtens aßen sich die Gefangenen nur deswegen gegenseitig auf, um die Deutschen in schlechtem Licht darzustellen (!). Feldpost Um die Lage hinter der Front zu illustrieren möchte ich auch einen Brief vorlesen, den ich bei meinen Recherchen erhielt. Es ist unveröffentlichtes Material von 1942, das eindrücklich zeigt mit welchem Selbstverständnis in der Sowjetunion gewütet wurde. Der Brief des Frontarbeiters räumt mit der immer noch kolportierten Mär auf, dass in Deutschland Niemand von dem Treiben im Osten etwas gewusst habe : Ich zitiere „Lieber Vater! Du müßtest einmal sehen wie es dem auserwähltem Volk hier geht. Alles was Hände und Füße hat schlägt und tritt an ihm herum, wenn jemand seinen Zorn auslassen will kommt ein Jüd dran, zu fett werden sie bei uns auch nicht. Früh muß sie ein Mann holen am Tag beaufsichtigen und abends wieder nach Hause bringen, denn sie wohnen gemeinsam in einem mit 3 m hohen Stacheldraht eingezäuntem Lager, wer ohne Posten auf der Straße gesehen wird, wird sofort erschossen. Auch haben wir gefangene Russen zum arbeiten, es gehen alle Tage einige kaputt oder werden erschossen. Wenn wir diese früh holen sagt der Unteroffizier am Abend muß die Zahl stimmen oder ihr habt die Burschen erschossen und ich sehe die Leichen dieses macht nichts, auch ging uns im Wald einer stiften konnten ihn aber noch in die ewigen Jagdgründe schicken. Im Zimmer haben wir Judenmädchen zum Aufwaschen, Kleiderwaschen, Strümpfstopfen, Schuh putzen haben uns diese auf dem Arbeitsamt ausgesucht, bei meinem Zimmer ist eine tüchtige Judendame wäscht und hält alles in Ordnung. Auch sind in der letzten Zeit 40 000 Juden wieder erschossen worden weil wir diese Brüder nicht mehr brauchen können, da zittern die anderen immer weil sie auch noch dran kommen. Was ich Euch geschrieben habe soll man nicht weiter erzählen, es ist verboten. Da nun das Osterfest nahe vor der Türe steht so wünsche ich Euch frohe und gesunde Osterfeiertage seid alle nochmals herzlich gegrüßt von Euren Sohn und Bruder Oskar.“ Auch die Beiläufigkeit wie im folgenden Brief desselben Autors nur wenige Monate später von unfassbaren Verbrechen berichtet wird, zeigt die unbegreifliche Normalität des bestialischen Treibens in jenen Tagen : Ich zitiere „Bei uns wäre alles in Ordnung wenn bloß der Fraß etwas besser wäre Kartoffel und wieder Kartoffel man scheißt Haufen so groß wie ein Backkorb und hat trotzdem Kohldampf. Salat oder Gemüse hat es noch nicht gegeben bis der groß wird den wir gesät haben wird es Weihnachten werden. Ich kaufe mir immer einmal Rettich etwas Butter gibt es auch hat auch wieder Bier gegeben, ist dann eine prima Brotzeit. Auch wurde eine Wasserleitung gegraben da kamen wir durch ein jüdisches Massengrab welches zirka 1 ½ Jahr alt war. Juden mußten dann die Leichen umbetten, wenn sie fertig waren fanden sie dann auch den Tod im gleichen Grab. Von dieser Sache schweigen denn ich war vom Kommando Wachhabender.“ Werdegang Ernst In Winniza selbst – wo mein Großvater Ernst als Feldwebel tätig war – gab es drei Lager : Es gab ein Ghetto für jüdische Zivilbevölkerung, das von Juli bis September 1941 bestand. Es hatte ungefähr 7 000 Bewohner und mindestens 2 000 Tote durch Erschießungen zu beklagen. Das Ghetto stand unter Zivilverwaltung. Als zweites Lager wurde in Winniza ein Zwangsarbeitslager für männliche Juden eingerichtet. Die jüdischen Mitglieder des Zwangsarbeitslagers wurden zu Gleisbauarbeiten herangezogen. Dieses Lager bestand von Dezember 1941 bis April 1944 und wurde von der SS verwaltet. Als die Arbeiter nicht mehr gebraucht wurden, sollen auch sie erschossen worden sein. Das dritte Lager, das eigentliche Kriegsgefangenenlager – Stalag 329 – bestand vom Oktober 1941 bis September 1943. Zuständig war die Wehrmacht. Laut Statistik wurden dort höchstens bis zu 20 000 sowjetische Soldaten gleichzeitig gefangen gehalten. Ernst war dort in der Schreibstube tätig, die angeblich 15 Kilometer vom Hauptlager entfernt war. Stalag 329 war nicht das schlimmste der Lager im Osten. Es fanden aber auch dort Aussonderungen, Sonderbehandlungen und Morde statt. Ernst muss von den Verbrechen zumindest gewusst haben, auch wenn er wahrscheinlich nicht direkt darin involviert gewesen war. Auch außerhalb dieser drei Lager kam es im September 1941 und im Frühjahr 1942 zu Massenerschießungen. Schätzungen gehen davon aus, dass dabei jeweils zwischen 15 000 und 30 000 Bürger in der Stadt Winniza umgebracht wurden . Ernst war Weihnachten 1942 auf Heimatbesuch und erkrankte auf der bitterkalten Zugfahrt zurück nach Winniza schwer. Trotz eines inzwischen chronischen Herzleidens musste er noch einmal zurück in die Ukraine und erlebte das Ende von Stalag 329 mit. Das Lager in Winniza wurde im November 1943 nach Ostpreußen und dann in die Lüneburger Heide verlegt. Was beim Abzug aus Winniza mit den letzten Insassen geschah, bleibt im Dunklen. Nimmt man das Verhalten der deutschen Truppe zuvor zum Maßstab, kann man nur das Schlimmste befürchten. Ernst war danach in Kroatien tätig. Allerdings war er schwer krank und lag meist im Hospital, wo er beim Rückzug in Lienz in englische Gefangenschaft geriet. Ein Jahr später wurde Ernst aus der Kriegsgefangenschaft entlassen. Er hatte jedoch in den folgenden Jahren aufgrund seiner schweren Krankheit nicht mehr allzu viel von der neu gewonnenen Freiheit. Gestorben ist er schließlich am 1950 mit 42 Jahren an der Herzkrankheit, die er sich während des Krieges zugezogen hatte. Weder für die „Sonderbehandlungen“ noch für sonstige Todesfälle im Stalag 329 wurde ein deutscher Soldat je belangt. Werdegang Lorenz Mein anderer Großvater Lorenz wurde erst Ende Januar 1942 eingezogen und wurde bereits einige Wochen später an die Front ins Kubangebiet geschickt. Er war einfacher Gefreiter. Kanonenfutter nannte man diese kurz ausgebildeten Soldaten an der Ostfront. Da sie keinerlei Kampferfahrung besaßen, war ihre Lebenserwartung an der Front nicht sonderlich hoch. Nur wenige aus seinem Regiment überlebten. Lorenz hatte Glück im Unglück und wurde bei Noworossisk Anfang Juli 1943 bei einem Granatenangriff schwer verletzt. Nach Gesundwerdung musste er allerdings wieder ran um die Reichshauptstadt zu verteidigen. Am 2. Februar 1945 schrieb er zum letzten Mal aus Bayern: „Nun trete ich zum drittenmal einen harten Weg an. Gelingt es mir, daß ich eine leichte Verwundung erwische, so bin ich bei Euch bald zu Haus, das ist mein innigster Wunsch und mein Alles. Die Lage ist jetzt ganz aussichtslos für uns, was ich ja schon immer angedeutet habe. Der Volkssturm hält den Russen auch nicht mehr vor Berlins Toren? Ich habe keine Angst vor den Russen und arbeiten kann ich überall. Nur diese Verbrecher müssen alle ausgerottet werden. Wo wir zum Einsatz kommen, ist noch nicht bekannt, (...) Hoffentlich habe ich viel Glück dabei u. Angst habe ich gar nicht. Mache mir Du lb. Frau keinen Kummer und Sorgen, denn das Schicksal wird uns treu zur Seite stehen. Nur eins möchte ich Euch noch sagen, eßt Euer Fleisch jetzt, als daß ihr es den Besatzungen gebt. Die Stimmung ist bei uns so sehr gesunken, nach den letzten Nachrichten. Auch keine Beförderungen sind bei uns noch nicht herausgekommen. Ich werde ja damit bestimmt nicht überrascht. Meine Gesinnung u. Eifer zu diesem Schwindel sind nicht geeignet. (...) Man könnte aus der Haut fahren, wenn man dieser ekligen Zeit gedenkt. Zwölf Jahre Haß u. Elend u. wie lange wird es noch dauern? Nun lb. Frau wollen wir das Beste hoffen, daß wir nach dem Krieg unser schlichtes Eheleben vollenden können. Auch unser sonniges Kind möge Gott unter seinen Schirm nehmen.“ Jeder dieser Briefe von Lorenz hätte nicht schon deswegen sein letzter sein können, weil die tödliche Front drohte, sondern auch, weil einige seiner Äußerungen als Defätismus beziehungsweise Wehrkraftzersetzung mit der Todesstrafe bedroht waren. Gerade zum Ende des Krieges reagierte der verlängerte juristische Arm des obersten Gerichtsherren Hitler berserkerhaft. Lorenz, hatte – wie schon an der Front im Kubangebiet – sehr viel Glück. Er überlebte und geriet am 16. April 1945 kurz nach Beginn der letzten Offensive in der Nähe von Berlin in Gefangenschaft. Am 10. Mai 1945 war Lorenz als Kriegsgefangener in der Ukraine im Lager Winniza angekommen. Dort sollte er erst einmal bis Ende Juli 1947 bleiben. Die Rote Armee benutzte also dasselbe Lager in dem der zukünftige Schwiegervater seiner Tochter tätig gewesen war. Sie sollten sich allerdings nie kennenlernen. Am 1. August 1947 wurde er ins Lager Kiew verlegt. Bis Ende Mai 1949 musste Lorenz in Kriegsgefangenschaft bleiben. Ihm ging es dort - nach eigenem Bekunden - nicht schlecht. Lorenz litt allerdings Zeit seines Lebens an den im Krieg erlittenen Verletzungen. Ein Bein war verkürzt, woraus sich ein schweres Hüftleiden entwickelte. Durch die weiterhin in seinem Körper wandernden Granatsplitter litt er ständig unter Schmerzen. Die Fortführung des „schlichten Ehelebens“, was von ihm in den Briefen als sehnlichster Wunsch genannt worden war, dauerte nicht allzu lange. Dreieinhalb Jahre nach seiner Heimkehr starb seine Ehefrau Anna. Er selbst starb 1981. SchlussVon 3,1 Millionen deutschen Kriegsgefangenen sollen nur ungefähr 2 Millionen wieder zurückgekommen sein. Über ein Drittel der deutschen Kriegsgefangenen sind demnach in den Lagern umgekommen . Dennoch, die Behandlung von sowjetischen Kriegsgefangenen durch Deutsche unterscheidet sich fundamental von der Behandlung deutscher Kriegsgefangener durch die Sowjets. Im Gegensatz zur systematischen Vernichtung von sowjetischen Kriegsgefangenen lassen sich die häufigen Todesfälle von deutschen Kriegsgefangenen, insbesondere unmittelbar nach Stalingrad, weitgehend mit der Auszehrung und dem schlechten Gesundheitszustand der deutschen Soldaten nach diesen langen Kämpfen erklären. Ein weiterer Grund war die allgemein schlechte Lebens- und Versorgungssituation in der ausgebluteten Sowjetunion. Schon aus diesem Grund wäre ein einfacher Zahlenvergleich der Todesfälle in den Lagern mehr als fragwürdig. Während Deutsche in der Sowjetunion zumeist gemäß den Genfer Konventionen behandelt wurden, waren die Deutschen mitnichten an einer menschenwürdigen Behandlung sowjetischer Kriegsgefangener interessiert. Zwar hatte auch das Deutsche Reich 1934 die Genfer Konventionen ratifiziert. Dennoch sollten diese nicht für sowjetische Kriegsgefangene gelten. Die deutsche Regierung stellte sich auf den Standpunkt, dass die Konventionen nur bei Gegenseitigkeit Gültigkeit besäße und Russland hatte die Genfer Konvention nicht unterzeichnet. Eigentlich wäre auch das kein allzu großes Problem gewesen, denn Russland hatte die zuvor gültige Haager Landkriegsordnung von 1907 unterzeichnet, aber die deutsche Regierung wollte für sowjetische Gefangene nicht einmal diese Abkommen anwenden. Konventionen für die „slawischen Untermenschen“ war eine Humanitätsduselei, die sich die rassistisch motivierte Ideologie der Nazis nicht leisten wollte. In Hitler-Deutschland vertrat man die Ansicht, dass die Sowjets sich von allen Verträgen des zaristischen Russlands, also auch von der Haager Landkriegsordnung, losgesagt hätten. Man hatte somit den Vorwand gefunden, sich gegenüber einem bolschewistischen Russland nicht mehr an derartige Verpflichtungen gebunden fühlen zu müssen. Die Bevölkerung der Sowjetunion sollte dezimiert, das „Judentum“ und der Bolschewismus ausgerottet werden. Eine kurze Anmerkung noch: Nach dem Krieg erhielten auch die durch die Westalliierten gefangenen Soldaten nicht den Status als Kriegsgefangene, sondern galten als Internierte. Sie waren daher nicht den Genfer Konventionen und der Haager Landkriegsordnung unterworfen. Man argumentierte, dass der Staat aufgehört habe zu existieren, ergo gäbe es auch keine staatlichen Soldaten mehr. In den USA hießen sie „Disarmed Enemy Forces“. Bei den Briten hießen sie „Surrendered Enemy Personnel“. Beide Begriffe ähneln dem heute in Guantanamo benutzten Begriff des „enemy combattant.“ Alles Begriffe, die völkerrechtlich nicht anerkannt sind. Auf die Genfer Konventionen wird augenscheinlich meist nur bei den eigenen Soldaten gepocht. 174. Freitagsbrief Aber zurück zu den sowjetischen Kriegsgefangenen. Da mit Stalins Befehl Nr. 270 vom 16. August 1941 Gefangenschaft mit Verrat gleichgesetzt worden war, hatten viele sowjetische Gefangene, obwohl es relativ wenige Kollaborateure unter ihnen gegeben hatte, zu Recht Angst, wieder zurück in ihr Heimatland zu müssen. Von den zwangsrepatriierten Kriegsgefangenen erhielt nur ein Fünftel die Erlaubnis heimzukehren. Der Rest wurde verurteilt oder als Zwangsarbeiter in verwüstete Gegenden geschickt. Erst 1957, nach dem XX. Parteitag, wurden die ehemaligen Kriegsgefangenen amnestiert, blieben aber bei der eigenen Bevölkerung häufig geächtet. Zum Schluss daher ein relativ aktueller Brief eines sowjetischen Kriegsgefangen „Ich bin ich Jahre 1921 (…) geboren. Im November 1940 wurde ich in die Armee eingezogen. Ich diente als einfacher Soldat in der 12. Schützenbrigade. Am 22. Juni 1941 begann der Krieg. Ich wurde an die Front geschickt. Im Juli 1941 wurde ich in der Ukraine schwer verletzt. Ich lag lange allein. Ich hatte großen Blutverlust. Endlich wurde ich abgeholt und zusammen mit anderen Verletzten mit einem Zug in die Stadt gebracht. Dort wurde ich 9 Monate lang behandelt. Nach der Genesung schickte man mich wieder an die Front. Ich kam nach Kertsch auf der Krim. Dort geriet ich in einen Kessel. Ich wurde von den Deutschen gefangen genommen und nach Deutschland verschleppt. Dort befand ich mich in einem Kriegsgefangenenlager. Gerade im Lager begann für mich der Schrecken des Krieges. Die Menschen waren dünn und entkräftet, mit weißen Gesichtern. Man musste auch noch arbeiten. Jeden Tag starben viele Menschen. Ich überlebte dank eines Wunders. Das Essen war kalorienarm, sehr bescheiden: es wurden ein bisschen Rüben geschnitten, dazu Wasser. Das wars. Das nannte man „Suppe“. Zusätzlich gab es 200 Gramm Spänebrot. So war das Essen für den ganzen Tag. (…) Es ist schwer, sich an das Ganze zu erinnern. Vieles habe ich nicht mehr im Kopf. Ich hielt mich in Deutschland bis 1945 auf. Danach wurde ich von amerikanischen Truppen befreit. Ich und andere Kriegsgefangene wurde mit Bahnwaggons nach Brest gebracht. Wir, schwache, kranke, arbeitsunfähige, wurden nach Sibirien geschickt (…). Dort sollte ich zwei Jahre arbeiten. Ich durfte nicht heimkehren. (…) Wir wurden als Vaterlandsverräter eingeordnet, nur aus einem einzigen Grund, dass wir in Kriegsgefangenschaft gerieten. Wir zerkleinerten große Tonstücke, stapelten sie. Danach wurde der Ton mit Wagen weggebracht. (…) Ich verwundere mich, dass ich damals überlebte, dass ich noch am Leben bin. Jetzt bin ich schwer krank. Meine Beine, Hände, mein Magen tun weh. Alles tut weh. Meine Seele tut auch weh. Meine Rente ist klein. Ich lebe mit der Ehefrau Sofia zusammen. Wir haben zwei Kinder und zwei Enkel. Ich weiß nicht, was ich noch schreiben soll. Wenn ich in Erinnerungen versinke, habe ich Kopfschmerzen. Ich bin oft sehr nervös. Es ist schwer sich überhaupt vorzustellen, wie ich das Ganze überlebt habe. Ich höre schlecht. In der rechten Hand habe ich immer noch Splitterreste. Ich kann keine Unterlagen, keine Nachweise finden. Damit beende ich meinen Brief.“ Und ich beende hiermit meinen kurzen Vortrag. Ernst Reuß
Heinrich Himmler ordnete im April 1940 den Bau eines Konzentrationslagers in Oswiecim, auf Deutsch Auschwitz, an. Die SS errichtete das Stammlager in den Gebäuden einer ehemaligen polnischen Kaserne. Schon im Mai 1940 trafen die ersten KZ-Häftlinge im Lager ein. Die Lage war verkehrstechnisch günstig gewählt worden. Der Bahnanschluss vereinfachte die rasche Deportation von Juden aus vielen Gebieten Europas in das nicht weit von Krakau und Kattowitz entfernte Auschwitz. In der dünn besiedelten Umgebung konnten weitgehend unter Ausschluss der Öffentlichkeit schlimmste Verbrechen begangen werden. Die dorthin Deportierten wurden für drei bis sechs Reichsmark pro Zehnstundentag an deutsche Unternehmen als Arbeitssklaven vermietet. Nicht nur die I.G. Farben, sondern auch andere deutsche Firmen, die Wehrmacht und das Rüstungsministerium Albert Speers profitierten davon. Anfangs als Arbeits- und Gefangenenlager gedacht, wurde es spätestens nach der Wannseekonferenz zu einem Vernichtungslager, das zum Synonym für die Judenvernichtung durch die Deutschen und ihre Helfer geworden ist.
Bald nach Errichtung des Stammlagers reichten die Kapazitäten nicht mehr aus. Bereits im März 1941 ordnete Himmler eine Vergrößerung des Lagers nahe dem benachbarten Dorf Brzezinka, auf Deutsch Birkenau, an. Die Kapazität des Lagers war auf 200 000 Menschen ausgelegt. Dort sollte die industrielle Vernichtung von Juden erfolgen. Zudem wurde auf Initiative und Kosten der I.G. Farben AG das Lager Auschwitz–Monowitz errichtet, wo Zwangsarbeit verrichtet werden musste. Es war das größte von insgesamt etwa 50 Außenlagern. In Auschwitz und Birkenau wurde selektiert. Alte, Kranke, Schwache und Kinder wurden in der Regel sofort nach ihrer Ankunft vergast, arbeitsfähige Männer und Frauen erst einmal unter menschenunwürdigsten Bedingungen versklavt. Registriert und mit Nummern versehen wurden nur diejenigen, die bei der Selektion nicht zur sofortigen Vernichtung bestimmt wurden. Hatte man die Selektion überlebt, konnte schon der nächste Tag der letzte sein. In Auschwitz wurden 1,1 bis 1,5 Millionen. Menschen von der SS ermordet. Darunter waren mindestens 1 Millionen Juden, bis zu 75 000 Polen, 21 000 Sinti und Roma, circa 15 000 sowjetische Kriegsgefangene und an die 15 000 Menschen, die keiner dieser Kategorien zugeordnet werden können. Am 27. Januar 1945 befreite die Rote Armee die Lager. Der Jahrestag der Befreiung des KZ Auschwitz ist seit 1996 in Deutschland, seit 2005 international der Tag des Gedenkens an die Opfer des Nationalsozialismus. Jüngst sind daher zwei Augenzeugenberichte erschienen, von Überlebenden, die damals noch Kinder waren. Eine davon war Rachel Hanan. Sie schreibt: „Ich war ein Teenager, noch ein halbes Kind, als ich an meinem 15. Geburtstag in Auschwitz ankam. Ziemlich genau ein Jahr später, eine Woche vor meinem 16. Geburtstag, wurde ich im Konzentrationslager Theresienstadt aus der Gefangenschaft der Nationalsozialisten befreit.“ Rachel Hanan überlebte als Teenager vier Konzentrationslager, bevor sie am 9. Mai 1945 von der Roten Armee in Theresienstadt befreit wurde. Vorher war sie in Auschwitz, wo sie den überaus freundlichen Dr. Mengele kennenlernte, der im Gegensatz zu den brüllenden Soldaten, mit denen sie tagtäglich konfrontiert wurde, immer mit freundlicher Miene und ohne weitere Regung über Tod oder Leben entschied. Danach war sie in Bergen Belsen und in Duderstadt, einem Außenlager von Buchenwald. Rachel stammte aus Unterwischau, einer Gemeinde im Norden Rumäniens. Ungarn hatte 1940 mit Hilfe Hitlers einen Teil von Siebenbürgen okkupiert, die Juden entrechtet und später deportiert. 1947 wanderte Rachel nach Israel aus und arbeitete dort als Sozialarbeiterin. Die andere - Tova Friedman - ist gerade einmal fünf Jahre alt, als sie mit ihrer Mutter nach der vorherigen Ghettoisierung und dem Aufenthalt in einem Arbeitslager in das Vernichtungslager Auschwitz Birkenau deportiert wird. Sie schreibt: „Ich habe überlebt. Damit einher geht die Verpflichtung gegenüber den anderthalb Millionen jüdischen Kindern, die von den Nazis ermordet wurden. Sie können nicht mehr sprechen. Also spreche ich für sie.“ Tova Friedman gehörte zu Beginn des Zweiten Weltkriegs zu den 50 000 jüdischen Kindern der polnischen Stadt Tomaszow Mazowiecki. Nur fünf davon überlebten die Nazizeit. Sie hatten unsagbares Leid zu überstehen. Tova kehrte mit ihre Mutter an ihren Wohnort zurück, wo sie den polnischen Antisemitismus erlebte. Eine Tante wurde von antisemitischen Banden getötet. Über die Station Berlin, Landsberg am Lech und Israel ging Tova Friedman in die USA und arbeitete dort als Psychotherapeutin. Sie schreibt in ihrem Vorwort: „Wenn Sie jetzt weiterlesen, möchte ich, dass Sie schmecken, fühlen und riechen, wie es war, als Kind während des Holocaust zu leben. (...) Ich hoffe, Sie werden wütend. Denn wenn Sie wütend sind, besteht die Möglichkeit, dass Sie Ihre Empörung mit anderen teilen, und das erhöht wiederum die Chancen, einen weiteren Völkermord zu verhindern.“ Ihre Erzählungen wurden aufgeschrieben von einem freien BBC Journalisten, der das alltägliche Grauen plastisch beschreibt, so dass man mit etwas Empathie nur schaudern und wütend werden kann. Schrecklich was den Menschen angetan wurde und trotzdem muss man es immer wieder lesen, um das ganze Ausmaß des Schreckens verstehen zu können. Antisemitismus ist wieder auf dem Vormarsch und das obwohl der Holocaust erst ein paar Jahrzehnte zurückliegt. Die Erinnerung daran muss wach bleiben. Nie wieder! Ernst Reuß Rachel Hanan, Thilo Komma-Pöllath, Ich habe Wut und Hass besiegt«, Was mich Auschwitz über den Wert der Liebe gelehrt hat, München 2023, 288 Seiten, 20,00 € Tova Friedmann und Malcom Brabant, Ich war das Mädchen aus Auschwitz, 352 Seiten, übersetzt von Ulrike Strerath-Bolz, München 2023, 18,00 € Susanne Willems: „Auschwitz“. Die Geschichte des Vernichtungslagers. Edition Ost, Berlin 2015, 256 Seiten, 29,99 Euro.
„Eine Jugend in Deutschland“ ist die Autobiographie eines Mannes und ein sehr spannendes Stück deutscher Geschichte.
Als Freiwilliger zieht Ernst Toller begeistert in den Ersten Weltkrieg und kehrt - wie so viele andere auch - als bekennender Pazifist zurück. Toller stürzt sich in die politische und künstlerische Arbeit. Er lernt unter anderen Max Weber, Thomas Mann sowie Rainer Maria Rilke kennen und schließt sich einer Gruppe von linken Kriegsgegnern in München an, zu denen Erich Mühsam, Oskar Maria Graf und Kurt Eisner gehören. Im November 1918 wird er in München einer der Anführer der nur kurz existierenden Münchner Räterepublik, die er zusammen mit Erich Mühsam und Kurt Landauer gegründet hatte. Der 1893 geborene Ernst Toller war nach der Ermordung Kurt Eisners auch zeitweiliger Vorsitzender der bayerischen USPD. Nach der Niederschlagung der Räterepublik wurde er im Juni 1919 verhaftet und wegen Hochverrats angeklagt. Er entging mit dem einen Monat später gefällten Urteil knapp der drohenden Todesstrafe und wird zu fünf Jahren Festungshaft verurteilt. Als er am 15. Juli 1924 das Gefängnis lebend verlässt - was nicht jedem seiner Genossen gelingt - ist Ernst Toller auch aufgrund seiner literarischen Erfolge eine nationale Berühmtheit. Toller verbüßte den größten Teil seiner Haftzeit im Gefängnis Niederschönenfeld. Er nutzte die langjährige Haft sehr produktiv, wobei es nicht immer einfach war seine Bücher aus dem Gefängnis herauszubekommen. Während und nach seiner Gefängniszeit wurde er als Schriftsteller in der Weimarer Republik und durch die vielen Übersetzungen auch international sehr bekannt. Mit seiner Geschichtsrevue „Hoppla, wir leben!“ eröffnete 1927 die Piscator-Bühne im Berliner „Theater am Nollendorfplatz“, die zum Inbegriff des Avantgardetheaters der 1920er Jahre wurde. „Ich bin dreißig Jahre. Mein Haar wird grau. Ich bin nicht müde.“, schreibt er am Ende der Haft. Doch nicht lange danach ist er müde. Sechs Jahre nach Hitlers Machtergreifung erhängte er sich nach schweren Depressionen im Alter von 45 Jahren in New York in einem Zimmer des Mayflower Hotels am Central Park. Einen Strick hatte er schon in den Jahren zuvor bei seinen Reisen immer dabei. „Eine Jugend in Deutschland“ wurde gerade in der „Anderen Bibliothek“ neu aufgelegt. Seit 1985 gibt es „die Andere Bibliothek“. Dort gibt es zwölf limitierte und besondere Bücher im Jahr. Ein Buch pro Monat, auf dessen Herstellung und Ausstattung die höchste Sorgfalt verwendet wird. Ediert und erläutert wird Tollers Autobiographie von Ernst Piper. Im Buch sind zahlreiche historische Abbildungen, Faksimiles und Dokumente. Nach 1933 war der jüdischstämmige Toller aus Deutschland ausgebürgert worden. Er galt als „Volksverräter“. Ähnlich denkende und in deutschen Parlamenten sitzende Politiker wollen das nach ihrer Machtübernahme auch jetzt wieder tun. Nach mehreren Exilstationen kam er 1937 in die USA. Er muss angesichts der Erfolge der Nazis vor seinem Suizid sehr verzweifelt gewesen sein. Vor denen hatte er bereits in den 1920er Jahren gewarnt. In dem Buch heißt es: „Um den Mann Adolf Hitler scharen sich unzufriedene Kleinbürger, frühere Offiziere, antisemitische Studenten und entlassene Beamte. Sein Programm ist primitiv und einfältig. Die Marxisten und die Juden sind die inneren Feinde und an allem Unglück schuld, sie haben das unbesiegte Deutschland hinterrücks gemeuchelt und dann dem Volk eingeredet, Deutschland hätte den Krieg verloren.“ „Eine Jugend in Deutschland“ ist nicht nur wegen der schönen Prosa gerade heute wieder ausgesprochen lesens- und bedenkenswert! Die bibliophile Ausgabe seines Buches schmückt zudem jede Bibliothek. Ernst Reuß Ernst Toller, Eine Jugend in Deutschland, Aufbau Verlag, Die Andere Bibliothek, Band 469, Herausgeber Ernst Piper, Berlin 2024, 348 Seiten, 48 €.
Wer immer noch nicht den Unterschied zwischen einer antisemitische Pogrome veranstaltenden Mörderbande und einer Freiheitsbewegung gegen ein Apartheidsregime erkennt, sollte dieses Buch lesen. Letztes Jahr auf englisch erschienen, nun für die Edition Tiamat aus Berlin auf Deutsch übersetzt. Das Buch erschien vor dem 7. Oktober und wirkt wie eine Prophezeiung auf das was danach geschah.
Mit dem Buch „Israelphobie. Die unendliche Geschichte von Hass und Dämonisierung“ bemüht sich der englische Journalist Jake Wallis Simons zu erklären, warum bei Eskalationen im Nahost-Konflikt regelmäßig der Hass auf Israel aufblüht, so wie zuletzt nach dem Pogrom vom 7. Oktober 2023. Er bezeichnet dieses immer wieder auftretende Phänomen als „Israelphobie“, die auch in linken Kreisen vorherrscht, seitdem vor vielen Jahren das Tragen eines Palästinensertuches zum modischen Accessoire von linken Jugendlichen geworden ist. Israel bleibt ein Feindbild, nicht nur für muslimische Jugendliche. Simons schreibt: „Die palästinensische Sache ist zu einem ideologischen Totem für den revolutionären Instinkt der Linken (....) geworden“. Die einschlägigen Schlagworten lauten: „Apartheid“, „Rassismus“, „Völkermord“. Im Buch dargestellt sind unzählige Beispiele von Denunziationen Israels. Im Mittelalter wurden die Juden wegen ihrer Religion gehasst, später dann wegen ihrer „Rasse“. Heute wird Israel als „Apartheidstaat“ gehasst. Jake Wallis Simons nennt das „Israelphobie“ und geht der Frage nach, warum die einzige Demokratie im Nahen Osten, die die Rechte von Frauen und sexuellen und religiösen Minderheiten achtet, so unverhältnismäßig viel Hass auf sich zieht. Dabei werden Fakenews verbreitet und weitaus schlimmere Auswüchse in anderen Ländern verschwiegen oder die schlechte Behandlung von Palästinensern in muslimischen Ländern nicht thematisiert. Vielfach werden die Propagandameldungen aus vergangen Nazi- und Sowjetzeiten einfach nachgeplappert. „Israelphobie ist die neueste Version des ältesten Hasses“, schreibt Simons, der die Dämonisierung Israels mit diesem Buch entlarven will. Ernst Reuß Jake Wallis Simons, Israelphobie. Die unendliche Geschichte von Hass und Dämonisierung, Berlin 2023 (Edition Tiamat), 238 S., 24 €.
Natascha Wodin gelingt das, was Autoren von historischen Sachbüchern oft nicht gelingt. Sie kleidet die Welt des letzten Jahrhunderts mit ihren katastrophalen Verwerfungen und den Auswirkungen auf die Familien in wunderbare Prosa, so dass man das Buch in einem Rutsch durchlesen kann, ohne es aus der Hand zu legen.
Das beweist sie auch in ihrer neuen, autobiografisch anmutenden Sammlung von fünf Erzählungen, die zum Teil schon in anderen Büchern erschienen sind und von ihr überarbeitet wurden. Das Schreiben ist für Wodin Aufarbeitung, was auch in diesem glänzend erzählten Buch deutlich wird. Ein leicht zu lesendes, aber kein leichtes Buch ohne Happy End, das tief in die Seele der Autorin blicken lässt. Die Titelgeschichte „Der Fluss und das Meer“ kommt vom kleinen Fluss Regnitz in Forchheim, in dem die Mutter Suizid beging, zum Asowschen Meer ihrer Heimatstadt Mariupol. Dann beobachtet und beschreibt sie eine verwahrloste Frau aus der Nachkriegszeit, deren gut situierte, sich von ihr gestört fühlende, Nachbarschaft sie wissentlich zugrunde gehen lässt und für deren Tod sich die Erzählerin auch persönlich verantwortlich fühlt. Danach erzählt Wodin von einem Mann, der in einer geschlossenen Anstalt dahinvegetiert und zu dem sie eine platonische aber unerfüllte postalische Liebesbeziehung pflegt. Eine Reise nach Sri Lanka wird für sie eher katastrophal. Zuletzt berichtet sie von einer Angststörung, die eines Tages scheinbar grundlos kam und sie über Jahrzehnte hinweg kaum noch ihre jeweilige Wohnung verlassen lässt. All die Figuren in ihren Geschichten nehmen ihren Ursprung in der eigenen Lebensgeschichte Natascha Wodins, die als Kind russisch-ukrainischer „Ostarbeiter“ in der BRD aufwuchs. Für ihr erfolgreichstes Buch mit dem Titel „Sie kam aus Mariupol“ wurde Natascha Wodin zu Recht schon 2017 mit dem Preis der Leipziger Buchmesse für Belletristik ausgezeichnet. In der auf Tatsachen beruhenden Erzählung geht es vordergründig um das Leben ihrer ukrainischen Mutter, die aus der Hafenstadt Mariupol stammte und mit ihrem Mann 1943 als „Ostarbeiterin“ nach Deutschland kamen. Ihre Mutter, die als junges Mädchen den Niedergang ihrer Familie im Bürgerkrieg und anschließendem Terror miterlebte, beging 1956 mit 36 Jahren Selbstmord, als die Tochter gerade einmal zehn Jahre alt war. Eine dramatische Familiengeschichte in Zeiten von Revolution, Hunger, Krieg, Gulag, Selbstmorden, Mord und dem Leben als „Heimatloser Ausländer“ in der fränkischen Provinz. Die wechselvolle Geschichte ihrer Familie ist sowohl ein Familiendrama als auch eine Flüchtlingsgeschichte aus dem letzten blutigen und sehr ereignisreichen europäischen Jahrhundert. Mit Hilfe eines computeraffinen Hobbyhistorikers aus Russland rekonstruiert sie die Herkunft ihrer Mutter. Die Geschichte dieser im ersten Teil des Buches aufgeschriebenen Recherche liest sich wie ein Krimi. Der zweite Teil des Buches verdankt sie den dadurch entdeckten Aufzeichnungen ihrer nicht mehr lebenden Tante. Er führt aus deren Perspektive vom vorrevolutionären Russland einer zu großem Vermögen gekommenen italienischstämmigen und adligen Familie, zu stalinistischen Terror und furchtbaren Hungersnöten. Ihre 1920 geborene Mutter hatte die einstmalige Pracht nie erlebt und daher auch nie thematisiert. Deren Leben begann im revolutionären Chaos und stolperte von einer Katastrophe in die nächste. Ihre bürgerliche Herkunft war in der Ukraine lediglich eine Bürde und war für sie kein Grund in der Vergangenheit zu schwelgen. Der dritte Teil des Buches erzählt den Werdegang der Mutter, die trotz ihrer bürgerlichen Herkunft studieren konnte und nach dem Einmarsch der Wehrmacht eine Anstellung beim deutschen „Arbeitsamt“ fand, der Vermittlungsstelle für Zwangsarbeiter. Möglicherweise war diese Form von Kollaboration auch ein Grund ihres Exils in Deutschland und im Gegensatz zu vielen anderen Ostarbeitern keine Verschleppung. Wodin wurde in einem Arbeitslager des Flick-Konzerns gezeugt und kam 1945 auf die Welt. Der vierte und letzte Teil des Buches erzählt von der Nachkriegszeit. Im Schuppen einer Eisenwarenfabrik in Nürnberg wächst die rebellische Tochter schließlich in ärmlichsten und schwierigen Verhältnissen auf. In ihrem Elternhaus mit einem gewalttätigen Vater und einer depressiven Mutter herrschen chaotische Verhältnisse, ansonsten wird geschwiegen. Wodins Mutter trauerte ihren engsten Familienangehörigen nach, die sie alle zu verloren haben scheint. Erst ihre Tochter findet nun wieder die Spuren dieser Familie und stellte dabei fest, dass man - ohne voneinander auch nur zu ahnen - sich nach dem Krieg an Orten befand, die nicht allzu weit entfernt waren. Die Nachkriegszeit und der beginnende Kalten Krieg ließen jedoch kein Wiedersehen zu. Ernst Reuß Natascha Wodin, Der Fluss und das Meer, Erzählungen, Rowohlt Verlag, Hamburg 2023, 192 Seiten, 22 Euro. Natascha Wodin, Sie kam aus Mariupol, Roman, Rowohlt Verlag, Hamburg 2017, 364 Seiten, 19,95 Euro.
Mordende Frauen sind eher die Ausnahme. Tötungsverbrechen begehen sie vor allem durch die Verabreichung von Gift. Eine Frau, die Männer erdrosselt, ist schon angesichts der Kräfteverhältnisse eine Rarität. Aber auch das gab es, wenn man dem Gericht glauben darf. Zumindest in diesem Fall unmittelbar nach dem Krieg, der auch mit der sich zum 75 mal jährenden Währungsreform in Berlin zu tun hat.
Wegen der Kräfteverhältnisse bestanden aber auch erhebliche Zweifel an Elisabeth Kusians Geständnis. Man vermutete einen männlichen Mittäter. Sogar eine Wahrsagerin mischte sich ein, die „vor ihrem inneren Auge“ einen männlichen Täter gesehen haben will. Daraufhin widerrief Kusian ihr Geständnis und beschuldigte ihren Ex-Mann, die ihr zur Last gelegten Morde aus Eifersucht verübt zu haben. Sie habe ihm nur bei der Beseitigung der Leiche geholfen. Kusians Ex-Mann, mit dem sie auch nach der Scheidung noch eine intime Beziehung unterhielt, wurde zwar verdächtigt, aber nach kurzer Haft als entlastet auf freien Fuß gesetzt. Er war allerdings nicht der einzige Verdächtige. Kusian pflegte mehrere Beziehungen. Auch ihr neuester Liebhaber stand unter Mordverdacht. Kusians Ex-Mann Walter wusste von ihren Liebhabern, diese aber nicht von ihm. Mitunter musste Walter sich selbst als Elisabeths Schwager ausgeben, wenn er sie zufällig mit einem ihrer Geliebten traf. Selbst seine eigenen Kinder wurden dann dazu angehalten, „Onkel Walter“ zu ihm zu sagen. Kusians neue große Liebe war Kriminalsekretär Muschan, angeblich ein glücklich verheirateter Vater von drei Kindern. Um seine Familienverhältnisse mit eigenen Augen zu begutachten, hatte Elisabeth, als Weihnachtsmann verkleidet, die überraschte Familie Muschan vor ihrem Weihnachtsbaum besucht. Ziemlich übergriffig, aber offenbar schöpfte Muschans Ehefrau keinen Verdacht. Kusian hatte ihrem neuen Freund erzählt, ihr Mann, ein Oberarzt, sei verstorben. Dem wiederum hatte sie vor der Ehe anvertraut, sie sei Offizierstochter. Alles erfunden. Ihre eigene Mutter machte Kusian zu einer ungarischen Gräfin, und sie entwarf Todesanzeigen hochrangiger Personen, bei denen sie selbst als stud. med. unter den Hinterbliebenen auftauchte. Elisabeth Kusian dachte sich immer wieder neue Lügengespinste für ihre verworrenen Verhältnisse und Hochstapeleien aus. Ihr Ex-Mann hielt trotzdem immer zu ihr. Der Fall, der ohne die Währungsreform und ohne die Zuständigkeitsproblematiken der geteilten Polizei wohl anders verlaufen wäre, war jedenfalls nicht nur in Berlin eine Sensation. Er fand in der östlichen und westlichen Presselandschaft, aber auch im Ausland reichlich Resonanz. Der Telegraf titelte am 15. Januar 1951: „Lügen, Morphium, Liebe, Mord ...“ Elisabeth wurde am 8. Mai 1914 kurz vor Beginn des Ersten Weltkriegs in dem kleinen Dorf Bornshain in Thüringen als jüngstes von sechs Geschwistern geboren. Sie durchlebte ihre Kindheit und Jugend in Armut, denn der Vater, der als Melker („Oberschweizer“) auf einem Gut sein Auskommen fand, starb 1915 im Krieg, und die Mutter musste die sechs Kinder alleine großziehen. 1936 heiratete sie einen überzeugten Nationalsozialisten, den damals als Wärter einer „Irrenanstalt“ tätigen Walter Kusian, und bekam mit ihm drei Kinder. Er war bereits 1926 in die NSDAP eingetreten und als „alter Kämpfer“ für einen Karrieresprung prädestiniert. Die Familie lebte daher inzwischen in Berlin am Gesundbrunnen. Ihr Mann, der nach der NS-Machtübernahme im Goebbels’schen Propagandaministerium arbeitete, schlug sie und die Kinder. Elisabeth war unglücklich und brachte das immer wieder mit Ohnmachtsanfällen und mehr oder weniger ernst gemeinten Selbstmordversuchen zum Ausdruck. Im Prozess hieß es: „Die Angeschuldigte ist eine psychopathische Persönlichkeit mit einer disharmonischen Charakteranlage und ausgesprochen hysterischen Zügen.“ Ein Sachverständiger, der sie für das Gericht begutachtete, schrieb: „Ein besonders wichtiger Bestandteil ihrer psychopathischen Charakteranlagen ist ihre ungewöhnliche Unaufrichtigkeit und psychopathische Lügenhaftigkeit, die (...) in den letzten Jahren geradezu einen pseudologistischen Charakter angenommen haben und von ihr auch nach Entdeckung ihrer Straftaten in geradezu sinnloser Weise beibehalten worden sind, so daß sich ihre Vernehmungen und auch die ärztlichen Untersuchungen zum Teil außerordentlich schwierig gestaltet haben.“ Nachdem ihr Mann zum Kriegsdienst eingezogen worden war, ging sie fremd und gab seine ganzen Ersparnisse innerhalb kürzester Zeit aus. Vorher hatte er sie ziemlich kurz gehalten. Sie verliebte sich 1942 in einen „Untermusikmeister der Luftwaffe“ und bat um die Scheidung, aber ihr Ehemann willigte nicht ein. Er war - wie auch später - stets bereit seiner Ehefrau das Fremdgehen zu verzeihen, „weil er sie bis auf den heutigen Tag liebt.“ - so das Gericht. Gerne stapelte die junge Frau auch in jener Zeit hoch und gab sich bei ihren Ausflügen ins Berliner Nachtleben als ungarische Gräfin, Medizinstudentin oder Malerin aus. Sie schrieb sogar Briefe an sich selbst, um ihr Lügengespinst aufrechtzuerhalten. Kusian ging viel aus und feierte in ihrer Wohnung ausufernde Feste, als ob es kein Morgen gäbe. Missgünstige und neugierige Nachbarn sprachen sogar von Orgien. Als Krankenschwester arbeitete sie dennoch bis zum Kriegsende im Robert-Koch-Krankenhaus, wie das inzwischen geschlossene ehemalige Krankenhaus Moabit in der NS-Zeit genannt wurde. In den 1920er-Jahren war es bis zur Entlassung der jüdischen Ärzte die wichtigste Klinik Berlins nach der Charité gewesen. Die neu eingesetzten, parteinahen Ärzte konnten mit ihren Vorgängern keineswegs mithalten, und die Sterblichkeitsrate im Krankenhaus soll dramatisch angestiegen sein. Nun erfolgten auch dort Zwangssterilisationen an Alkoholikern oder an „verhaltensauffälligen Frauen“. Elisabeth Kusian erlitt kurz vor Kriegsende eine Schussverletzung am Unterschenkel. Sie besorgte sich Morphium, um die Schmerzen zu lindern. Pervitin wiederum nahm sie ein, um sich aufzuputschen. Vor ihren Taten will sie sich jeweils etwas gespritzt haben, galt aber als schuldfähig. 1947 ließ sich Elisabeth Kusian dann doch scheiden, die Kinder brachte sie ins Heim. Sie selbst suchte wegen dauernden Geldmangels Kontakt mit der Unterwelt. Sie freundete sich mit einem Mitglied einer Einbrecherbande an, und als der in den Knast kam, wechselte sie die Seiten und verliebte sich in den West-Berliner Kriminalsekretär Kurt Muschan. Sie überhäufte ihren neuen Partner trotz ihrer ständigen Geldsorgen mit Geschenken. Ende 1949 wurde sie gekündigt, weil sie im Krankenhaus ständig Patienten anpumpte. Kusian wohnte in der Nähe des Bahnhofs Zoo in der Kantstraße 154a in Berlin-Charlottenburg. Dort gab es einen großen Schwarzmarkt, und man konnte nach der Währungsreform Geld tauschen. Elisabeth machte sich dies zunutze und fand ihr erstes Opfer. Mit ihrer vertrauenswürdigen Krankenschwesteruniform machte die durchaus ansehnliche Frau Eindruck auf den Schausteller Hermann Seidelmann aus Plauen, der im Herbst 1949 zur Beerdigung seiner Mutter nach Berlin gekommen war und am Bahnhof Zoo Geld zu tauschen versuchte. Er folgte Elisabeth ahnungslos in deren Wohnung, die ja ums Eck lag. Dort tauschte er Geld und trank mit ihr fröhlich plaudernd Kaffee. Vielleicht erhoffte er noch mehr von ihr, war aber sicherlich vollkommen arglos, als Elisabeth eine Wäscheleine holte, ihm diese von hinten über den Kopf warf und ihn damit erwürgte. Am nächsten Tag hatte er die Rückfahrt nach Plauen geplant. Im Urteil wurde die Tat so beschrieben: „Er setzte sich auf Stuhl oder Couch, und sie wechselten einen Betrag von etwa 100 DM-Ost gegen den entsprechenden Westbetrag. (..) Seidelmann (...) blätterte in illustrierten Zeitschriften, welche in dem Zimmer lagen. Die Angeklagte hatte inzwischen für beide Kaffee gekocht und dabei Pervitin eingenommen. Das Radio spielte laut. Etwas später holte sie eine kurze Wäscheleine, welche sie gewöhnlich in dem Schubfach ihrer Frisiertoilette aufbewahrte und welche sie bereits vorher mit einer Schlaufe versehen und in die richtige Länge zugeschnitten hatte. Sie trat von hinten an Seidelmann heran, warf ihm die Leine über den Kopf und zog von hinten fest zu. Seidelmann sprang auf, stieß den vor ihm stehenden Tisch von sich, fiel hin und riß im Fallen einen Stuhl und die Angeklagte mit zu Boden. Die Angeklagte hielt hierbei den Strick fest in der Hand, ohne locker zu lassen, der Mann war inzwischen ohnmächtig geworden und sie verknotete nunmehr die Leine fest. Er lag rücklings mit den Füßen zur Tür auf dem Fußboden. Sie setzte sich in einen Sessel und wartete in Ruhe seinen Tod ab.“ Danach durchsuchte sie seine Klamotten und nahm sein Geld an sich. Zu ihrem Motiv sagte Kusian später aus: „Plötzlich fiel mir ein, daß ich sehr viel Schulden habe und es kam so über mich, daß ich das Geld dieses Mannes gebrauchen könnte.“ Das konnte der Unterschied zwischen Mord und Totschlag sein. Ihre Aussagen waren aber mit Vorsicht zu genießen. Im Vorführbericht hieß es: „Aus sichergestellten Effekten (...) auch aus den Zeugenaussagen geht einwandfrei hervor, daß es sich bei der Besch[uldigten] um eine notorische Lügnerin handelt, die in angeberischer Weise gegenüber ihren Mitmenschen über ihre Person und Verhältnisse ein regelrechtes Lügengebäude aufgebaut hatte.“ Im Umgang mit Seidelmanns Leiche stellte sich die Krankenschwester dann gar nicht dumm an. Sie zerstückelte sie dank ihrer chirurgischen Kenntnisse und machte sich die geteilte Stadt, wie so viele andere Verbrecher, zunutze. Sie legte die Leichenteile nachts auf Brachgrundstücken und in Ruinen in beiden Teilen der Stadt ab. Zuerst verteilte sie mit ihrem Rucksack die linke Hand sowie zwei Unter- und einen Oberschenkel. Am 5. Dezember 1949 wurden in einem Ruinengrundstück in der Borsigstraße Leichenteile gefunden. Vier Tage später wurde ein männlicher Torso in Charlottenburg und eine Woche später der Kopf und die restlichen Gliedmaßen in einer Ruine in der Nähe des Stettiner Bahnhofs gefunden. Seidelmann konnte trotzdem umgehend identifiziert werden. Sein Bruder hatte ihn bereits als vermisst gemeldet. Der Täter konnte vorerst nicht ermittelt werden. Doch das Geld, dass Kusian von ihm erbeutet hatte, reichte nicht lange. Sie hatte erhebliche Schulden, die auch ihrer Morphiumsucht geschuldet waren. Weihnachten stand vor der Tür, und ihre neue große Liebe, Kriminalsekretär Kurt Muschan, wünschte sich eine Erika Reiseschreibmaschine. Am zweiten Weihnachtsfeiertag 1949 lud sie die Verkäuferin Doris Merten in ihre Wohnung ein, die die Schreibmaschine vorbeibrachte und die vereinbarte Anzahlung von 50 DM abholen wollte. Kusian trank mit ihr harmlos plaudernd Kaffee dann erwürgte sie ihr Opfer von hinten mit der Wäscheleine. Das Opfer versteckte sie erst einmal unter ihrer Couch, weil ihr Liebhaber zu Besuch kommen wollte. Die Leiche zerstückelte sie erst in den nächsten Tagen und verteilte die Leichenteile am Anfang des neuen Jahres in der Stadt. Spielende Kinder fanden am 4. Januar 1950 gegen Mittag Körperteile in einer Ost-Berliner Hausruine in der Memhard- Ecke Prenzlauer Straße. Laut Ermittlungsakte handelte es sich „um eine 35–45 Jahre alt scheinende Frau von ca 1,60 bis 1,65 m Größe und untersetzter Statur. Kopf und Gliedmaßen waren vom Rumpf getrennt, sie lagen auf und neben demselben.“ Die Personalien des Opfers waren auch diesmal schnell ermittelt und auch die letzte Kundin der Verkäuferin – Elisabeth Kusian, die die Tat anfangs bestritt: Angeblich hatte Merten nur 15 Minuten bei ihr verbracht und dabei ihren Regenschirm vergessen. Komisch nur, dass bei Kusian später auch Kleidungsstücke von Merten aufgefunden wurden. Der Geschäftsinhaber und Mertens Schwester wussten von der Übergabe der Schreibmaschine. So musste Kusian erst im Westsektor aussagen und dann bei der Ost-Berliner Kripo, wo sie sich in Widersprüche verwickelte. Die Mordkommissionen arbeiteten ausnahmsweise zusammen, und man fand Spuren von beiden Opfern in ihrer Wohnung. Nach viertägiger Vernehmung gestand sie am 10. Januar 1950 überraschenderweise auch den Mord an Seidelmann. Zwei Tage später versuchte sie sich das Leben zu nehmen. Sie schnitt sich die Pulsadern auf, wurde aber gerettet. Ein Jahr später, im Februar 1951, wurde sie wieder nach West-Berlin überstellt und vor das Kriminalgericht Moabit gebracht wo sie nach sechs Verhandlungstagen wegen Mordes aus Habgier zu einer lebenslangen Haftstrafe verurteilt wurde. Glück, denn in Ost - Berlin galt noch die Todesstrafe und sie wäre möglicherweise unter der Guillotine gelandet. Sieben Jahre später starb die inzwischen 44-Jahre alte Frau in der Haft an Darmkrebs. Sie überlebte die letzte von vielen Operationen nicht, die sie seit nunmehr viereinhalb Jahren über sich hatte ergehen lassen müssen. Am 16. Juni 1958 verstarb sie um 11 Uhr 35 auf dem Operationstisch des Gefängniskrankenhauses. Ernst Reuß (vom Autor erschien 2022 das Buch „Endzeit und Neubeginn, Berliner Nachkriegsgeschichten“ im Metropol Verlag)
Mala Zimetbaum wird 1918 in der Kleinstadt Brzesko in der Nähe von Krakau geboren. Ihre Eltern sind Juden aus einfachen Verhältnissen. In ihrem Elternhaus wird deutsch gesprochen. Aus wirtschaftlichen Gründen und weil es immer wieder antisemitische Anfeindungen gibt, wechselt die Familie den Wohnort: von Brzesko nach Mainz, dann nach Ludwigshafen, schließlich nach Antwerpen. Mala spricht neben Polnisch und Deutsch auch Jiddisch, Flämisch und Französisch. Ihr Leben endet mit nur 26 Jahren nahe ihres Geburtsortes: in Auschwitz.
Barbara Beuys, eine Historikerin, hat sehr gründlich recherchiert und legt mit viel Einfühlungsvermögen wichtige Informationen über das Judentum, den grassierenden Antisemitismus und die Nazibesatzung in Belgien dar. Die Entrechtung geht schleichend voran, immer mit der Hoffnung verbunden, dass es besser werden wird. Wird es nicht. Letztendlich kommt es auch in Belgien zu Deportationen. Am 15. September 1942 wurde Mala Zimetbaum nach Auschwitz deportiert. Wahrscheinlich genau zwei Jahre später starb sie dort. Sie überlebte nur solange, weil sie aufgrund ihrer Sprachkenntnisse als Dolmetscherin und „Läuferin“ Funktionshäftling war, was mit gewissen Privilegien einherging. Da sie für Botengänge innerhalb des Lagers eingesetzt wurde, konnte sie sich relativ frei zwischen verschiedenen Lagerblöcken bewegen und anderen Insassen helfen. Mala organisiert heimlich zusätzliches Essen, Kleidung oder Medikamente für die gefangenen Frauen und informiert über den Fortgang des Krieges. Auch Todgeweihte sollen auf ihre Intervention hin von der Selektionsliste gestrichen worden sein. Ihre Geschichte lässt sich weitgehend nur aus den Erinnerungen von Mithäftlingen rekonstruieren. Es gibt zahlreiche Auschwitz-Überlebende, die ihr mutiges Handeln im Todeslager dokumentierten. Sie soll eine kluge, energische und politische junge Frau gewesen sein, die von einem freien Staat Israel träumte, wo sie als Sprachlehrerin in einem Kibbuz arbeiten wollte. Im Lager verliebt sich Mala Zimetbaum in einen jungen katholischen Polen, der als politischer Häftling nach Auschwitz deportiert worden war. Im Juni 1944 begibt sich das verliebte junge Paar auf die Flucht. Die Flucht gelingt, aber bereits am 6. Juli 1944 werden die beiden gefasst. Ihr Freund wird hingerichtet. Sie soll vor den Augen ihrer Mithäftlinge gehängt werden, versucht der SS aber zuvorzukommen, schneidet sich mit einer Rasierklinge die Pulsadern auf, schlägt einem SS-Mann vor den versammelten Lagerinsassen mit der blutigen Hand ins Gesicht und wird ermordet. Möglicherweise lebendig im Krematorium verbrannt. Mala Zimetbaum symbolisiert jüdischen Widerstand in Auschwitz. Barbara Beuys erinnert an eine außergewöhnliche, fast vergessene Frau. Nicht lange nach ihrem Tod brach am 7. Oktober 1944 im Vernichtungslager Auschwitz eine Revolte aus. Mehrere Dutzend Häftlinge gingen mit Waffen und Steinen auf die SS-Offiziere los. Andere versuchten, das Krematorium in Brand zu setzen. Nach ein paar Stunden war alles vorbei: Schwer bewaffnete SS-Einheiten schlugen den Aufstand nieder, 451 Häftlinge wurden sofort hingerichtet. Es war der einzig bewaffnete Aufstand in dem Vernichtungslager. Mala soll darüber schon vorher informiert gewesen sein. Sowohl das, als auch Mala Zimetbaum sind weitgehend unbekannt. Das sollte anders werden. Ernst Reuß Barbara Beuys: Die Heldin von Auschwitz. Leben und Widerstand der Mala Zimetbaum. Insel Verlag, Berlin 2023. 333 S., 26,00 Euro
Riga war bis zum Einmarsch deutscher Truppen im Sommer 1941 das Zentrum jüdischen Lebens in Lettland. Anfangs - nach der vorhergehenden sowjetischen Besatzung - wurden dort die deutschen Soldaten als „Befreier“ empfangen. Die Stadt wurde jedoch nun zum Zielort von Deportationen und Schauplatz von unfassbaren Verbrechen. Von 1941 mindestens 500 000 im jetzigen Reichskommissariat „Ostland“ (Lettland, Litauen, Estland und Weißruthenien) ansässigen Juden lebten nach dem Krieg keine 10 000 mehr. SS, Polizei, Wehrmacht und lokale Hilfstruppen ermordeten fast alle lettischen - sowie die aus dem Deutschen Reich und dem Protektorat Böhmen und Mähren nach Riga deportierten - Jüdinnen und Juden.
Tausende Deutsche aus allen Regionen des „Dritten Reiches“ wurden in den Osten deportiert. Sie wurden dort kurz nach ihrer Ankunft in einem Wäldchen namens Biķernieki in der Nähe Rigas oder im nicht weit entfernten Wald von Rumbula erschossen und in Massengräbern verscharrt. Bei den Opfern in Rumbula handelte es sich meist um lettische Juden aus dem Ghetto Riga, welches „freigemacht“ wurde, um für deportierte Juden aus Deutschland Platz zu machen. Ein Zeitzeugenbericht von der damals in Riga lebenden Valentina Freimane aus ihrem Buch „Adieu, Atlantis“: „Damals, Ende November, Wussten wir noch nichts Genaues — bis auf die Tatsache, dass niemand mehr ins Ghetto zurückgekehrt war. Am 8. Dezember fand die zweite ‘Aktion’ statt, bei der diejenigen Ghettobewohner, die den 29. und 30. November überlebt hatten, ebenfalls erschossen wurden. Übrig blieben die Arbeitskräfte im Kleinen Ghetto — die Männer, deren Familien soeben ausgelöscht worden waren. Beide Male wurden die Kolonnen vollkommen offen für jeden sichtbar durch die Straßen der Moskauer Vorstadt nach Süden getrieben. Schon bald verbreitete sich in der Stadt das Gerücht, die Ghettoinsassen seien nicht in ein anderes Lager gebracht worden, sondern man habe sie vor den Toren der Stadt erschossen, wahrscheinlich im Wald von Rumbula. Es kam mir bezeichnend vor, dass die Behörden nicht einmal versuchten, solche Gerüchte zu dementieren. Alle einigten sich quasi stillschweigend darauf, über das Geschehene kein Wort zu verlieren. Mit der Zeit begannen wahrscheinlich viele selber zu glauben, dass sie von nichts wussten. Es war, als hätte es diese Tausende von Menschen nie gegeben. Unterdessen blieb das Ghetto nicht leer, sondern begann sich mit Juden zu füllen, die aus Mitteleuropa hierher ‘evakuiert’ wurden. Auch das wussten alle, die es wissen wollten. Bereits am 30. November traf der erste Zug aus Berlin ein. Da das Ghetto noch nicht vollständig geräumt war, wurden die mehr als tausend Berliner Juden als erste in Rumbula erschossen. Dann trafen nach und nach Transporte mit Juden aus Deutschland und Österreich ein.“ Eine davon war die Berliner Sportlerin und Weltrekordlerin Lilli Henoch. Die 1899 geborene Henoch war Mitglied des Berliner Sport-Clubs und in den zwanziger Jahren eine der bedeutendsten Leichtathletinnen weltweit. Sie wurde zwischen 1922 und 1926 in den Disziplinen Kugelstoßen, Diskuswurf, Weitsprung sowie mit der 4-mal-100-Meter-Staffel des Berliner Sport Clubs zehnfache Deutsche Meisterin und stellte vier Weltrekorde auf. Daneben war sie auch im Hockey und Handball ein Star und leitete später die Damenabteilung des Klubs. Noch 1929 hatte man Lilli Henoch in der Vereinszeitung lauthals gerühmt: „Wenn jemals ein Beispiel an Klubtreue und Uneigennützigkeit gebraucht wird, dann ruft ihren Namen. Und die Luft muss rein um uns werden“. Nur vier Jahre später – kurz nach der Machtergreifung der Nazis - wurde sie aus dem BSC kommentarlos ausgeschlossen. Am 5. September 1942 wurde die einstmals vielgerühmte Sportlerin mit dem 19. „Judentransport“ gemeinsam mit ihrer Mutter in den Osten deportiert. In Riga angekommen wurde Lilli Henoch zusammen mit ihrer Mutter und allen anderen Insassen des Zuges nach Biķernieki geführt und erschossen. Der geschichtsinteressierte Martin-Heinz Ehlert, ein Mitglied des BSC Berlin, entriss sie erst viele Jahrzehnte später dem Vergessen, indem er ihre Geschichte recherchierte und veröffentlichte. Inzwischen sind in Berlin ein Sportplatz und Hallen nach ihr benannt. Aus Deutschland gab es viele Deportationen nach Riga, die ähnlich endeten. Zwischen November 1941 und Januar 1944 fanden auch in Unterfranken sieben Deportationen von Juden statt. Von mehr als 2 000 Menschen, die in Würzburg und Kitzingen in die Züge getrieben wurden, sollten nur 60 den Holocaust überlebt haben. Am 27. November 1941 verließ der erste Transport mit 202 Jüdinnen und Juden aus Würzburg die Stadt. Viele von ihnen wurden am 26. März 1942 in Biķernieki ermordet. Dort existiert inzwischen seit 2001 ein Mahnmal. Stelen aus Granit in unterschiedlicher Größe und Farbe erinnern nun an die vielen Opfer und benennen die Orte, aus denen die Transporte kamen. Auf einem Gedenkstein steht auf Hebräisch, Russisch, Lettisch und Deutsch: „ACH ERDE, BEDECKE MEIN BLUT NICHT, UND MEIN SCHREIEN FINDE KEINE RUHESTATT!“ Bis 10. März 2024 zeigt die Topographie des Terrors in Berlin die Ausstellung: „Der Tod ist ständig unter uns“. Die Ausstellung und das Begleitbuch zeigen die Geschichte der Deportationen, der deutschen Besatzungspolitik und des Holocausts im Baltikum. Es geht aber auch um das Weiterleben der Überlebenden, die juristische Aufarbeitung der Verbrechen und das Erinnern an die Opfer und Täter. Opfer der ersten Deportation waren beispielsweise das Ehepaar Erna und Gustav Kleemann aus Würzburg. Gustav war 1881 als Sohn eines Pferdehändlers geboren worden und dort aufgewachsen. Im Ersten Weltkrieg war er Kriegsteilnehmer und erhielt den Bayerischen Militärverdienstorden mit Schwertern, was ihm jedoch wenig nützen sollte. Nach der Machtübernahme der Nazis wurde er schikaniert, verlor seine Geschäfte und wurde schließlich deportiert. In der Ausstellung gibt es ein Foto von ihm, als Ordner während der Deportation. Seine Frau Erna wurde 1892 geboren und war das einzige Kind einer Kaufmannsfamilie. Sie führte nach dem Tod ihrer Eltern die elterlichen Firma „L. &. M. Rosenthal“ (Agenturen für Wein, Getreide und Landesprodukte) fort. Zusammen mit ihrem Mann Gustav sowie ihrem Schwager und dessen Tochter wurde sie im November 1941 nach Riga deportiert und mit ihrer Verwandtschaft am 26. März 1942 im Rigaer Wald von Biķernieki ermordet. Ein anderes Opfer war Gert Samuel Gutmann. Kurz nach seinem 10. Geburtstag wurde er in Biķernieki erschossen. Seine Mutter Therese soll erschossen worden sein, nachdem sie ihr Kind mit ihrem Körper zu schützen versucht hatte. Ehemann und Vater Ludwig, ein 1902 geborener Landwirt, überlebte. Tragischerweise soll er jedoch nach dem Zusammenbruch der Ostfront von der Roten Armee als „deutscher Spion“ behandelt und interniert worden sein. Er konnte erst 1956 mit anderen deutschen Kriegsgefangenen zurückkehren. Er war der letzte in seinem Heimatdorf geborene jüdische Einwohner und starb dort 1984 in seinem 82. Lebensjahr. Als Reichskommissar „Ostland“ war der 1896 geborene Hinrich Lohse für das was dort geschah an führender Stelle verantwortlich. Er war ein überzeugter Nazi und bereits seit 1925 Gauleiter von Schleswig-Holstein. Zwischen 1941 und 1944 pendelte er zwischen Riga und Kiel, um beide Ämter ausüben zu können. Zwar verbot Lohse per Erlass „die aktive Teilnahme von Amtsträgern der Ostverwaltung bei Exekutionen jeder Art“. Dies geschah jedoch nicht aus moralischen Gründen, sondern der bekennende Antisemit war der Ansicht: „Selbstverständlich ist die Reinigung des Ostlandes von Juden eine vordringliche Aufgabe; ihre Lösung muß aber mit den Notwendigkeiten der Kriegswirtschaft in Einklang gebracht werden“. Auf „gut Deutsch“: „Vernichtung durch Arbeit“. Mit diesem Ansinnen stieß er jedoch auf taube Ohren. Lohse selbst nahm an einer Massenerschießung teil, um sich ein „Bild zu machen“. Er überlebte den Krieg, im Gegensatz zu den Opfern der Massenerschießungen. Ein Militärgericht verurteilte ihn 1948 zu zehn Jahren Gefängnis, aber man entließ ihn schon bald wegen „dauernder Haftunfähigkeit. Im Entnazifizierungsverfahren wurde Lohse dann erstaunlicherweise als Minderbelastet eingestuft, ein staatsanwaltschaftliches Ermittlungsverfahren gegen ihn wurde eingestellt und Lohse erstritt sich in einer Klage gegen die Landesregierung von Schleswig-Holstein 25 Prozent seiner Pensionsansprüche. Zudem erhielt er vom Verlag der Kieler Nachrichten das Gehalt eines Redakteurs und „forschte“ ausgerechnet zur „NS-Geschichte“. Er brachte allerdings nichts zu Papier, was vielleicht besser so war. Lohse starb unbescholten und weitgehend unbemerkt im Jahre 1964. Einer der einheimischen Täter war der berüchtigte lettischer Kollaborateur Viktors Arājs, der am Holocaust während der deutschen Besetzung Lettlands und Weißrusslands mit seinem „Sonderkommando“ beteiligt war und für die Ermordung von etwa der Hälfte der lettischen Juden verantwortlich gewesen sein soll. Nach dem Krieg lebte er unter falschem Namen in Deutschland. Er wurde 1979 vom Landgericht Hamburg für schuldig befunden. Arājs war maßgeblich daran beteiligt, die im Großen Rigaer Ghetto lebenden Juden am 8. Dezember 1941 im Wald von Rumbula durch Massenerschießungzu ermorden. Arājs bekam lebenslänglich und starb 1988 mit 78 Jahren im Gefängnis. Er wurde viel älter, als die meisten seiner Opfer. Das grundlegende und ausgesprochen empfehlenswertes Werk „Die ‚Endlösung‘ in Riga“ wurde bereits 2006 von Andrej Angrick und Peter Klein verfasst. Die Autoren widmen sich akribisch der Gesamtgeschichte des Rigaer Ghettos und des verzweifelten Überlebenskampfs seiner Insassen, sowie auf Grundlage sämtlicher erreichbarer Quellen die Vernichtungspolitik der Nazis in Riga. Zum Schluss folgt man den Spuren einzelner Täter und Opfer in der Nachkriegszeit und betrachtet die strafrechtliche Aufarbeitung der Massenmorde. Ein äußerst berührendes Buch ist auch „Adieu, Atlantis“ von Valentina Freimane, erschienen 2015 im Wallstein Verlag. Während ihre gesamte Familie dem Holocaust in Riga zum Opfer fiel, überlebte Valentīna Freimane in verschiedenen Verstecken. Drei Zitate aus dem Buch: „Und dann kam der Tag, an dem meine Eltern ins Ghetto gehen mussten. Natürlich stand auch ich auf der Liste, und der redliche Hausmeister Obolevics trug denn auch ins Hausbuch ein: ‚Alle drei ins Ghetto gegangen.‘ Ich erinnere mich an das letzte Gespräch mit meiner Mutter. Wir saßen in der Küche, und ich weinte hemmungslos. Mama konnte solche Gefühlsausbrüche nicht leiden, und ich hatte längst gelernt, mich zu beherrschen. Doch in diesem Augenblick vermochte ich es nicht. Mir kommt es bis heute so vor, als sei meine Mutter noch nie so schön gewesen wie an jenem Tag, als ich sie zum letzten Mal sah. Völlig ruhig saß sie auf dem Küchenstuhl wie eine Königin auf dem Thron. Sie war zweiundvierzig Jahre alt, wirkte jedoch viel jünger. Uneingeweihte hielten sie oft für meine ältere Schwester. Vater war älter als sie, Ende vierzig, ein Mann in den besten Jahren.“ (Valentina Freimane, Adieu Atlantis, S. 237) „Ich glaube, dass alle meine Toten - die Menschen, die ich liebte und die mich geliebt haben -, wo immer sie jetzt auch sein mögen, sich freuen, dass ich noch lebte. Ich weiß nicht, ob es ein Leben nach dem Tod gibt. Wenn ja, dann bin ich überzeugt: sie schauen von dort mit Wohlwollen auf mich. Ich empfinde keine Schuld, sondern Verantwortung ihnen gegenüber. Ich bemühe mich, mein Leben anständig zu leben, weil ich es auch an ihrer statt lebe. Schuldig würde ich mich nur dann fühlen, wenn ich mein Leben vergeudet hätte.“ (Valentina Freimane, Adieu Atlantis, S. 288 f.) „Schon von klein auf hatte ich französische Romane und verschiedene psychologische Abhandlungen gelesen und fühlte mich bestens für alles gewappnet, was mit Liebe und zwischengeschlechtlichen Beziehungen zu tun hatte. Sobald mir die nie gekannte, berauschende Macht über die jungen Männer in meiner Nähe verliehen war, machte ich sogleich Gebrauch von ihr, um bestimmte Aspekte des theoretischen Wissens in der Praxis auszuprobieren. Dies geschah mit der Gründlichkeit einer Forscherin, ganz so als würde ich eine spannende Untersuchung im Labor betreiben. Ich war wirklich überrascht, wie leicht die Manipulationen mit den Versuchskaninchen gelangen und wie vorhersehbar sie reagierten, wenn ich die aus Romanen und Theaterstücken abgeschauten weiblichen Taktiken anwandte. Es war eine Zeit, in der ich das männliche Geschlecht zu verachten begann (später wurde ich verständnisvoller).“ (Valentina Freimane, Adieu Atlantis, S. 138) Ernst Reuß Literatur: Deutsch-lettischer Begleitkatalog zur Ausstellung, „Der Tod ist ständig unter uns / Nave mit musu vidu“, Die Deportationen nach Riga und der Holocaust im deutsch besetzten Lettland / Deportacijas uz Rigu un holokausts vacu okupetaja Latvija, Herausgeber Oliver von Wrochem im Auftrag der Stiftung Hamburger Gedenkstätten und Lernorte, Metropol Verlag, Hamburg 2022, 216 Seiten, 15 €. Andrej Angrick, Peter Klein, Die „Endlösung“ in Riga, Ausbeutung und Vernichtung 1941-1944, Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt 2006, 520 Seiten, 89,90 €. Valentina Freimane, Adieu, Atlantis, Erinnerungen, Aus dem Lettischen von Matthias Knoll, Göttingen 2015, 341 Seiten, 22,90 €. |
AutorErnst Reuß, geboren 1962 in Franken. Studium der Rechtswissenschaften in Erlangen und Wien. Promotion an der Humboldt - Universität zu Berlin. Danach als wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Freien Universität Berlin und im Bundestag beschäftigt. Archiv
Juni 2024
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