Die bereits 2014 erschienene Biographie über Winston Churchill erscheint inzwischen auch als Taschenbuch. In diesem Jahr wäre er 150 Jahre alt geworden.
Der Verlag beschreibt ihn so: „Als Winston Churchill 25 Jahre alt war, hatte er Kriege auf drei Kontinenten erlebt, fünf Bücher geschrieben und einen Sitz im britischen Unterhaus gewonnen. Mit 60 galt er politisch als gescheiterter Mann. Doch dann kam der Zweite Weltkrieg. Churchill wurde Premierminister, leistete den entscheidenden Widerstand gegen Hitler-Deutschland und führte sein Land bis zum siegreichen Kriegsende.“ Selbst er fand seinen langjährigen politischen Werdegang mit Parteienwechseln von den Konservativen zu den Liberalen und wieder zurück, bei dem der Monarchist zum Schluss Königin Elizabeth diente, erstaunlich: „Ich diente unter der Ururgroßmutter der Queen, unter ihrem Urgroßvater, ihrem Großvater, Vater und jetzt ihr.“ Der Journalist Thomas Kielinger, der lange Jahre für „Die Welt“ aus London berichtet hatte, charakterisiert in seiner Biographie diesen exzentrischen, aber schwierigen Charakterkopf und überragenden Rhetoriker. Der am 30. November 1874 geborene Sir Winston Leonard Spencer-Churchill war ein Kind des britischen Hochadels. Sein Vater Randolph Henry Spencer-Churchill war ein bedeutender Politiker der Tories. Er war Finanzminister. Der Sohn jedoch wurde ein Ausnahmepolitiker. Aber als er mit Ach und Krach den Schulabschluss schaffte, wusste der Vater zunächst nicht, was er mit dem missratenen Sohn machen sollte. Als Politiker, Maler und Schriftsteller übertraf Winston den mit seinem Sohn Unzufriedenen aber um Längen. Winston war ein Paradiesvogel, der mit keinem anderen zeitgenössischen Politiker verglichen werden konnte und sich als Meister der Selbstinszenierung - mit einer Zigarre zwischen den Lippen - zu präsentieren wusste. Auch der Malerei hatte er sich verschrieben. Seine Bilder werden heute für mehrere Millionen Euro versteigert. Eigentlich war Winston Churchill bereits in jungen Jahren ein Held, als er im März 1901 erstmals seinen Sitz im Londoner Unterhaus einnahm. Zuvor hatte er sich bereits als Offizier und Kriegsberichterstatter einen Namen gemacht und wurde nach seiner spektakulären Flucht aus einem Gefangenenlager im Burenkrieg zuhause triumphal empfangen. Seine von ihm selbst zu Papier gebrachten Abenteuer waren schnell Bestseller. Es sollten nicht seine einzigen Bestseller werden. Mit der Schriftstellerei finanzierte er sich seinen aufwendigen Lebensstil mit Koch, Chauffeur sowie Butler und seine Erzählkunst brachte ihm zudem den Literaturnobelpreis ein. Dennoch heißt die Biographie: „Der späte Held“, womit der Autor vor allem die Zeit nach Churchills Ernennung zum Premierminister 1940 meint. In Hitler fand Winston Churchill den Gegenspieler, gegen den er in seinen Ansprachen an die Nation zu seiner Bestform auflaufen konnte. Hitler bezeichnete ihn als „verjudeten halb amerikanischen Trunkenbold“, scheiterte letztendlich aber auch an dessen Hartnäckigkeit. Das zuvor stattgefundene Ringen um Appeasement oder Wehrhaftigkeit erinnert dabei stark an heutige Zeiten. Als Hitler alle Verträge und Versprechen gebrochen hatte und Polen überfiel, erklärte auch das britische Empire Deutschland den Krieg. Gleichzeitig wird ein neues Kabinett gebildet, mit Winston Churchill erneut als Marineminister. Als die Wehrmacht am 10. Mai 1940 auch Frankreich angreift, wird Churchill Premierminister einer Allparteienregierung. Er weiß, dass die Existenz Großbritanniens auf dem Spiel steht und versucht die USA als Verbündeten zu gewinnen. Frankreich wird besetzt. Die Invasion Großbritaniens gelingt jedoch nicht, auch wegen Winston Churchill. Am 8. Mai 1945 verkündete Premierminister Winston Churchill vom Balkon des Londoner Buckingham Palace in Anwesenheit der königlichen Familie die bedingungslose Kapitulation Nazi-Deutschlands. Interessant dabei auch die von englischen Politikern geteilte Erleichterung, dass das ein Jahr zuvor stattgefundene Stauffenberg-Attentat missglückte, denn anders wäre es nach dem Krieg eine schwierigere Verhandlungsposition gewesen. Mit tiefem Misstrauen begegnete er später der Tatsache, dass Polen – dessen Befreiung von der Nazi-Tyrannei den Beginn des Weltkriegs markiert hatte – nun hinter einem „Eisernen Vorhang“ verschwand. Stalin war ihm ein neuer alter Feind. Der einst liberale Politiker Winston Churchill wandelt sich endgültig zum antisozialistischen Hardliner. Im Buch kommen auch Churchills negative Charaktereigenschaften zum Vorschein. Er äußerte sich durchaus auch rassistisch und blieb bis zum Schluss imperialistisch, war aber zuhause auch Demokrat. Trotz aller Machtfülle rüttelte er nie an den Grundpfeilern der britischen Demokratie. Selbst während des Krieges, musste er sich im Parlament einem Misstrauensvotum stellen. 1955 tritt Winston Churchill vom Amt des Premierministers , das er nach dem Krieg zwischenzeitlich verloren hatte, zurück, blieb aber dem Unterhaus bis zum Schluss als Abgeordneter erhalten. Zum Rücktritt als Regierungschef musste er regelrecht gedrängt werden. Er starb am 24. Januar 1965. Eine lesenswerte Biographie des überaus bunten und spannenden Lebens eines außergewöhnlichen Mannes, der an seinem 150. Geburtstag im November wieder in aller Munde sein wird. Ernst Reuß Thomas Kielinger: „Churchill. Der späte Held“, C.H. Beck Paperback, München 2022, 400 Seiten, 16,95 Euro.
Anfang
Es war im Oktober 1999, als ich eine Ausstellung zum Holocaust sah und ein Foto mich sehr berührte: das Foto einer Erschießung im Zweiten Weltkrieg. Als Bildunterschrift war auch der Ort angegeben, an dem die Erschießung stattgefunden hatte. Es war Winniza in der Ukraine. Winniza? Winniza hatte ich schon gehört. Mein Großvater soll dort gewesen sein, während des Krieges. Mein Großvater Ernst, der zu früh Verstorbene, nach dem ich benannt worden war. Er war zwar Parteimitglied, aber weit hinter der Front in einer Schreibstube tätig, hieß es. Vom Krieg soll er kaum etwas mitbekommen haben. Von da an interessierte es mich brennend, was in Winniza geschah und wo genau meine Großväter im Zweiten Weltkrieg tätig waren. Mich ließ das Thema nicht mehr los. Ich begann nachzuforschen. Zu meinem Erstaunen und dem Erstaunen meiner Familie musste ich erfahren, dass mein Großvater in der Kommandantur eines Kriegsgefangenenlagers in Winniza tätig gewesen war. Ich las alles, was ich dazu finden konnte, und erfuhr, dass in derartigen Lagern entsetzliche Verbrechen geschehen sind. Zu meinem noch größeren Erstaunen stellte ich fest, dass in Deutschland zwar viel über deutsche Kriegsgefangene in Sibirien zu lesen war, aber es kaum etwas über das Schicksal der sowjetischen Kriegsgefangenen gab, obwohl 3,3 Millionen von ihnen in den deutschen Vernichtungslagern umgekommen waren. Zu meinem allergrößten Erstaunen erfuhr ich bei meinen Nachforschungen, dass mein anderer Großvater, der kein Nazifreund war, mehrere Jahre – als Gefangener in russischer Hand – in eben diesem Lager in Winniza verbringen musste, nachdem die Deutschen abgezogen waren. Ich wollte nun noch genauer wissen, was in Winniza geschehen war. Anfragen an renommierte Wissenschaftler blieben ergebnislos. Meist war es den Angesprochenen nicht einmal eine Antwort wert. Mein Konzept und mein privates Fotomaterial, das ich dem Deutsch-Russischen Museum in Berlin zur Verfügung stellte, blieben dort für immer verschwunden. Trotzdem versuchte ich, weitere Erkenntnisse zu gewinnen und besuchte alle deutschen Archive, die etwas zu dieser Thematik hergeben konnten. Ich wurde dabei auch fündig. Leider waren die Ergebnisse begrenzt, doch viele Originalakten führten dazu, dass das Bild immer klarer wurde. Das Bild von zwei einfachen Soldaten an der Ostfront und von schrecklichen, zumeist ungesühnten Verbrechen. Besonders berührte mich dabei das entsetzliche Schicksal der sowjetischen Kriegsgefangen. Propaganda Nach den Anfangserfolgen der deutschen Wehrmacht beschäftigte sich auch das Propagandaministerium mit den vielen Gefangenen. Man versuchte, sie zur Bestätigung des propagierten Weltbildes zu nutzen. Goebbels ließ daher bereits am 26. August 1941 eine Fahrt der Mitglieder der Ministerkonferenz in ein Gefangenlager organisieren, an der er selbst auch teilnahm. Zweck dieses „Betriebsausflugs“ sollte sein , ich zitiere „den Konferenzteilnehmern und Vertretern des Gaues Berlin einmal die in den Wochenschauen gezeigten Unmenschen in Natur vorzuführen und hierdurch zu zeigen, vor welcher Gefahr F ü h r e r und die Wehrmacht uns gerettet haben.“ Goebbels wollte die in den Wochenschauen gezeigten …… „Bestien“… im Original vorführen. Dies misslang jedoch gründlich, denn die Teilnehmer des „Betriebsausfluges“ zeigten sich enttäuscht von den „Unmenschen“, die so gar nicht den Erwartungen entsprachen. Der Berichterstatter vom Propagandaministerium merkte in seinem Bericht enttäuscht an : „Die Fahrt brachte insofern nicht das gewünschte Ergebnis, als die Gefangenen fast durchweg Weißrussen waren und daher durchschnittlich ein durchaus menschliches Aussehen hatten (...) Ferner erklärten sie übereinstimmend, sie hätten Hunger und wollten arbeiten (...) Auch die anderen Fahrtteilnehmer haben (…) das Lager nicht mit dem Gefühl des Hasses verlassen, sondern eher in Verwunderung darüber, daß es noch so viele menschlich aussehende Russen gibt.“ Er berichtete weiter : „Ich nehme an, daß bei zukünftigen Besichtigungen vorher dafür Sorge getroffen wird, daß der in den Wochenschauen gezeigte Entwurf gezeigt wird.“ Logisch! Er war ja aus dem Propagandaministerium. Es war seine Aufgabe die Realitäten dem „Entwurf“ anzupassen. Der Berichterstatter gab bei seinen Überlegungen auch ein geradezu klassisches Beispiel der vorherrschenden „Humanität“ – nicht nur – höherer Parteikreise : Ich zitiere „Zum Abschluß der Führung wurden uns die Gefangenen gezeigt, die schon einmal ausgebrochen sind. Wir verstanden nicht, daß diese überhaupt noch lebten. (...) Sie waren hinter einem Stacheldrahtverhau und machten in dem strömenden Regen, zum größten Teil zu dreien unter einer Jacke stehend, einen erbärmlichen Eindruck. Einer der Gefangenen (...) sagte zunächst immer wieder daßelbe, nämlich sie wollten arbeiten. Dann verlangte er Brot bezw. etwas zu essen, da sie schon so lange gehungert hätten. (...) Meines Erachtens werden diese Gefangenen sowieso hinter ihrem Drahtzaun verrecken. Nicht aus Mitleid, sondern aus reinen Verstandesgründen stehe ich auf dem Standpunkt, daß man das Essen, was sie noch bekommen, sowie die Wachmannschaften, die man für sie braucht, sparen und sie, wenn sie geflohen sind, sofort töten sollte.“ Kannibalismus Die erbärmliche Situation in den Lagern in der Sowjetunion führte sogar offensichtlich öfters zu Kannibalismus. Warum es dazu kam, wurde nicht lange diskutiert. Nach Ansicht von vielen war wohl nicht die fehlende Nahrung Ursache für derartige Auswüchse, sondern das……ich zitiere…..„Untermenschentum der gefangenen Bestien“. Ein Bezirkskommandant unterstellte den kannibalistischen Gefangenen sogar Propagandamotive. Seines Erachtens aßen sich die Gefangenen nur deswegen gegenseitig auf, um die Deutschen in schlechtem Licht darzustellen (!). Feldpost Um die Lage hinter der Front zu illustrieren möchte ich auch einen Brief vorlesen, den ich bei meinen Recherchen erhielt. Es ist unveröffentlichtes Material von 1942, das eindrücklich zeigt mit welchem Selbstverständnis in der Sowjetunion gewütet wurde. Der Brief des Frontarbeiters räumt mit der immer noch kolportierten Mär auf, dass in Deutschland Niemand von dem Treiben im Osten etwas gewusst habe : Ich zitiere „Lieber Vater! Du müßtest einmal sehen wie es dem auserwähltem Volk hier geht. Alles was Hände und Füße hat schlägt und tritt an ihm herum, wenn jemand seinen Zorn auslassen will kommt ein Jüd dran, zu fett werden sie bei uns auch nicht. Früh muß sie ein Mann holen am Tag beaufsichtigen und abends wieder nach Hause bringen, denn sie wohnen gemeinsam in einem mit 3 m hohen Stacheldraht eingezäuntem Lager, wer ohne Posten auf der Straße gesehen wird, wird sofort erschossen. Auch haben wir gefangene Russen zum arbeiten, es gehen alle Tage einige kaputt oder werden erschossen. Wenn wir diese früh holen sagt der Unteroffizier am Abend muß die Zahl stimmen oder ihr habt die Burschen erschossen und ich sehe die Leichen dieses macht nichts, auch ging uns im Wald einer stiften konnten ihn aber noch in die ewigen Jagdgründe schicken. Im Zimmer haben wir Judenmädchen zum Aufwaschen, Kleiderwaschen, Strümpfstopfen, Schuh putzen haben uns diese auf dem Arbeitsamt ausgesucht, bei meinem Zimmer ist eine tüchtige Judendame wäscht und hält alles in Ordnung. Auch sind in der letzten Zeit 40 000 Juden wieder erschossen worden weil wir diese Brüder nicht mehr brauchen können, da zittern die anderen immer weil sie auch noch dran kommen. Was ich Euch geschrieben habe soll man nicht weiter erzählen, es ist verboten. Da nun das Osterfest nahe vor der Türe steht so wünsche ich Euch frohe und gesunde Osterfeiertage seid alle nochmals herzlich gegrüßt von Euren Sohn und Bruder Oskar.“ Auch die Beiläufigkeit wie im folgenden Brief desselben Autors nur wenige Monate später von unfassbaren Verbrechen berichtet wird, zeigt die unbegreifliche Normalität des bestialischen Treibens in jenen Tagen : Ich zitiere „Bei uns wäre alles in Ordnung wenn bloß der Fraß etwas besser wäre Kartoffel und wieder Kartoffel man scheißt Haufen so groß wie ein Backkorb und hat trotzdem Kohldampf. Salat oder Gemüse hat es noch nicht gegeben bis der groß wird den wir gesät haben wird es Weihnachten werden. Ich kaufe mir immer einmal Rettich etwas Butter gibt es auch hat auch wieder Bier gegeben, ist dann eine prima Brotzeit. Auch wurde eine Wasserleitung gegraben da kamen wir durch ein jüdisches Massengrab welches zirka 1 ½ Jahr alt war. Juden mußten dann die Leichen umbetten, wenn sie fertig waren fanden sie dann auch den Tod im gleichen Grab. Von dieser Sache schweigen denn ich war vom Kommando Wachhabender.“ Werdegang Ernst In Winniza selbst – wo mein Großvater Ernst als Feldwebel tätig war – gab es drei Lager : Es gab ein Ghetto für jüdische Zivilbevölkerung, das von Juli bis September 1941 bestand. Es hatte ungefähr 7 000 Bewohner und mindestens 2 000 Tote durch Erschießungen zu beklagen. Das Ghetto stand unter Zivilverwaltung. Als zweites Lager wurde in Winniza ein Zwangsarbeitslager für männliche Juden eingerichtet. Die jüdischen Mitglieder des Zwangsarbeitslagers wurden zu Gleisbauarbeiten herangezogen. Dieses Lager bestand von Dezember 1941 bis April 1944 und wurde von der SS verwaltet. Als die Arbeiter nicht mehr gebraucht wurden, sollen auch sie erschossen worden sein. Das dritte Lager, das eigentliche Kriegsgefangenenlager – Stalag 329 – bestand vom Oktober 1941 bis September 1943. Zuständig war die Wehrmacht. Laut Statistik wurden dort höchstens bis zu 20 000 sowjetische Soldaten gleichzeitig gefangen gehalten. Ernst war dort in der Schreibstube tätig, die angeblich 15 Kilometer vom Hauptlager entfernt war. Stalag 329 war nicht das schlimmste der Lager im Osten. Es fanden aber auch dort Aussonderungen, Sonderbehandlungen und Morde statt. Ernst muss von den Verbrechen zumindest gewusst haben, auch wenn er wahrscheinlich nicht direkt darin involviert gewesen war. Auch außerhalb dieser drei Lager kam es im September 1941 und im Frühjahr 1942 zu Massenerschießungen. Schätzungen gehen davon aus, dass dabei jeweils zwischen 15 000 und 30 000 Bürger in der Stadt Winniza umgebracht wurden . Ernst war Weihnachten 1942 auf Heimatbesuch und erkrankte auf der bitterkalten Zugfahrt zurück nach Winniza schwer. Trotz eines inzwischen chronischen Herzleidens musste er noch einmal zurück in die Ukraine und erlebte das Ende von Stalag 329 mit. Das Lager in Winniza wurde im November 1943 nach Ostpreußen und dann in die Lüneburger Heide verlegt. Was beim Abzug aus Winniza mit den letzten Insassen geschah, bleibt im Dunklen. Nimmt man das Verhalten der deutschen Truppe zuvor zum Maßstab, kann man nur das Schlimmste befürchten. Ernst war danach in Kroatien tätig. Allerdings war er schwer krank und lag meist im Hospital, wo er beim Rückzug in Lienz in englische Gefangenschaft geriet. Ein Jahr später wurde Ernst aus der Kriegsgefangenschaft entlassen. Er hatte jedoch in den folgenden Jahren aufgrund seiner schweren Krankheit nicht mehr allzu viel von der neu gewonnenen Freiheit. Gestorben ist er schließlich am 1950 mit 42 Jahren an der Herzkrankheit, die er sich während des Krieges zugezogen hatte. Weder für die „Sonderbehandlungen“ noch für sonstige Todesfälle im Stalag 329 wurde ein deutscher Soldat je belangt. Werdegang Lorenz Mein anderer Großvater Lorenz wurde erst Ende Januar 1942 eingezogen und wurde bereits einige Wochen später an die Front ins Kubangebiet geschickt. Er war einfacher Gefreiter. Kanonenfutter nannte man diese kurz ausgebildeten Soldaten an der Ostfront. Da sie keinerlei Kampferfahrung besaßen, war ihre Lebenserwartung an der Front nicht sonderlich hoch. Nur wenige aus seinem Regiment überlebten. Lorenz hatte Glück im Unglück und wurde bei Noworossisk Anfang Juli 1943 bei einem Granatenangriff schwer verletzt. Nach Gesundwerdung musste er allerdings wieder ran um die Reichshauptstadt zu verteidigen. Am 2. Februar 1945 schrieb er zum letzten Mal aus Bayern: „Nun trete ich zum drittenmal einen harten Weg an. Gelingt es mir, daß ich eine leichte Verwundung erwische, so bin ich bei Euch bald zu Haus, das ist mein innigster Wunsch und mein Alles. Die Lage ist jetzt ganz aussichtslos für uns, was ich ja schon immer angedeutet habe. Der Volkssturm hält den Russen auch nicht mehr vor Berlins Toren? Ich habe keine Angst vor den Russen und arbeiten kann ich überall. Nur diese Verbrecher müssen alle ausgerottet werden. Wo wir zum Einsatz kommen, ist noch nicht bekannt, (...) Hoffentlich habe ich viel Glück dabei u. Angst habe ich gar nicht. Mache mir Du lb. Frau keinen Kummer und Sorgen, denn das Schicksal wird uns treu zur Seite stehen. Nur eins möchte ich Euch noch sagen, eßt Euer Fleisch jetzt, als daß ihr es den Besatzungen gebt. Die Stimmung ist bei uns so sehr gesunken, nach den letzten Nachrichten. Auch keine Beförderungen sind bei uns noch nicht herausgekommen. Ich werde ja damit bestimmt nicht überrascht. Meine Gesinnung u. Eifer zu diesem Schwindel sind nicht geeignet. (...) Man könnte aus der Haut fahren, wenn man dieser ekligen Zeit gedenkt. Zwölf Jahre Haß u. Elend u. wie lange wird es noch dauern? Nun lb. Frau wollen wir das Beste hoffen, daß wir nach dem Krieg unser schlichtes Eheleben vollenden können. Auch unser sonniges Kind möge Gott unter seinen Schirm nehmen.“ Jeder dieser Briefe von Lorenz hätte nicht schon deswegen sein letzter sein können, weil die tödliche Front drohte, sondern auch, weil einige seiner Äußerungen als Defätismus beziehungsweise Wehrkraftzersetzung mit der Todesstrafe bedroht waren. Gerade zum Ende des Krieges reagierte der verlängerte juristische Arm des obersten Gerichtsherren Hitler berserkerhaft. Lorenz, hatte – wie schon an der Front im Kubangebiet – sehr viel Glück. Er überlebte und geriet am 16. April 1945 kurz nach Beginn der letzten Offensive in der Nähe von Berlin in Gefangenschaft. Am 10. Mai 1945 war Lorenz als Kriegsgefangener in der Ukraine im Lager Winniza angekommen. Dort sollte er erst einmal bis Ende Juli 1947 bleiben. Die Rote Armee benutzte also dasselbe Lager in dem der zukünftige Schwiegervater seiner Tochter tätig gewesen war. Sie sollten sich allerdings nie kennenlernen. Am 1. August 1947 wurde er ins Lager Kiew verlegt. Bis Ende Mai 1949 musste Lorenz in Kriegsgefangenschaft bleiben. Ihm ging es dort - nach eigenem Bekunden - nicht schlecht. Lorenz litt allerdings Zeit seines Lebens an den im Krieg erlittenen Verletzungen. Ein Bein war verkürzt, woraus sich ein schweres Hüftleiden entwickelte. Durch die weiterhin in seinem Körper wandernden Granatsplitter litt er ständig unter Schmerzen. Die Fortführung des „schlichten Ehelebens“, was von ihm in den Briefen als sehnlichster Wunsch genannt worden war, dauerte nicht allzu lange. Dreieinhalb Jahre nach seiner Heimkehr starb seine Ehefrau Anna. Er selbst starb 1981. SchlussVon 3,1 Millionen deutschen Kriegsgefangenen sollen nur ungefähr 2 Millionen wieder zurückgekommen sein. Über ein Drittel der deutschen Kriegsgefangenen sind demnach in den Lagern umgekommen . Dennoch, die Behandlung von sowjetischen Kriegsgefangenen durch Deutsche unterscheidet sich fundamental von der Behandlung deutscher Kriegsgefangener durch die Sowjets. Im Gegensatz zur systematischen Vernichtung von sowjetischen Kriegsgefangenen lassen sich die häufigen Todesfälle von deutschen Kriegsgefangenen, insbesondere unmittelbar nach Stalingrad, weitgehend mit der Auszehrung und dem schlechten Gesundheitszustand der deutschen Soldaten nach diesen langen Kämpfen erklären. Ein weiterer Grund war die allgemein schlechte Lebens- und Versorgungssituation in der ausgebluteten Sowjetunion. Schon aus diesem Grund wäre ein einfacher Zahlenvergleich der Todesfälle in den Lagern mehr als fragwürdig. Während Deutsche in der Sowjetunion zumeist gemäß den Genfer Konventionen behandelt wurden, waren die Deutschen mitnichten an einer menschenwürdigen Behandlung sowjetischer Kriegsgefangener interessiert. Zwar hatte auch das Deutsche Reich 1934 die Genfer Konventionen ratifiziert. Dennoch sollten diese nicht für sowjetische Kriegsgefangene gelten. Die deutsche Regierung stellte sich auf den Standpunkt, dass die Konventionen nur bei Gegenseitigkeit Gültigkeit besäße und Russland hatte die Genfer Konvention nicht unterzeichnet. Eigentlich wäre auch das kein allzu großes Problem gewesen, denn Russland hatte die zuvor gültige Haager Landkriegsordnung von 1907 unterzeichnet, aber die deutsche Regierung wollte für sowjetische Gefangene nicht einmal diese Abkommen anwenden. Konventionen für die „slawischen Untermenschen“ war eine Humanitätsduselei, die sich die rassistisch motivierte Ideologie der Nazis nicht leisten wollte. In Hitler-Deutschland vertrat man die Ansicht, dass die Sowjets sich von allen Verträgen des zaristischen Russlands, also auch von der Haager Landkriegsordnung, losgesagt hätten. Man hatte somit den Vorwand gefunden, sich gegenüber einem bolschewistischen Russland nicht mehr an derartige Verpflichtungen gebunden fühlen zu müssen. Die Bevölkerung der Sowjetunion sollte dezimiert, das „Judentum“ und der Bolschewismus ausgerottet werden. Eine kurze Anmerkung noch: Nach dem Krieg erhielten auch die durch die Westalliierten gefangenen Soldaten nicht den Status als Kriegsgefangene, sondern galten als Internierte. Sie waren daher nicht den Genfer Konventionen und der Haager Landkriegsordnung unterworfen. Man argumentierte, dass der Staat aufgehört habe zu existieren, ergo gäbe es auch keine staatlichen Soldaten mehr. In den USA hießen sie „Disarmed Enemy Forces“. Bei den Briten hießen sie „Surrendered Enemy Personnel“. Beide Begriffe ähneln dem heute in Guantanamo benutzten Begriff des „enemy combattant.“ Alles Begriffe, die völkerrechtlich nicht anerkannt sind. Auf die Genfer Konventionen wird augenscheinlich meist nur bei den eigenen Soldaten gepocht. 174. Freitagsbrief Aber zurück zu den sowjetischen Kriegsgefangenen. Da mit Stalins Befehl Nr. 270 vom 16. August 1941 Gefangenschaft mit Verrat gleichgesetzt worden war, hatten viele sowjetische Gefangene, obwohl es relativ wenige Kollaborateure unter ihnen gegeben hatte, zu Recht Angst, wieder zurück in ihr Heimatland zu müssen. Von den zwangsrepatriierten Kriegsgefangenen erhielt nur ein Fünftel die Erlaubnis heimzukehren. Der Rest wurde verurteilt oder als Zwangsarbeiter in verwüstete Gegenden geschickt. Erst 1957, nach dem XX. Parteitag, wurden die ehemaligen Kriegsgefangenen amnestiert, blieben aber bei der eigenen Bevölkerung häufig geächtet. Zum Schluss daher ein relativ aktueller Brief eines sowjetischen Kriegsgefangen „Ich bin ich Jahre 1921 (…) geboren. Im November 1940 wurde ich in die Armee eingezogen. Ich diente als einfacher Soldat in der 12. Schützenbrigade. Am 22. Juni 1941 begann der Krieg. Ich wurde an die Front geschickt. Im Juli 1941 wurde ich in der Ukraine schwer verletzt. Ich lag lange allein. Ich hatte großen Blutverlust. Endlich wurde ich abgeholt und zusammen mit anderen Verletzten mit einem Zug in die Stadt gebracht. Dort wurde ich 9 Monate lang behandelt. Nach der Genesung schickte man mich wieder an die Front. Ich kam nach Kertsch auf der Krim. Dort geriet ich in einen Kessel. Ich wurde von den Deutschen gefangen genommen und nach Deutschland verschleppt. Dort befand ich mich in einem Kriegsgefangenenlager. Gerade im Lager begann für mich der Schrecken des Krieges. Die Menschen waren dünn und entkräftet, mit weißen Gesichtern. Man musste auch noch arbeiten. Jeden Tag starben viele Menschen. Ich überlebte dank eines Wunders. Das Essen war kalorienarm, sehr bescheiden: es wurden ein bisschen Rüben geschnitten, dazu Wasser. Das wars. Das nannte man „Suppe“. Zusätzlich gab es 200 Gramm Spänebrot. So war das Essen für den ganzen Tag. (…) Es ist schwer, sich an das Ganze zu erinnern. Vieles habe ich nicht mehr im Kopf. Ich hielt mich in Deutschland bis 1945 auf. Danach wurde ich von amerikanischen Truppen befreit. Ich und andere Kriegsgefangene wurde mit Bahnwaggons nach Brest gebracht. Wir, schwache, kranke, arbeitsunfähige, wurden nach Sibirien geschickt (…). Dort sollte ich zwei Jahre arbeiten. Ich durfte nicht heimkehren. (…) Wir wurden als Vaterlandsverräter eingeordnet, nur aus einem einzigen Grund, dass wir in Kriegsgefangenschaft gerieten. Wir zerkleinerten große Tonstücke, stapelten sie. Danach wurde der Ton mit Wagen weggebracht. (…) Ich verwundere mich, dass ich damals überlebte, dass ich noch am Leben bin. Jetzt bin ich schwer krank. Meine Beine, Hände, mein Magen tun weh. Alles tut weh. Meine Seele tut auch weh. Meine Rente ist klein. Ich lebe mit der Ehefrau Sofia zusammen. Wir haben zwei Kinder und zwei Enkel. Ich weiß nicht, was ich noch schreiben soll. Wenn ich in Erinnerungen versinke, habe ich Kopfschmerzen. Ich bin oft sehr nervös. Es ist schwer sich überhaupt vorzustellen, wie ich das Ganze überlebt habe. Ich höre schlecht. In der rechten Hand habe ich immer noch Splitterreste. Ich kann keine Unterlagen, keine Nachweise finden. Damit beende ich meinen Brief.“ Und ich beende hiermit meinen kurzen Vortrag. Ernst Reuß |
AutorErnst Reuß, geboren 1962 in Franken. Studium der Rechtswissenschaften in Erlangen und Wien. Promotion an der Humboldt - Universität zu Berlin. Danach als wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Freien Universität Berlin und im Bundestag beschäftigt. Archiv
März 2024
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