Die als Sabina Haberman geborene Sabina van der Linden-Wolanski war eine äußerst faszinierende Frau, deren Lebenserinnerungen bereits 2010 erschienen sind. Sabina überlebte als einzige ihrer Familie den Holocaust. Als sie 1950 nach Australien auswanderte, besaß sie nur noch ein Tagebuch und einige Fotografien aus ihrer Jugend. Jahrzehnte später wurden diese Dokumente Teil der Ausstellung im Holocaust Mahnmal in Berlin. Das Buch „Drang nach Leben“ ist ein ergreifendes Zeugnis vom menschlichen Überlebenswillen und von praller Lebenslust. Unbedingt lesenswert! Sie selbst schreibt: „Meine Mutter, mein Vater und mein Bruder wurden von Hitlers Bestien ermordet. Ich, Sabina, Tochter von Sala und Fischel Haberman, jüngere Schwester von Josek, überlebte. Mehr als das: Ich habe gelebt, gut gelebt. Und obwohl ich niemals Paris im Sturm eroberte, habe ich Berlin erobert. Ich eroberte es nicht als Pianistin oder Schriftstellerin, wie Mama und ich es erträumt hatten, sondern als Holocaustüberlende. Es war nicht das, was ich erwartet habe. Als der Krieg vorüber wollte ich nur noch vergessen, dass ich jemals das jüdische Schicksal geteilt hatte. Wem ging es nicht so? Ich war am Judentum als Religion nie sonderlich interessiert, und selbst jetzt kann ich nicht mit Sicherheit sagen, was es bedeutet, Jüdin zu sein. Aber ich wurde als Kind jüdischer Eltern im Jahr 1927 in Polen geboren, darum war es mein Schicksal, als Heranwachsende mit den grausamsten Auswüchsen des Bösen in der Menschheitsgeschichte konfrontiert zu werden, und jetzt, da ich alt werde, verspüre ich das dringende Bedürfnis, daran zu erinnern, welche Rolle meine Familie und ich in jenem Kapitel der Geschichte spielten. Erinnerung ist schmerzvoll, jedoch nicht so schmerzvoll wie das Vergessen und das Vergessenwerden.“ (Drang nach Leben, Seite 13) Sabina van der Linden-Wolanski: Drang nach Leben. Erinnerungen, hrsg. von der Stiftung Denkmal für die ermordeten Juden Europas, Berlin 2010, 7,50 €. Ein Hörbuch, mit Dagmar Manzel als Erzählerin, ist nun im Audio Verlag erschienen. Ernst Reuß
Für ihr Buch „Zum Töten bereit“ erhielt Lamya Kaddor gerade erst den Preis „Das politische Buch“ der Friedrich-Ebert-Stiftung. Über fünfhundertfünfzig deutsche Dschihadisten, der jüngste von ihnen dreizehn Jahre alt, waren bei Drucklegung des Buches bereits in Richtung Kriegsgebiet ausgereist. Die als Kind syrischer Eltern in Deutschland geborene Islamwissenschaftlerin beklagt dies und beschreibt Lösungsansätze, um dies zukünftig zu verhindern. Kaddor arbeitete in Dinslaken als Religionslehrerin und schreibt in ihrem Buch:
„Ich musste erleben, dass unter ihnen auch fünf meiner ehemaligen Schüler waren. Diese jungen Menschen hatten sich der sogenannten »Lohberger Brigade« angeschlossen. Als ich davon erfuhr, empfand ich es als eine persönliche Niederlage. Denn sie kämpften nicht nur im Land meiner Eltern, in dem zurzeit einer der schlimmsten Bürgerkriege dieser Welt wütet. Es sind auch fünf mir eigentlich gut bekannte und sympathische Menschen, die ich in gewissem Sinne verloren habe. Mir ist bewusst, dass ich sie wahrscheinlich nicht hätte aufhalten können, und dennoch stelle ich mir die Frage, ob ich es voraussehen oder irgendetwas hätte anders machen können. So begann für mich mit dieser Erfahrung eine Reise, die mich dazu führte, noch besser zu erkennen, wer diese Jugendlichen sind, wo sie herkommen und was sie dazu angetrieben hat, an der Seite brutaler Terroristen in den Kampf zu ziehen.“ Die Autorin appelliert dabei auch an ihre Glaubensgenossen mehr zu tun, um diese Fanatiker zu stoppen. Zugleich beklagt sie aber auch die zunehmende Islamfeindlichkeit und stellt fest: „Wenn wir den Frieden in der Gesellschaft bewahren wollen, dann müssen wir uns salafistischen und islamfeindlichen Tendenzen gleichsam und gemeinsam entgegenstellen. Salafismus und Islamhass sind zwei Seiten einer Medaille.“ Eine interessante Analyse. Ernst Reuß Lamya Kaddor, Zum Töten bereit, Warum deutsche Jugendliche in den Dschihad ziehen, Frankfurt 2015, 256 Seiten, 14,99 € |
AutorErnst Reuß, geboren 1962 in Franken. Studium der Rechtswissenschaften in Erlangen und Wien. Promotion an der Humboldt - Universität zu Berlin. Danach als wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Freien Universität Berlin und im Bundestag beschäftigt. Archiv
März 2024
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