– denn König Fußball regiert die Welt", sang 1974 die bundesdeutsche Fußballnationalmannschaft. Es wurde ein Hit.
Bald findet in Deutschland die Fußballeuropameisterschaft statt und viele Menschen überall in Europa werden genau das empfinden. Als der Fußball nach Deutschland kam, regierte der Fußball noch nicht die Welt und wurde in Deutschland als „Fußlümmelei“ abgewertet und abgelehnt. Turnen und der eher militärische Drill waren damals angesagt. Fußball galt als durch und durch „undeutsch“. Man rümpfte die Nase über den proletenhaften Sport aus England. Da in einigen dieser deutschen Turnvereine bereits um die Jahrhundertwende Juden nicht erwünscht waren, waren aber gerade Fußballvereine für jüdische Mitbürger besonders attraktiv. Bayern, der Club oder die Eintracht aus Frankfurt wurden von Juden mitgegründet. Auch an der Entstehung des DFB waren Juden entscheidend beteiligt. Am bedeutsamsten diesbezüglich wurde Walther Bensemann, der ebenfalls jüdischen Glaubens war. Der reisefreudige Mann war an der Gründung zahlreicher Fußballvereine in Süddeutschland beteiligt. Er organisierte die ersten internationalen Begegnungen und hatte sich den Namen Deutscher Fußball-Bund ausgedacht. 1920 gründete er außerdem den „Kicker“. Auch heute noch die „Bibel“ für den deutschen Fußballfan. Nur wenige Wochen nach Hitlers Machtantritt wurden Juden aus den bürgerlichen Vereinen ausgeschlossen. Sie wurden zu Sündenböcken eines gnadenlosen Regimes, dem ein großer Teil der aufgehetzten Bevölkerung willig folgte. Bensemann wurde fortgejagt. Er starb 1934, kurz nach der geglückten Emigration in die Schweiz. Auch dem jüdischen Nationalspieler Gottfried Fuchs, der den bis heute unerreichten Rekord von zehn Toren in einem Spiel der Nationalmannschaft aufgestellt hatte, gelang die Auswanderung nach Kanada. Anders erging es jedoch dem jüdischen Nationalstürmer Julius Hirsch, der 1943 im KZ Auschwitz ermordet wurde. Aus den berühmten Nationalmannschafts-Sammelalben des Kicker Sportmagazins wurden die Porträts der beiden Nationalspieler fortan verbannt. Hirsch galt als einer der besten Stürmer seiner Zeit. Als erstem Fußballer gelang es ihm, mit zwei Vereinen Deutscher Meister zu werden: 1910 mit dem Karlsruher FV und 1914 mit der SpVgg Fürth. In seinem zweiten Länderspiel gegen die Auswahl der Niederlande schoss er als erster deutscher Nationalspieler vier Tore in einem Spiel. Hirschs Schicksal wurde auch in der Nachkriegszeit noch lange verschwiegen. Erst nach vielen Jahrzehnten begannen unabhängige Sporthistoriker damit, sich seiner Person ausführlicher zu erinnern. Seit 2005 vergibt der Deutsche Fußball-Bund (DFB) den „Julius-Hirsch-Preis“. Dieser wird besonders für Aktivitäten verliehen, die sich gegen Ausgrenzung und Diskriminierung gesellschaftlicher Gruppen wenden. Bereits zwei Monate nach der Machtübernahme der Nazis hatten einige - teilweise von Juden mit gegründete - Vereine in einer gemeinsamen Erklärung unterstrichen, „insbesondere in der Frage der Entfernung der Juden aus den Sportvereinen“ mit den neuen Machthabern „freudig und entschieden“ zusammenarbeiten zu wollen. Mit dabei waren Kaiserslautern, die Eintracht aus Frankfurt, der „Club“ und Fürth, die Bayern und die „60er“. Dies alles geschah im vorauseilenden Gehorsam, ohne dass die nationalsozialistische Regierung darauf gedrängt hatte. Julius Hirsch kam seinem Rausschmiss kurz nach der Erklärung durch Austritt zuvor und schrieb an seinen Verein: „Ich lese heute im Sportbericht Stuttgart, dass die großen Vereine, darunter auch der KFV, einen Entschluss gefasst haben, dass die Juden aus den Sportvereinen zu entfernen seien. Leider muss ich nun bewegten Herzens meinem lieben KFV, dem ich seit 1902 angehöre, meinen Austritt anzeigen. Nicht unerwähnt möchte ich aber lassen, dass es in dem heute so gehassten Prügelkinde der deutschen Nation auch anständige Menschen und vielleicht noch viel mehr national denkende und auch durch die Tat bewiesene und durch das Herzblut vergossene deutsche Juden gibt.“ Nach den vielen Demütigungen unternahm Hirsch 1938 einen Selbstmordversuch. Später ließ sich seine Frau von ihm scheiden, um zumindest die gemeinsamen Kinder zu retten. Was für eine verzweifelte und traurige Entscheidung! Für Hirsch bedeute dies das Ende der von den Nazis privilegierten „Mischehe“. Im Februar 1943 wurde dem 50-jährigen Julius Hirsch mitgeteilt, dass er sich zu einem Transport zum „Arbeitseinsatz“ am Hauptbahnhof einzufinden habe. Von dort wurde er gemeinsam mit elf weiteren badischen Juden nach Auschwitz deportiert, wo er wahrscheinlich umgehend vergast wurde. In den dortigen Eingangsbüchern wurde er nicht mehr erwähnt. Sein letztes Lebenszeichen war eine Postkarte von unterwegs, die erst am 3. März in Dortmund abgestempelt wurde: „Meine Lieben. Bin gut gelandet, es geht gut. Komme nach Oberschlesien, noch in Deutschland. Herzliche Grüße und Küsse euer Juller“ Seine beiden 22 und 17 Jahre alten Kinder wurden dennoch später in das KZ Theresienstadt deportiert. Beide wurden jedoch am 7. Mai 1945 durch die Rote Armee befreit. Seine Frau nahm nach dem Krieg den Namen Hirsch wieder an, sprach aber bis zu ihrem Tod nicht über das tragische Schicksal. Seine Tochter erinnert sich nach dem Krieg: „Am 1. März 1943 habe ich meinen Vater Julius Hirsch zum Hauptbahnhof in Karlsruhe gebracht und von dort wurde er abtransportiert, in einem normalen Zugabteil. Es war eines der schrecklichsten Erlebnisse meines Lebens. Es war ein strahlend schöner Tag. Noch heute kann ich nicht begreifen, dass an diesem Tag die Sonne scheinen konnte! Wir haben nicht geglaubt, dass wir ihn nie mehr wiedersehen werden. (...) Er hing an Deutschland, er war für Deutschland - wie auch seine Brüder im Ersten Weltkrieg. Nie dachte er, dass man ihn so behandeln würde.“ Hirsch wurde 1950 vom Amtsgericht Karlsruhe für tot erklärt. Gleichzeitig wurde eine „Entschädigung“ in Höhe von 3 450 DM ausgezahlt. Die meisten Täter, wie der für die Deportation verantwortliche Gestapochef, machten im Nachkriegsdeutschland Karriere. 1972 wollte der ehemalige Bundestrainer Sepp Herberger den letzten Überlebenden Gottfried Fuchs als Gast des DFB zu einem Länderspiel anlässlich der Eröffnung des Olympiastadions in München einladen. Das Präsidium des DFB, in dem einige ehemalige Nazis saßen, lehnte dies ab, um keinen „Präzedenzfall“ zu schaffen. 1972 war die Zeit der Träumer. Man glaubte an ein besseres Deutschland. 1972 war auch das Jahr mit dem vermeintlich schönsten Fußball der bundesdeutschen Nationalmannschaft. Für denjenigen, der sich an die Zeit noch erinnern kann, bleibt der damalige Fußball mit Netzer, Breitner und Co. – obwohl der WM Titel erst 1974 geholt wurde - das fußballerische Maß aller Dinge Exemplarisch dabei die Lebensgeschichte von zwei jung gestorbenen Träumern. Stan Libuda und Rio Reiser: „An Gott kommt keiner vorbei. Nur Libuda“, stand auf einigen Gelsenkirchener Mauern - während Reiser sang: „Reißen wir die Mauern ein, die uns trennen. Kommt zusammen, Leute, lernt euch kennen“. „Der Traum ist aus“ hatte letzterer damals in anderem Zusammenhang ebenfalls getextet. Der Traum vom romantischen Fußball scheint inzwischen jedenfalls tatsächlich ausgeträumt. Als Paul Breitner, der mit der „Peking-Rundschau“ unterm Mao-Poster posiert hatte, in der WG von Rio Reisers Band Ton Steine Scherben in Berlin-Kreuzberg auftauchte, weil die ihm ihr Album „Keine Macht für Niemand“ geschickt hatten, schlief Rio, der sich nicht für Fußball interessierte, tief und fest. Das Spiel im Wembley Stadion von 1972, zwei Tage nach dem Misstrauensvotum gegen Willy Brandt und die darauffolgende Europameisterschaft bleiben unvergessen. Das Gute und Schöne schien zu siegen. Doch auch damals war nicht alles schön und gut. Es war auch die Zeit der angehenden Kommerzialisierung und des Fußballbundesliga-Bestechungsskandals, bei dem Bundesligapartien „verkauft“ worden waren. Horst-Gregorio Canellas, der Präsident des deswegen abgestiegenen Vereins Offenbacher Kickers, hatte den Skandal mittels mitgeschnittener Telefongespräche aufgedeckt. Es war auch die Zeit der vielen „Hater“, die sich hauptsächlich über die Frisuren der Nationalspieler ausließen. Damals noch mit der Deutschen Bundespost, Internet gab es noch nicht. Bundestrainer Schön sammelte die Briefe. Man wünschte sich den akkuraten Haarschnitt der Weltmeister von 1954 zurück. Ähnliches geistert ja auch heute durch das Internet, wenn man sich die Hautfarbe der Spieler von 1974 zurückwünscht. Von „Fake News“ sprach man damals noch nicht, aber den Umgang mit dem „Volksverräter“ Brandt würde man heute wohl durchaus als „Hate Speech“ bezeichnen. Schon damals tat sich die Bildzeitung diesbezüglich besonders hervor. Zwei der Hauptopfer wurden später zu Nobelpreisträgern gekürt. Neben Willy Brandt, dem, nach seinem Kniefall vor dem Warschauer-Ghetto-Mahnmal, vorgeworfen wurde ein „Vaterlandsverräter“ zu sein, wurde auch Heinrich Böll, der, nachdem er sich über die kampagnenartige RAF Berichterstattung der Bildzeitung echauffierte, als „Helfershelfer“ von Terroristen bezeichnet, vom Nobelkomitee ausgewählt. Bundestrainer Helmut Schön, ein eher konservativer Mann, pflegte einen ganz anderen Führungsstil als seine Vorgänger und gab den mündigen Spielern - so wie er selbst einer war - Mitspracherechte. Schön war bekannt für seine kultivierte Art und seine leisen Töne. Er galt als Schöngeist und Fußballästhet. Auch deswegen spielte die Nationalmannschaft unter Schöns Führung meist einen offensiven und erfolgreichen Fußball, der noch heute Fußballromantiker vor Wonne seufzen lässt. Schöns Karriere begann zwar während der Nazizeit. Ein Nazi war er trotzdem nie, ein Widerständler aber auch nicht. In der frisch gegründeten DDR wurde er kurz Nationaltrainer, bevor er in Ungnade fiel und in den Westen floh. Eine Gesellschaft war jedenfalls in Bewegung geraten und es ist eigentlich kaum zu glauben, dass 1977 Horst-Gregorio Canellas in der in Mogadischu befreiten „Landshut“-Maschine saß. Eben dieser Canellas hatte im Juni 1971 den Bundesliga-Bestechungsskandal ausgelöst; undEr sagte nach der Geiselbefreiung: „Mogadischu hatte noch menschliche Züge. Der Skandal war schlimmer, viel schlimmer.“ 1974, bei der Fußballweltmeisterschaft in Deutschland, dann das Deutsch-Deutsche Duell. Der kurz zuvor zurückgetretene Willy Brandt, dessen Leben nicht nur aus Fußball bestand, interessierte sich weniger dafür, sein Sohn Matthias, inzwischen ein bekannter Schauspieler, dagegen sehr. Er durfte für seinen Vater im Aktuellen Sportstudio auf die Torwand schießen. Fußball ist immer auch Zeitgeschichte. Ernst Reuß, ehemals sehr fußballaffin, lebt als Autor und Publizist in Berlin. Zuletzt veröffentlichte er „Endzeit und Neubeginn. Berliner Nachkriegsgeschichten“ im Metropol Verlag. Literatur: Werner Skrentny: Julius Hirsch. Biografie eines jüdischen Fußballers, 352 S. Henry Wahlig/Lorenz Peiffer: Jüdische Fußballvereine im nationalsozialistischen Deutschland. Eine Spurensuche. 576 S. Bernd-M. Beyer: Helmut Schön. 544 S. und Die Saison der Träumer, Schieber, Spieler und Rebellen. 352 S. Ronald Reng, 1974 – Eine deutsche Begegnung, Als die Geschichte Ost und West zusammenbrachte; 432 S. |
AutorErnst Reuß, geboren 1962 in Franken. Studium der Rechtswissenschaften in Erlangen und Wien. Promotion an der Humboldt - Universität zu Berlin. Danach als wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Freien Universität Berlin und im Bundestag beschäftigt. Archiv
Juli 2024
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