Heinrich Himmler ordnete im April 1940 den Bau eines Konzentrationslagers in Oswiecim, auf Deutsch Auschwitz, an. Die SS errichtete das Stammlager in den Gebäuden einer ehemaligen polnischen Kaserne. Schon im Mai 1940 trafen die ersten KZ-Häftlinge im Lager ein. Die Lage war verkehrstechnisch günstig gewählt worden. Der Bahnanschluss vereinfachte die rasche Deportation von Juden aus vielen Gebieten Europas in das nicht weit von Krakau und Kattowitz entfernte Auschwitz. In der dünn besiedelten Umgebung konnten weitgehend unter Ausschluss der Öffentlichkeit schlimmste Verbrechen begangen werden. Die dorthin Deportierten wurden für drei bis sechs Reichsmark pro Zehnstundentag an deutsche Unternehmen als Arbeitssklaven vermietet. Nicht nur die I.G. Farben, sondern auch andere deutsche Firmen, die Wehrmacht und das Rüstungsministerium Albert Speers profitierten davon. Anfangs als Arbeits- und Gefangenenlager gedacht, wurde es spätestens nach der Wannseekonferenz zu einem Vernichtungslager, das zum Synonym für die Judenvernichtung durch die Deutschen und ihre Helfer geworden ist.
Bald nach Errichtung des Stammlagers reichten die Kapazitäten nicht mehr aus. Bereits im März 1941 ordnete Himmler eine Vergrößerung des Lagers nahe dem benachbarten Dorf Brzezinka, auf Deutsch Birkenau, an. Die Kapazität des Lagers war auf 200 000 Menschen ausgelegt. Dort sollte die industrielle Vernichtung von Juden erfolgen. Zudem wurde auf Initiative und Kosten der I.G. Farben AG das Lager Auschwitz–Monowitz errichtet, wo Zwangsarbeit verrichtet werden musste. Es war das größte von insgesamt etwa 50 Außenlagern. In Auschwitz und Birkenau wurde selektiert. Alte, Kranke, Schwache und Kinder wurden in der Regel sofort nach ihrer Ankunft vergast, arbeitsfähige Männer und Frauen erst einmal unter menschenunwürdigsten Bedingungen versklavt. Registriert und mit Nummern versehen wurden nur diejenigen, die bei der Selektion nicht zur sofortigen Vernichtung bestimmt wurden. Hatte man die Selektion überlebt, konnte schon der nächste Tag der letzte sein. In Auschwitz wurden 1,1 bis 1,5 Millionen. Menschen von der SS ermordet. Darunter waren mindestens 1 Millionen Juden, bis zu 75 000 Polen, 21 000 Sinti und Roma, circa 15 000 sowjetische Kriegsgefangene und an die 15 000 Menschen, die keiner dieser Kategorien zugeordnet werden können. Am 27. Januar 1945 befreite die Rote Armee die Lager. Der Jahrestag der Befreiung des KZ Auschwitz ist seit 1996 in Deutschland, seit 2005 international der Tag des Gedenkens an die Opfer des Nationalsozialismus. Jüngst sind daher zwei Augenzeugenberichte erschienen, von Überlebenden, die damals noch Kinder waren. Eine davon war Rachel Hanan. Sie schreibt: „Ich war ein Teenager, noch ein halbes Kind, als ich an meinem 15. Geburtstag in Auschwitz ankam. Ziemlich genau ein Jahr später, eine Woche vor meinem 16. Geburtstag, wurde ich im Konzentrationslager Theresienstadt aus der Gefangenschaft der Nationalsozialisten befreit.“ Rachel Hanan überlebte als Teenager vier Konzentrationslager, bevor sie am 9. Mai 1945 von der Roten Armee in Theresienstadt befreit wurde. Vorher war sie in Auschwitz, wo sie den überaus freundlichen Dr. Mengele kennenlernte, der im Gegensatz zu den brüllenden Soldaten, mit denen sie tagtäglich konfrontiert wurde, immer mit freundlicher Miene und ohne weitere Regung über Tod oder Leben entschied. Danach war sie in Bergen Belsen und in Duderstadt, einem Außenlager von Buchenwald. Rachel stammte aus Unterwischau, einer Gemeinde im Norden Rumäniens. Ungarn hatte 1940 mit Hilfe Hitlers einen Teil von Siebenbürgen okkupiert, die Juden entrechtet und später deportiert. 1947 wanderte Rachel nach Israel aus und arbeitete dort als Sozialarbeiterin. Die andere - Tova Friedman - ist gerade einmal fünf Jahre alt, als sie mit ihrer Mutter nach der vorherigen Ghettoisierung und dem Aufenthalt in einem Arbeitslager in das Vernichtungslager Auschwitz Birkenau deportiert wird. Sie schreibt: „Ich habe überlebt. Damit einher geht die Verpflichtung gegenüber den anderthalb Millionen jüdischen Kindern, die von den Nazis ermordet wurden. Sie können nicht mehr sprechen. Also spreche ich für sie.“ Tova Friedman gehörte zu Beginn des Zweiten Weltkriegs zu den 50 000 jüdischen Kindern der polnischen Stadt Tomaszow Mazowiecki. Nur fünf davon überlebten die Nazizeit. Sie hatten unsagbares Leid zu überstehen. Tova kehrte mit ihre Mutter an ihren Wohnort zurück, wo sie den polnischen Antisemitismus erlebte. Eine Tante wurde von antisemitischen Banden getötet. Über die Station Berlin, Landsberg am Lech und Israel ging Tova Friedman in die USA und arbeitete dort als Psychotherapeutin. Sie schreibt in ihrem Vorwort: „Wenn Sie jetzt weiterlesen, möchte ich, dass Sie schmecken, fühlen und riechen, wie es war, als Kind während des Holocaust zu leben. (...) Ich hoffe, Sie werden wütend. Denn wenn Sie wütend sind, besteht die Möglichkeit, dass Sie Ihre Empörung mit anderen teilen, und das erhöht wiederum die Chancen, einen weiteren Völkermord zu verhindern.“ Ihre Erzählungen wurden aufgeschrieben von einem freien BBC Journalisten, der das alltägliche Grauen plastisch beschreibt, so dass man mit etwas Empathie nur schaudern und wütend werden kann. Schrecklich was den Menschen angetan wurde und trotzdem muss man es immer wieder lesen, um das ganze Ausmaß des Schreckens verstehen zu können. Antisemitismus ist wieder auf dem Vormarsch und das obwohl der Holocaust erst ein paar Jahrzehnte zurückliegt. Die Erinnerung daran muss wach bleiben. Nie wieder! Ernst Reuß Rachel Hanan, Thilo Komma-Pöllath, Ich habe Wut und Hass besiegt«, Was mich Auschwitz über den Wert der Liebe gelehrt hat, München 2023, 288 Seiten, 20,00 € Tova Friedmann und Malcom Brabant, Ich war das Mädchen aus Auschwitz, 352 Seiten, übersetzt von Ulrike Strerath-Bolz, München 2023, 18,00 € Susanne Willems, „Auschwitz". Die Geschichte des Vernichtungslagers. Edition Ost, Berlin 2015, 256 Seiten, 29,99 Euro
Nach dem Kriegsende herrschte in Deutschland ein massiver Frauenüberschuss. Besonders bei der jungen Generation war der Mangel dramatisch. Auf 160 Frauen kamen nur 100 Männer, denn von den männlichen Geburtsjahrgängen von 1910 bis 1927, die komplett zur Wehrmacht eingezogen worden sind, war ein Drittel gestorben. Männer waren Mangelware und dementsprechend begehrt, mitunter aber durch den Krieg auch sehr verroht. Das hatte Folgen für viele Frauen wie zum Beispiel für die 31-jährigen Hildegard Werner und ihre Kinder.
Zwar kam ihr Mann aus dem Krieg zurück – aber nicht zu seiner Ehefrau und den Kindern am Prenzlauer Berg, sondern zu seiner Freundin in Lüneburg, wie sie zufällig erfuhr. Sie reichte kurzentschlossen die Scheidung ein und suchte einen neuen Partner. So kam sie in Kontakt mit einer Heiratsvermittlung. Solche Institute schossen wie Pilze aus dem Boden. Eines davon befand sich in ihrem Nachbarhaus. Dort hing ein vielversprechendes Gesuch, das in etwa folgendermaßen lautete: „Fleischermeister, 35 Jahre, sucht eine nette Frau zwecks baldiger Ehe.“ Schreckliche Bilder Sein Name war Hermann Jung, er war 1911 in Rampitz an der Oder geboren und bei dem Altersunterschied offensichtlich im passenden Alter. Hildegard Werner wusste allerdings nicht, dass Herr Jung verheiratet war und zwei Kinder im Alter von 5 und 7 Jahren hatte. Er war seit 1938 verheiratet und hatte seine Frau ebenfalls über eine Heiratsannonce kennengelernt. Heiratsschwindler gab es genug in jener Zeit, aber Hermann Jung war nicht nur das, er war auch ein Mörder. Seine Tat war unfassbar brutal. Laut Einsatzbericht der Polizei vom 5. Juli 1946 waren es schreckliche Bilder, die die Beamten dort zu sehen bekamen. Jung, der als Schlachter im Betrieb seines Schwagers in Königs Wusterhausen arbeitete, erschlug Hildegard und ihre Kinder mit seinem Schlachtbeil, das er in seiner Aktentasche trug. Hildegard bekam sechs heftige Schläge auf den Kopf und zwei in den Nacken. Die 1936 geborene Heidrun wurde mit vier Schlägen getötet, der fünf Jahre jüngere Klaus bekam einen Hieb in den Nacken. Man kam Hermann Jung recht schnell auf die Spur, da sich andere Frauen meldeten, bei denen er nach einer Heiratsanzeige vorstellig geworden ist. Er hatte sich jeweils sehr interessiert für deren finanzielle Verhältnisse gezeigt und wollte wissen, ob sie alleine lebten. Zwar hatte er immer falsche Namen benutzt, war aber schnell identifiziert. Es war der 29. Juni 1946, als Hermann Jung zu Besuch kam. Abends legte Hildegard ihre Kinder ins Bett, und die Erwachsenen gingen in die nächste Kneipe. Hildegard war arg- und wehrlos, als er sie heimtückisch und aus Habgier erschlug. Anschließend tötete er die beiden Kinder, damit sie ihn nicht verraten konnten. Nach seiner Bluttat ruhte sich der Mörder noch etwas aus, um anschließend Geld, Kleidung und Lebensmittelkarten zu stehlen, bevor er um sechs Uhr morgens die Wohnung verließ. Sein anfängliches Leugnen der Tat nutzte wenig, als man die Sachen der Familie Werner später in seinem Besitz vorfand. Danach ging alles den üblichen Gang, und Jung wäre nach Ablehnung des Gnadengesuchs wohl guillotiniert worden. Doch nachdem der Termin für die Hinrichtung auf den 31. Januar 1948 gelegt und die Überführung ins Hinrichtungsgefängnis angeordnet worden war, kam vom Untersuchungsgefängnis die lapidare Antwort: „Verstorben“. Warum und wie er gestorben ist, geht aus den Akten nicht hervor. Immerhin wurde vermerkt, dass Jung am 27. September 1947 im Krankenhaus hingeschieden sei. „Eine Sterbeurkunde soll sich bei den Personalakten des Untersuchungsgefängnisses befinden“, notierte der zuständige Beamte, der offenbar ziemlich ungehalten war, denn auch bei anderen Hinrichtungen verwies er immer wieder darauf, dass „Peinlichkeiten“ wie im Falle Jung zu vermeiden seien. Die Tote vom Wannsee „Heiratsschwindelei“ war in der unmittelbaren Nachkriegszeit an der Tagesordnung. So wurde Ende März 1946 wurde in der Nähe des Strandbads Wannsees in einem Schützenloch die weitgehend verweste Leiche einer Unbekannten gefunden. Aus diesem Grund lag die Vermutung nahe, dass es sich um ein Opfer aus der Endphase des Krieges handeln könnte. Die Polizei war sich jedenfalls vollkommen sicher. Im Kriminaltagebuch wurde der Fall unter der Überschrift „Tod durch Feindeinwirkung“ beschrieben. Die Ermittlungsbeamten sollten sich jedoch gewaltig irren, denn bei der Toten handelte es sich um die 28-jährige Liesbeth Hobeck, die ein halbes Jahr zuvor am 3. Oktober 1945 von zwei Männern erschlagen worden war. Ihr Mörder war der im Sudetenland geborene Walter Rampfel, Mittäter ein Österreicher namens Manfred Lentner. Nach Kriegsende hatten sich Rampfel und Lentner im Kriegsgefangenenlager kennengelernt, am 30. August 1945 waren sie gemeinsam entlassen worden. Rampfel folgte seinem Kumpel nach Berlin, wo Lentner seine Ehefrau suchte, die er während der Kriegsjahre geheiratet hatte. Aber er fand sie in den Nachkriegswirren in einem zerstörten Land voller Flüchtlinge und Heimatloser nicht. Lentner suchte daher eine frühere Geliebte in derselben Stadt auf. Rampfel wurde im gleichen Haus bei Liesbeth Hobeck untergebracht, mit der er sogleich ein Verhältnis begann. Sie wollte heiraten, er nicht. Lentner wollte in diesem Konflikt vermitteln und ihm soll sie laut dessen späteren Aussage gesagt haben: „lieber sterben als von ihm lassen.“ Hobeck hielt ihren Liebhaber jedenfalls finanziell aus und verkaufte dafür ihre gesamten Habseligkeiten. Schließlich ging Rampfel zum Schein auf Hobecks Heiratswunsch ein und erklärte, er wolle mit ihr in ihren Heimatort Datteln in Westfalen ziehen, um sie dort zu ehelichen. In Datteln wohnte ihre Mutter, und Hobeck hatte auch ihre vier Kinder dort untergebracht. Sie träumte wohl von einem trauten Familienleben in der Kleinstadt. In Wahrheit planten Rampfel und sein Kumpel Lentner etwas ganz anderes. Als sie am Bahnhof Wannsee angekommen waren, mussten sie mehrere Stunden auf den Anschlusszug warten und machten es sich in der Nähe im Wald gemütlich, um ein wenig auszuruhen. Das nutzte Lentner aus, um Liesbeth mit einem Winkeleisen zu erschlagen, während Rampfel ihr den Mund zuhielt. So zumindest Rampfels schriftliches Geständnis, das natürlich stark beschönigend war: „Sie wollte lieber sterben, als Dich zu lassen, und den Gefallen habe ich ihr getan“, soll Lentner nach der Tat gesagt haben. Danach fuhren beide wieder zurück nach Berlin, wo bereits zwei neue Frauen auf sie warteten. Männer waren - wie bereits erläutert - schließlich Mangelware in der Nachkriegszeit. Weil die zwei Halunken aber befürchteten, Hobeck sei gefunden worden, erfasste sie nach wenigen Tagen die Panik, und sie flüchteten in die Nähe von Dresden, wo Rampfels Mutter und seine Schwester inzwischen wohnten. Im Dezember 1945 meldete Hobecks Mutter ihre Tochter als vermisst, kurz nachdem sie eine anonyme Zuschrift bekommen hatte, dass ihre tote Tochter an der Elbe mit aufgeschnittener Pulsader gefunden worden sei. Offensichtlich ein Ablenkungsmanöver. Dieser schockierenden Nachricht wollte sie nachgehen, und die Polizei tat das nun auch. Schon bald waren die letzten Reisebegleiter von Liesbeth Hobeck ausfindig gemacht. Rampfel wurde bei seiner Mutter festgenommen und kam in Untersuchungshaft, Lenter machte sich rechtzeitig aus dem Staub. Später widerrief Rampfel sein Geständnis und behauptete, Lentner habe die Tat allein verübt, und er selbst sei so dumm gewesen, einen heiligen Eid zu schwören, ihn nicht zu verraten. Dieses erneute mehrseitige schriftliche Geständnis, mit dem er sich vollkommen reinwaschen wollte, war ziemlich durchsichtig, und so glaubte ihm niemand. Mit Urteil vom 20. Februar 1947 wurde Rampfel zum Tod verurteilt und am 6. April 1948 hingerichtet. Lentner wurde Jahre später doch noch gefasst, als er 1951 in einen mysteriösen Todesfall eines prominenten Jetsetters und Sportlers verwickelt war. Er wurde 1954 in Österreich wegen des Mordes an Liesbeth Hobeck und wegen Bigamie zu 15 Jahren schweren Kerkers verurteilt. Nicht alle ermordeten Frauen waren „leichtgläubige“ Opfer von Heiratsschwindlern. Eine schlimme Bluttat ereignete sich im November 1946 in Berlin-Kreuzberg. Diesmal wurde der am 1. Januar 1925 geborene Mörder Gerhard Abendroth nach dem Todesurteil allerdings auch hingerichtet. Auch er hatte eine Frau und zwei ihrer Kinder umgebracht. Die 32-jährige Margot Bolt hatte ein Verhältnis mit ihrem elf Jahre jüngeren Liebhaber, der eigentlich noch bei seinen Eltern wohnte. Margots Mann kam zwar aus dem Krieg zurück, aber sie hatte die Scheidung bereits eingereicht. Als er, aus der Kriegsgefangenschaft entlassen, am 19. Mai 1946 vor dem Ehebett stand, lag Abendroth darin. Da er sich gleichfalls trennen wollte, wurde die Ehe am 24. Juli 1946 geschieden. Er freundete sich sogar mit dem Liebhaber seiner Ex-Frau an und ging mit ihm hamstern. Abendroth war aber kein Heiratsschwindler, eher das Gegenteil. Er hatte ernsthafte Absichten, während Margot die im postkoitalen Überschwang dargebrachten Avancen ihres „Toyboys“, der damals noch nicht so bezeichnet wurde, offenbar nicht so ganz ernst nahm. Das soll auch der Grund für die Bluttat gewesen sein. Angeblich hatte sie seinen Antrag abgelehnt, den er ihr am 10. November frühmorgens gemacht hatte, nachdem sie miteinander intim gewesen waren und im Bett gemeinsam frühstückten. Aus Enttäuschung will er sie dann umgebracht haben. Er erschlug Margot Bolt mit einem Beil. Anders als Jung hatte er es aber nicht mitgebracht, sondern es stand zum Holzspalten in der Küche beim Herd. Es war also eher ein spontaner Akt und daher wohl als Totschlag zu werten. Der "Toyboy" Margot Bolt gab ihrem „Toyboy“ zu verstehen, dass sie eigentlich auf einen früheren Lover warten wolle, aber falls der aus dem Krieg nicht zurückkommt, stünde einer Verlobung nichts im Wege, denn er erinnere sie an ihn. Nicht so ganz, was Abendroth hören wollte. Es war ihr Todesurteil. Während der Tat hielten sich die Kinder in der Küche auf. Sie bekamen von dem Verbrechen nichts mit. Margot Bolt hatte drei Söhne: Dietrich, zehn Jahre, Jürgen, sechs, und das erst am Tag der Berliner Kapitulation am 2. Mai 1945 geborene Nesthäkchen Peter. Nach der Tat ging Abendroth zu seinen Eltern und schickte die zwei älteren Kinder zu einer Bekannten der Mutter, während er den Jüngsten fütterte und ins Bett legte. Um 14 Uhr kam er, genauso wie die beiden Kinder, wieder in die Wohnung zurück. Unglücklicherweise entdeckte Dietrich, der seine Mutter suchte, die blutige Leiche im Schlafzimmer. Das veranlasste Gerhard, auch das Kind mit dem dort liegenden Mordwerkzeug zu erschlagen. Danach durchwühlte er sämtlich Schränke und packte die Sachen zusammen, die er auf dem Schwarzmarkt verkaufen wollte. Abends dann legte der den Jüngsten ins Bett, während er Jürgen auf dem Sofa im Wohnzimmer nächtigen ließ. Er schlief ebenfalls dort auf einem Stuhl. Im Schlafzimmer lagen immer noch die Leichen. Inwieweit Jürgen von den Vorkommnissen im Schlafzimmer Kenntnis hatte, geht aus den Akten nicht hervor. Am Morgen des 11. November fütterte er wieder das Baby und brachte Jürgen zu seinen Eltern, sie sollten auf ihn aufpassen. Jürgen überlebte. Abendroth selbst schlief auch bei seinen Eltern und ging am Morgen des 12. November allein zurück in die Mordwohnung in der Oranienstraße. Er fütterte den weinenden Peter, und als dieser nicht aufhören wollte zu schluchzen, erwürgte er ihn mit dem Gürtel des Morgenmantels seiner Mutter. Es war die dritte schreckliche Bluttat. Nach seinen Taten verhökerte er die Sachen der Bolt an eine Hehlerin und bekam 3800 Reichsmark dafür. Als 14 Tage nach der ersten Tat die verwesenden Leichen im Schlafzimmer gefunden wurden, floh er aus der Stadt. Erst am 4. Dezember 1946 schnappte man ihn in Neuzelle im Osten Brandenburgs. Ein Ausbruchsversuch scheiterte. Gerhard Abendroth wurde am 29. Oktober 1948 hingerichtet. Ernst Reuß in Berliner Zeitung vom 19. Januar 2023 (Open Source) Vom Autor erschien 2022 das Buch „Endzeit und Neubeginn, Berliner Nachkriegsgeschichten“ im Metropol Verlag.
Schon im Kaiserreich, in der Weimarer Republik, in der Nazizeit, als auch in der BRD und in der DDR gab es viele Frauen die für Geheimdienste arbeiteten. Es gab nicht nur Mata Hari, sondern viele Agentinnen, die für oder gegen Deutschland spionierten.
Aber kaum jemand kennt Elisabeth Schragmüller. Alwine Brusis, Virginia Hall, Nathalie Sergueiew, Erika Lokenvitz, Elli Barczatis oder Christel Broszey. Es gibt sogar eine Spionin mit dem Decknamen Lenchen, die Putins Ehefrau in Dresden aushorchte und einige interessante Details aus der Ehe erfuhr. Sie lebt aus verständlichen Gründen inzwischen inkognito, ihr richtiger Name bleibt daher weiterhin unbekannt. Der heutige russische Präsident Wladimir Putin war von 1985 bis 1990 für den sowjetischen Nachrichtendienst in Dresden stationiert, er soll dort seine Frau geschlagen und betrogen haben. Elisabeth Schragmüller, eine der ersten Frauen mit Doktortitel in Deutschland, war ab 1915 Leiterin der deutschen Spionageabteilung gegen Frankreich. Sie war sozusagen die Vorgesetzte von Mata Hari und bildete sie aus. Nach dem Ersten Weltkrieg versuchten die ehemaligen Gegner des Deutschen Reiches zu ergründen ob in der Weimarer Republik der Versailler Vertrag eingehalten wurde. Eine der französischen Agentinnen war Alwine Brusis. Sie bandelte in Düsseldorfer Cafés mit Offizieren an und fand Beweise für die illegale Aufrüstung. „Vertrauter Verkehr“ hieß in den Gerichtsakten das Aushorchen von Offizieren mittels sexueller Avancen. Brusis kam ins Gefängnis und später in die Fänge der Nazis. Sie starb 1941 mit nur 54 Jahren. Sex spielte natürlich damals wie heute eine große Rolle. Bei der Stasi sprach man von der „Angriffsfront Intimleben“. Eine Methode, die China inzwischen mit digitalen Fake-Profilen in den sozialen Medien zu vervollkommnen versucht. Frauen und Männer werden weiterhin gerne als Lockvögel benutzt. Zwei überaus schillernde Geheimagentinnen während des Zweiten Weltkrieges waren Virginia Hall und Nathalie Sergueiew. Hall galt als „meistgesuchte Spionin des Zweiten Weltkriegs“. Sie arbeitete beim britischen Geheimdienst und hatte wie James Bond die „Lizenz zum Töten“, wechselte später zum amerikanischen Geheimdienst und bereitete die alliierte Landung vor. Nathalie Sergueiew, eine in Paris aufgewachsene Russin, war die bekannteste Doppelagentin des Zweiten Weltkriegs. Noch als ganz junge Frau war sie zu Fuß von Paris nach Warschau gelaufen und lernte währenddessen NS-Größen wie Hermann Göring und Franz von Papen kennen. Später fuhr sie mit dem Fahrrad von Paris bis nach Beirut. Eine Abenteurerin, die mit dafür verantwortlich war, dass der D-Day am 6. Juni 1944 gelang, indem sie die ihr vertrauenden Deutschen mit falschen Informationen täuschte. Im Kalten Krieg herrschte großes Misstrauen und dementsprechend eine rege Agententätigkeit in Ost und West. Erika Lokenvitz war in der DDR eine unter vielen Spioninnen der CIA. Elli Barczatis war Chefsekretärin des DDR-Ministerpräsidenten Otto Grotewohl und wurde wegen westlicher Spionagetätigkeit 1955 zusammen mit ihrem Geliebten guillotiniert. Im Büro des CDU-Mannes Kurt Biedenkopf saß eine wichtige Stasi-Informantin, Christel Broszey. Ihrer Verhaftung entging sie durch Flucht in die DDR. Aber auch nach dem Ende der DDR blieb die Bundesrepublik im Visier Russlands, Chinas und von anderen Geheimdiensten. 2011 wurde ein Ehepaar von einem GSG9-Kommando festgenommen. Es war die erste Enttarnung von Agenten nach dem Kalten Krieg. Besonders bemerkenswert dabei ist die Tatsache, dass ihre russischen Auftraggeber wissen wollten, wie in Brüssel über die Ukraine gedacht wurde. Die Spiegel Redakteure Maik Baumgärtner und Ann-Katrin Müller haben für ihr Buch „Die Unsichtbaren. Wie Geheimagentinnen die deutsche Geschichte geprägt haben“ Fälle aus den vergangenen hundert Jahre recherchiert, zahlreiche Akten in den Archiven ausgewertet und mit ehemaligen und aktiven Geheimagentinnen gesprochen. Ernst Reuß Maik Baumgärtner/Ann-Katrin Müller: „Die Unsichtbaren. Wie Geheimagentinnen die deutsche Geschichte geprägt haben“. DVA, München 2022, 384 Seiten, 24 Euro.
Paul Kohl, der vor vielen Jahren ein bemerkenswertes Buch zum Überfall auf die Sowjetunion anhand von Erzählungen überlebender Zeitzeugen schrieb, hat sich mit dem Buch „111 Orte in Berlin auf den Spuren der Nazizeit“ in eher seichtere Gefilde begeben.
Interessant ist es mitunter trotzdem was er zu erzählen hat, denn wer wusste schon, dass Adolf Hitlers Halbbruder Alois, ein verurteilter Betrüger, Hochstapler und Bigamist, als Kellner im Weinhaus Huth arbeitete. Später besaß Alois eine NS-Szenekneipe am Wittenbergplatz und denunzierte Widerstandskämpfer. Kurz vor Kriegsende floh er nach Hamburg, ließ seinen Namen in Hiller ändern und starb dort unbehelligt und friedlich elf Jahre nach dem Krieg. Auch vom Großmufti von Jerusalem, dessen Aufenthalt im Hotel Adlon in Berlin mit monatlich 75 000 Reichsmark finanziert wurde, hat wohl kaum jemand gewusst. Er forderte die Ausrottung aller Juden und hintertrieb die Auswanderung von 5 000 jüdisch-bulgarischen Kindern nach Palästina, was deren Tod bedeutete. Kohl und seine Fotografin zeigen 111 Naziorte in Berlin, darunter allgemein bekannte wie beispielsweise die Gestapo- und Euthanasiezentrale, die Reichskanzlei und die Deutsche Reichsbank. Es werden aber auch unbekannte Orte vorgestellt. Die „Reichsbräutschule“ beispielsweise, außerdem Orte an denen mutige Berliner jüdische Mitbürger versteckt hatten, eine Erschießungsstätte für Pazifisten hinter der Walbühne, die Fabrik die die gelben Davidssterne herstellte, die jeder Jude ab 6 Jahren für 10 Pfennig kaufen musste und viele andere Orte. Jeweils auf einer Seite wird der Ort kurz anekdotisch erläutert, während auf der gegenüberliegenden Seite Bilder dieser Orte von früher und heute zu sehen sind. Ein Lageplan und Anfahrtsmöglichkeiten mit öffentlichen Verkehrsmitteln runden die Darstellung ab. Das Buch ist ein nettes Sammelsurium von kleinen Anekdoten und als kurzes Nachschlagewerk oder als kleines Geschenk geeignet. Es ist aber wohl eher für den Touristiksektor gedacht. Ernst Reuß Nadia Boegli, Paul Kohl, 111 Orte in Berlin auf den Spuren der Nazi-Zeit. Mit zahlreichen Fotografien von Nadia Boegli, 240 Seiten, emons Verlag, 16,95 Euro
Durch die strafrechtliche Verfolgung der gescheiterten Revolutionäre von 1848 mussten viele Deutsche ins Exil. In den USA und in Australien wurden letztere übrigens Forty-Eighters genannt. Gustav Herzfelds Vater Joseph war einer davon. Der Revolutionär wurde in Preußen steckbrieflich gesucht, floh nach New York und wurde dort nach der Heirat mit der Tochter eines Bankers, selbst zum überaus wohlhabenden Bankier.
Erst 1867 konnten die Familie wieder zurück nach Deutschland. Zuerst nach Düsseldorf, dann nach Berlin ins noble und avantgardistische Tiergartenviertel. Gustav Herzfeld war zuvor am 7. Mai 1861 in New York geboren worden. Mit 18 begann er in Deutschland ein Jurastudium und ihn erwartete ein sehr großes Erbe. Später promovierte er. Befreundet war er schon zu Studienzeiten mit Persönlichkeiten wie dem „Vater“ der Weimarer Verfassung Hugo Preuß. Als er die Hutmacherin Elise schwängerte, brach er 1897 kurz aus seinem vorgezeichneten Leben aus und heiratete diese in den USA, wo auch das gemeinsame Kind zur Welt kam. Seine Eltern missbilligten die Ehe als nicht standesgemäß. Dennoch kam er mit seiner kleinen Familie ein Jahr später zurück und wurde mit einer Millionen Mark aus dem Erbe ausgestattet. 1903 zog Gustav Herzfeld mit seiner Frau Elise und dem Sohn Joachim in eine herrschaftliche Villa nach Potsdam, ließ sich dort später als Anwalt zulassen und trat zum evangelischen Glauben über, was ihm später unter den Nazis jedoch nichts nutzen sollte. Einen mittelschweren Skandal hatte er 1913 zu überstehen, als sein neunjähriges Verhältnis mit einer jüngeren Frau ans Licht kam und schmutzige Prozesse geführt wurden. Nachdem seine Frau vom Verhältnis erfuhr, verlangte Herzfeld alle Geschenke, darunter ein gemeinsames Liebesnest zurück. Seine Geliebte klagte dagegen, aber verlor. Ein schweres Schicksal erlitt die Familie Herzfeld, als ihr Sohn 1918 im Ersten Weltkrieg in Verdun fiel. Fünf Jahre später brachte sich Elise um. Aber es sollte noch schlimmer für Gustav Herzfeld kommen. Während der Nazizeit wurde auch Gustav Herzfeld verfolgt. Zunächst konnte er als „Altanwalt“ seine Zulassung behalten und schloss sich mit Kollegen jüdischer Herkunft in einer Gemeinschaftskanzlei zusammen. Doch 1938 erhielt er Berufsverbot und musste den „Judenstern“ tragen. Mit der Zwangseinweisung in das „jüdische Altenheim“ in Babelsberg wurde ihm 1942 sein letzter Besitz genommen. Um der Deportation zu entgehen, unternahm Herzfeld mit 81 Jahren einen Selbstmordversuch, der jedoch misslang. Von den jüdischen Juristen im Landgerichtsbezirk Potsdam flohen 13 ins Exil, einer davon kehrte später nach Deutschland zurück. Mindestens fünf starben in Konzentrationslagern. Zu ihnen gehörte - neben vielen seiner Verwandten - auch Gustav Herzfeld. Am 3./4. Oktober 1942 wurde er über Berlin im 3. „Großen Alterstransport“ in das Ghetto Theresienstadt verbracht. Niemand der mit ihm deportierten Potsdamer Frauen und Männer überlebte. Sein Todesdatum wurde mit dem 27. Oktober 1942 angegeben. Gustav Herzfelds ungewöhnliches Schicksal wurde nun durch seine Nachkommen von der weit verzweigten Familie, aus der Personen wie John Heartfield und Wieland Herzfelde international Berühmtheit erlangten, in einem Buch gewürdigt, nachdem schon 2017 ein Stolperstein in Potsdam verlegt wurde. Es ist immer wieder sehr berührend und lohnenswert solche Biographien aus der Nazizeit zu lesen. Nie wieder! Ernst Reuß Kuntze, Simon / Topp, Sascha (Hg.), „Ich hoffe auf baldigen Umbruch …“ Der Jurist Gustav Herzfeld und seine Familie, New York – Berlin – Potsdam – Theresienstadt, vbb Verlag, Berlin 2022, 248 Seiten, 24 € |
AutorErnst Reuß, geboren 1962 in Franken. Studium der Rechtswissenschaften in Erlangen und Wien. Promotion an der Humboldt - Universität zu Berlin. Danach als wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Freien Universität Berlin und im Bundestag beschäftigt. Archiv
März 2024
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