Nach einer historischen Einordnung durch den Herausgeber beginnt das Tagebuch der damals 13-jährigen Wolfhilde von König, die zwischen 1939 und 1946 ein „Kriegstagebuch“ führte. Ein Tagebuch voller Pathos und Banalitäten einer in jungen Jahren Verführten, das wegen seiner Authentizität ein interessantes Zeitdokument ist. 630 Tagebucheinträge zeigen wie junge Menschen irregeführt und fanatisiert werden. Wolfhilde war begeistertes Mitglied beim Bund Deutscher Mädel, dem weiblichen Zweig der Hitlerjugend und später bei der NSDAP. Bis zum Schluss hatte die überzeugte Nationalsozialistin keine Zweifel an ihren Führer.
Kurz nach dem Krieg schrieb sie in ihr „Kriegstagebuch“: „Seit 3 Tagen ist Frieden in Europa. Frieden, wie Hohn klingt es in unseren Ohren. In Amerika und England läuten die Siegesglocken zu einem Sieg, der nach Churchills eigenen Worten nur durch die pausenlosen Luftangriffe auf die Zivilbevölkerung errungen werden konnte. Das ist kein Sieg für mich. Militärisch wären wir nicht geschlagen worden.“ Ob Wolfhilde von König ihren Überzeugungen nach dem Krieg treu geblieben ist, bleibt im Dunkeln. Sie machte in München Karriere als Ärztin und starb 1993 im Alter von 68 Jahren ohne Nachkommen zu hinterlassen. Politisch blieb sie unauffällig. Ihr Bruder, der nach einem Fulbright Stipendium seit Jahrzehnten in den USA lebte, erbte ihren Besitzstand. Nach dessen Tod wurde das Tagebuch von seinen ebenfalls in den USA lebenden Angehörigen entdeckt und dem Münchner Institut für Zeitgeschichte angeboten, wo es jetzt veröffentlicht wurde. Ernst Reuß Sven Keller (Hrsg.), Kriegstagebuch einer jungen Nationalsozialistin. Die Aufzeichnungen Wolfhilde von Königs 1939-1946, Schriftenreihe der Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte, Band: 111, Berlin 2015, 24,95 € „Wir sind so gern geneigt, einem anderen die Schuld zu geben und sie nicht bei uns selbst zu suchen ... Wir haben seinerzeit, als die Nazis an die Macht kamen, nichts getan, um es zu verhindern. Wir haben die eigenen Ideale verraten, das Ideal der persönlichen Freiheit, der demokratischen Freiheit, der religiösen. Der Arbeiter lief mit, die Kirche sah zu. Der Bürger war zu feige, ebenso die führenden geistigen Schichten. Wir ließen zu, dass die Gewerkschaften zerschlagen wurden, dass die Konfessionen unterdrückt wurden, es gab keine freie Meinungsäußerung in Fresse, Rundfunk. Zuletzt ließen wir uns in den Krieg treiben.“ (Tagebucheintrag vom 6. Juli 1943) „Ich sehe immer den Menschen vor mir“ ist der Titel der Biographie eines Mannes mit Skrupeln und zugleich das Buch einer großen Liebe. Ausgewertet wurden dafür die Briefe und Tagebücher von Wilm Hosenfeld, eines einstmals überzeugten Nazis, der - im Gegensatz zu vielen anderen – während des „Dritten Reiches“ menschlich geblieben war. Hosenfeld schrieb während seines Aufenthalts in Warschau zahlreiche Briefe an seine Frau und setzte sich in seinen Tagebüchern mit der deutschen Besatzungspolitik ausgesprochen kritisch auseinander. Der ehemalige Lehrer aus Hessen hatte im besetzten und später total zerstörten Warschau eine relativ einflussreiche Position in der deutschen Kommandantur inne. Erst vor einigen Jahren, erfuhr die Welt durch Roman Polanskis Film „Der Pianist“ von der Existenz dieses Hauptmanns der Wehrmacht, der unter anderem den polnisch-jüdischen Pianisten Wladislaw Szpilman rettete. „Ich versuche jeden zu retten, der zu retten ist“, hatte der christliche Wehrmachtsoffizier an seine Frau geschrieben. Er war angewidert vom Verhalten seiner Landsleute in Warschau und versuchte zu helfen wo es ihm möglich war. Sein eigenes Leben hingegen konnte er nicht retten. Nach der Gefangennahme durch die „Rote Armee“ glaubte ihm dort tragischerweise niemand seine Geschichte. Sieben Jahre nach Kriegsende starb er als verurteilter Kriegsverbrecher in sowjetischer Gefangenschaft. Nach mehreren Schlaganfällen wurde er nur 57 Jahre alt. Zuvor war er in Isolationshaft „strengen Verhören“ ausgesetzt gewesen, weil man ihm eine geheimdienstliche Tätigkeit während des Krieges vorwarf. Trotz der Fürsprache von ihm Geretteter wurde Hosenfeld nicht entlassen. Die Jerusalemer Holocaustgedenkstätte Yad Vashem ernannte Hosenfeld Ende 2008 postum zum Gerechten unter den Völkern. Vorausgegangen waren intensive Recherchen, die sicherstellten, dass Hosenfeld in keine Kriegsverbrechen verwickelt gewesen war. Flüssig und nachvollziehbar geschrieben. Lesenswert! Ernst Reuß Hermann Vinke: „Ich sehe immer den Menschen vor mir“: Das Leben des deutschen Offiziers Wilm Hosenfeld. Biographie. Arche, Zürich 2015, 22,99 €.
Der ehemalige Bundestagsabgeordnete und jetzige Pfarrer Ulrich Kasparick hat ein kleines Buch geschrieben, in dem er mit sehr viel Empathie das wahre Schicksal einer jüdischen Familie im Dritten Reich beschreibt. Es handelt sich um die Familie Jacoby aus dem kleinen Dorf Hetzdorf in der Uckermark. Eine im Ort seit Langem ansässige Familie, an die sich kaum jemand mehr erinnert.
Der Dorfladen der Jacobys wurde „arisiert“, die Kinder durften nicht mehr mit Ariern in die Dorfschule gehen und zum Schluss wurde die ganze Familie ermordet: Eltern, Geschwister, Kinder und das gerade frisch geborene Enkelkind. Nach dem Krieg wollte es keiner gewesen sein und man vergaß die Familie. Ihr Geschäft wurde von den neuen Eigentümern noch bis 1983 weiterbetrieben. Das Buch entlarvt diejenigen, die angeblich nichts davon gewusst haben wollen. Kasparick gedenkt und ehrt mit diesem kleinen Buch, das wahrscheinlich nur viel zu wenige lesen werden, eine deutsche Familie jüdischen Glaubens. Er tut das auf eine sehr berührende Weise, und zeigt, wie es möglich wurde, dass so etwas geschehen konnte. Dass dies auch heute noch nicht gern gehört wird, zeigt die Tatsache, dass ihm vorgeworfen wird, „einen braunen Kübel auf das Dorf zu werfen“. 1934 war der Kriegsteilnehmer und Träger des Eisernen Kreuzes, der Ladeninhaber Paul Jacoby noch Schützenkönig im Dorf. Nur ein paar Jahre später wollten ihm Dorfbewohner das Haus abfackeln. Betrunkene Horden standen vor der Wohnung ihres ehemaligen Schützenkönigs. Juden waren nun nicht mehr wohlgelitten. Gerade diese Passage erinnert sehr an momentane Pogromstimmungen in vor allem ländlichen Gemeinden. Erschreckend, wie schnell sich die Stimmung hin zum Massenmord ändern kann. Der Titel des Buches bezeichnet den Stein, den Thea, die Tochter der Familie Jacoby, ihrer Freundin beim Abschied schenkte und die später in ihren Erinnerungen schrieb: „Meine beste Freundin war Thea Jakoby, eine Jüdin! Ich sehe uns noch am 1. Schultag Hand in Hand zur Schule gehen. Unsere Mütter schauten uns hinterher. Theas Eltern wohnten uns gegenüber. Sie hatten einen Kolonialwarenladen. Leider war unsere gemeinsame Schulzeit nur kurz. 1938 wurde der Laden mit Gewalt geschlossen! Onkel Paul, der Vater zunächst inhaftiert, das Haus beschlagnahmt. Es war ein furchtbares Geschehen, lebte diese Familie doch schon seit Jahrzehnten in unserem Dorf. Tagtäglich ging ich von klein auf zum Spielen zu Thea. (…) Später wurden alle im KZ vergast: Onkel Paul mit Tante Erna und seiner Schwester Rosa, die Kinder: Ruth, Herbert und Thea. Ruth war schon verheiratet, hatte ein Kind. Sie wurde sogar aus dem Krankenhaus geholt kurz nach der Entbindung.“ Ein ergreifendes, lebendiges und bewegendes Buch. Eine Mahnung für diejenigen, die meinen, das könnte nie mehr geschehen. Unbedingt lesenswert! Ernst Reuß Ulrich Kasparick, Theas Stein, 10 Kapitel über die Familie Jacoby, Eine Familiengeschichte aus der Uckermark, Milow 2015, broschiert, 106 Seiten 9,90 €.
„Schicksalsorte der Deutschen“ heißt der im Palm Verlag herausgegebene Bildband.
Von der Antike bis zum 21. Jahrhundert wird - anhand von 55 Orten - versucht die Meilensteine der deutschen Vergangenheit zu skizzieren. Es beginnt an der Porta Nigra in Trier und endet beim EZB-Gebäude in Frankfurt. Nicht alle Orte liegen in Deutschland. Beispielsweise sind auch Canossa, Rapallo, Kundus oder Fukushima für die Autoren wichtige Wegmarken der deutschen Geschichte. Ein schön bebildertes Nachschlagewerk und möglicherweise gleichzeitig ein „Reiseführer“ zu ausgewählten Brennpunkten deutscher Historie, auch wenn die Auswahl der Orte mitunter überrascht. Ob damit allerdings „eine Lücke in der Geschichtsschreibung“ gefüllt wird, wie es im Vorwort ambitioniert heißt, mag angezweifelt werden. Ernst Reuß Brigitte Beier, Beatrix Gehlhoff, Ernst Christian Schütt, Schicksalsorte der Deutschen, 55 Orte, die Geschichte machen, 240 Seiten, 21 x 28 cm, ca. 200 Abbildungen, Hardcover, 24,95 €.
Ein interessantes Bild der Nachkriegszeit zeigt Traudl Kupfer in ihrem Buch „Leben in Trümmern. Alltag in Berlin 1945“. Dazu wurden Zeitzeugen befragt und deren Erinnerungen an das Jahr 1945 aufgeschrieben. In 50 kurzen Geschichten werden Schicksale verschiedener Menschen geschildert, darunter Zwangsarbeiter, untergetauchte Juden, stramme Nazis und „Otto Normalverbraucher“. Wilhelm Furtwängler gab in der Agonie des „Dritten Reiches“ noch täglich Konzerte, während die Hauptstädter im Bombenhagel ihr nacktes Leben zu retten versuchten. Auch nach Ende des Krieges war an Normalität in der zertrümmerten Stadt nicht zu denken, obwohl sich die Rote Armee durchaus Mühe gab. Bereits am 28. April 1945 gab der Militärkommandant der Stadt Berlin, Generaloberst Bersarin, mit dem Befehl Nr. 1 bekannt, dass die gesamte administrative und politische Macht in Berlin auf ihn übergegangen sei. Erst vier Tage später, am 2. Mai 1945, wurde, durch den letzten deutschen Kampfkommandanten für Berlin, die Kapitulationsurkunde für die deutsche Hauptstadt unterzeichnet.
Ernst Reuß Traudl Kupfer: Leben in Trümmern. Alltag in Berlin 1945. Elsengold Verlag. 256 S., geb., 29,95 €. |
AutorErnst Reuß, geboren 1962 in Franken. Studium der Rechtswissenschaften in Erlangen und Wien. Promotion an der Humboldt - Universität zu Berlin. Danach als wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Freien Universität Berlin und im Bundestag beschäftigt. Archiv
März 2024
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