Salvador Allende war hartnäckig gewesen, denn er hatte bereits drei vergebliche Anläufe als Präsidentschaftskandidat einer linken Parteienallianz hinter sich gebracht, bevor er schließlich ins höchste Amt Chiles gewählt wurde. Allende war überzeugter Demokrat, der erstmals in Lateinamerika den demokratischen Sozialismus zu realisieren versuchte.
Vor 50 Jahren, am 11. September 2023 beendete ein Militärputsch seine Träume für eine gerechtere Welt. Mit Pinochets Putsch und mit Allendes Suizid endete schon drei Jahre nach der Wahl dieser Traum, der weltweit Sympathien fand, aber nicht von allen goutiert wurde. Seine Politik widersprach den Interessen der in Chile herrschenden Oberschicht und vor allem auch den Interessen der USA. Man wollte keinesfalls einen neuen „Brückenkopf des Kommunismus“ im Süden des Kontinents dulden, was allerdings auch gar nicht die Intention Allendes war. Allende scheiterte am Widerstand der vom CIA unterstützten politischen Rechten Chiles. Die CIA finanzierte Unternehmerstreiks und Terroraktionen rechter Paramilitärs. Pinochet ließ letztendlich den Präsidentenpalast bombardieren. Allende starb schließlich dort von eigener Hand. Die ikonische Fotografie Allendes mit Helm und Waffe im Kreise seiner letzten Getreuen ist allgemein bekannt. Die sozialliberale deutsche Bundesregierung war von dem Staatsstreich bereits vorab informiert worden. Die bundesrepublikanische Rechte bejubelte den Staatsstreich sogar. Der CSU-Vorsitzende Franz Josef Strauß ließ sich noch 1977 in Santiago die Ehrendoktorwürde verleihen. Die heutige Villa Baviera und frühere Colonia Dignidad, die von Deutschen gegründet wurde, war ein Folterzenturm des chilenischen Geheimdienstes. Zwischen 1973 und 1990 verschwanden auch von dort viele politisch unliebsame Menschen. „Donde estan?“ (Wo sind sie?), ist an vielen Orten Santiagos auch heute noch zu lesen. Wo sind die Menschen, die während der Diktatur einfach verschwanden, lautet die Frage. Es waren viele, deren Schicksal bis heute ungeklärt ist. Nach dem Putsch wurden Massen von Verdächtigen ins Nationalstadion gesperrt und gefoltert. Die UdSSR weigerte sich kurze Zeit später ihr WM Qualifikationsspiel für die Fußball WM in Deutschland dort auszutragen und wurden disqualifiziert. Chile trat bei der WM 74 schließlich gegen die BRD und gegen die DDR an. Günther Wessel erzählt in seinem Buch von der weitverzweigten Familiengeschichte der Allendes in Chile und Chiles Kampf um Unabhängigkeit bis heute. Nach dem Putsch wurden die meisten Angehörigen Allendes ins Exil getrieben. Viele von ihnen haben nach der Rückkehr inzwischen wichtige Funktionen eingenommen, eine ist weltberühmt geworden: Isabel, die Nichte Salvador Allendes, wurde zur Bestseller-Autorin. Seit Ende 2021 regiert erneut ein Linksbündnis das Land. Verteidigungsministerin ist eine Enkelin Salvador Allendes. Bis 1990 blieb der Militärdiktator Augusto Pinochet an der Macht und Chile wurde lange als Musterland des Neoliberalismus gefeiert. Die soziale Ungleichheit im Land ist auch deswegen weiterhin riesig. Ernst Reuß Günther Wessel – Salvador Allende. Eine chilenische Geschichte, Ch. Links Verlag, Berlin 2023, 256 Seiten, 25 Euro.
Laut Dan Jones kann man aus westlicher Sicht die Geschichte in drei große Abschnitte unterteilen. Es beginnt mit der Antike und endet mit der Zeit der Reformation sowie dem Erkunden der Neue Welt.
„Zwischen diesen zwei Perioden lagen etwa tausend Jahren. Das sogenannte Mittelalter. Die Zeit zwischen dem Untergang des Weströmischen Reiches im 5. Jahrhundert und der Protestantischen Reformation im 15. Jahrhundert.“, schreibt er. In seinem dicken Wälzer „Mächte und Throne“ erzählt er packend von diesen tausend Jahren. Wie der Titel vermuten lässt beginnt es wie „Game of Thrones“. Dabei geht es um Römer, Ritter, Kreuzfahrer und Barbaren, aber auch um Byzantiner, Araber und Franken. Schon das erste Kapitel über die Römer ist spannend geschrieben und endet mit deren Niedergang im 5. Jahrhundert nach Christus und einem fließenden Übergang hin zum Frühmittelalter. Der britische Historiker und Journalist hat Bücher über Kriege und Kreuzzüge geschrieben und dazu populärwissenschaftliche Dokumentationen fürs Fernsehen gemacht. Genau so malt er auch in seinem Buch das Mittelalter aus. Im zweiten Kapitel berichtet er über die Barbaren, also über uns. Denn Barbaren waren vor allem die von den Römern so genannten Germanen. Er schreibt: „Der Aufstieg der Barbaren war ein komplizierter Prozess, der Wanderungen über kurze und lange Distanzen umfasste, den Zusammenprall politischer Systeme und Kulturen und einen allgemeinen Zusammenbruch der Institutionen des Reiches. Während Rom im Osten fast unberührt weiterbestand und in veränderter Form als griechischsprachiges Byzanz zu neuer Blüte gelangte, lag die Zukunft des römischen Westens nun in den Händen der Neuankömmlinge. Das Zeitalter der Barbaren war angebrochen.“ Laut Jones war das Mittelalter jedoch weniger finster als mitunter angenommen, sondern eher ein Sprungbrett in die Moderne. Das Buch beschreibt auch viele Parallelen zu heute: von tödlichen Pandemien, Migration, über den Brexit und der Globalisierung bis zum Einfluss des Klimas auf die Zeit. Die letzten Kapitel über Mönche, Kaufleute, Gelehrte, Baumeister, Seefahrer und Protestanten sind eher eine chronologische Aufzählung von Lebensläufen bekannter Persönlichkeiten von Leonardo da Vinci über Christoph Kolumbus zu Martin Luther. Immerhin das Kapitel Mongolen bringt die Erkenntnis, dass unter Dschingis Khan das ins Zelt pinkeln mit der Todesstrafe geahndet wurde. Derartige Anekdoten machen das Buch zwar nicht zu einer tiefgründigen, aber zu einer anschaulichen und zu einer gut lesbaren, plastischen Lektüre. Ernst Reuß Dan Jones, Mächte und Throne. Eine neue Geschichte des Mittelalters Aus dem Englischen von Heike Schlatterer, C.H.Beck Verlag, München 2023, 793 Seiten, 38 Euro.
Isabel Schayani kennt man von ihren Moderationen im Weltspiegel, aber auch von ihren Reportagen, die immer etwas anders sind als andere Reportagen. Unaufgeregt, aber sehr empathisch.
Ihr Buch „Nach Deutschland“ enthält fünf Reportagen von Flüchtlingen mit dem Ziel Deutschland. Nicht alle kommen dort an. Schayani, hat die Menschen über Jahre auf ihrem Weg begleitet und kann sich aufgrund ihres persischen Vaters und ihrer Religion gut in die Menschen hineinfühlen und deren Gefühle artikulieren. Vier davon sprechen persisch. Das hilft beim gegenseitigen Verstehen, denn Schayani spricht auch persisch, mit deutschem Akzent, wie sie schreibt. Die Migration nach Deutschland und Europa ist seit Jahren ihr wichtigstes Thema. Für ihre Berichte und Reportagen wurde sie mehrfach ausgezeichnet. Nur selten sieht man ihr bei den Reportagen die Erschütterung an, die sie empfindet bei dem was sie da sieht. Auch die fünf Fälle, die sie beschreibt sind erschütternd und enden keinesfalls als Erfolgsgeschichten, sondern berichten meist von zutiefst traumatisierten Menschen. Sicherlich keine „Asyltouristen“, wie sie von so manchen saturierten populistischen Politikern bezeichnet werden. Es geht um reale Verfolgungsschicksale und um Menschen, die ein besseres Leben suchen. „Game“ nennen sie ihren Versuch, unbemerkt in ein EU-Land zu gelangen. Mit „The Hunger Games“ gibt es ein literarisch verfilmtes Vorbild. Viele ertrinken bei dem Versuch mit einem Schlauchboot anzukommen. Die Gefahr ist ihnen klar, der Leidensdruck aber offensichtlich zu hoch. Safi schleppt sich im Winter zu Fuß über die Balkanroute und wird von Grenzpolizisten mißhandelt. Ruhi fliegt von Teheran zunächst nach Italien, bevor das in Teheran begonnene Martyrium mit bürokratischen und sehr belastenden Hemmnissen weitergeht. Beide verkraften die ganzen Strapazen nicht. Omid will nach Deutschland und landet mit seiner dreijährigen Tochter Nika dann doch in Calais. Mit dem Schlauchboot geht es über den Ärmelkanal nach England. Am selben Tag ertrinken auf dieser Route 27 Menschen, darunter ein Kind. Der Rezensent blättert nach vorne um zu sehen ob es Nika war. Sie war es nicht, andernfalls hätte er wohl nicht weiterlesen können. Man weiß zwar, dass das immer wieder passiert, aber es ist unterträglich. Das Bild des dreijährigen Alan Kurdi hat sich tief in die Seele gebrannt. Schayani berichtet auch über Moria, wo die 9-jährige Melika mit ihren Eltern feststeckt. Wer ihre Reportagen aus Moria gesehen hat, weiß wie angefasst Schayani das vor Ort erlebte und mitfühlte. Dort herrschen Zustände, die allen europäischen Werten widersprechen. Melika und ihre Familie kamen, wahrscheinlich auch durch den Druck von Schayanis Reportagen, schließlich raus aus der „Hölle von Moria“. Sie landen in Luxemburg. Die Reportagen kann man im Netz abrufen. Last, but not least berichtet sie über Olena, die nach dem Krieg in der Ukraine von dort flüchten musste. Sie hatte es leichter nach Europa zu kommen, ein Notfallplan griff. Schayani reflektiert klug die unterschiedliche Behandlung von ukrainischen und sonstigen Flüchtlingen und geht in die Ukraine um zu erleben, was die Menschen zur Flucht antreibt. Sie schreibt: „Krieg ist, wenn alle Fenster verdunkelt sind mit Spanholz oder Latten, kein Licht dringt raus. (...) Krieg sind Raketen, die ziemlich akkurat nur eine Schule treffen. (...) Krieg sind alte Menschen, die nicht weg können (...) Krieg ist, wenn du als Journalistin besser geschützt bist als der Soldat. (...) Krieg ist eine Clusterbombe, und hinterher sieht es so aus, als seien die Menschen von einem Auftragskiller gezielt erschossen worden. Krieg (...) tötet die Nachbarin, die eben noch mit Gehhilfe etwas langsam in Richtung Kreuzung ging. (...) Krieg ist kein Schiff im Meer, keine Badenden, alles vermint. Krieg ist der Blick eines Soldaten, der die Angst, der nächste zu sein, den es erwischt, nicht mehr los wird. (...) Krieg ist, dein Leben riskieren, um anderen was zu essen zu bringen. Krieg ist ein Geruch, der dich nicht mehr schlafen lässt. (...) Krieg ist, die Sonne scheint und du schaust panisch gen Himmel, denn jetzt schicken sie die Drohnen los und keine Wolke schützt dich.“ Als über die Grenzen bekannte Journalistin, hat sie auch viele Telefonnummern von wichtigen Leuten wie Jean Asselborn, die sie am Schluss des Buches interviewt. Beim ungarischen Außenminister folgt ein offensichtlich notwendiger Faktencheck. Sehr lesenswert, auch wenn diejenigen, die es lesen sollten das nicht tun werden. Könnte ja das xenophobe Weltbild zerstören. Ernst Reuß Isabel Schayani, Nach Deutschland, FÜNF MENSCHEN. FÜNF WEGE. EIN ZIEL, Beck Verlag, München 2023, 319 Seiten, 26 € |
AutorErnst Reuß, geboren 1962 in Franken. Studium der Rechtswissenschaften in Erlangen und Wien. Promotion an der Humboldt - Universität zu Berlin. Danach als wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Freien Universität Berlin und im Bundestag beschäftigt. Archiv
März 2024
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