Heinrich Himmler ordnete im April 1940 den Bau eines Konzentrationslagers in Oswiecim, auf Deutsch Auschwitz, an. Die SS errichtete das Stammlager in den Gebäuden einer ehemaligen polnischen Kaserne. Schon im Mai 1940 trafen die ersten KZ-Häftlinge im Lager ein. Die Lage war verkehrstechnisch günstig gewählt worden. Der Bahnanschluss vereinfachte die rasche Deportation von Juden aus vielen Gebieten Europas in das nicht weit von Krakau und Kattowitz entfernte Auschwitz. In der dünn besiedelten Umgebung konnten weitgehend unter Ausschluss der Öffentlichkeit schlimmste Verbrechen begangen werden. Die dorthin Deportierten wurden für drei bis sechs Reichsmark pro Zehnstundentag an deutsche Unternehmen als Arbeitssklaven vermietet. Nicht nur die I.G. Farben, sondern auch andere deutsche Firmen, die Wehrmacht und das Rüstungsministerium Albert Speers profitierten davon. Anfangs als Arbeits- und Gefangenenlager gedacht, wurde es spätestens nach der Wannseekonferenz zu einem Vernichtungslager, das zum Synonym für die Judenvernichtung durch die Deutschen und ihre Helfer geworden ist.
Bald nach Errichtung des Stammlagers reichten die Kapazitäten nicht mehr aus. Bereits im März 1941 ordnete Himmler eine Vergrößerung des Lagers nahe dem benachbarten Dorf Brzezinka, auf Deutsch Birkenau, an. Die Kapazität des Lagers war auf 200 000 Menschen ausgelegt. Dort sollte die industrielle Vernichtung von Juden erfolgen. Zudem wurde auf Initiative und Kosten der I.G. Farben AG das Lager Auschwitz–Monowitz errichtet, wo Zwangsarbeit verrichtet werden musste. Es war das größte von insgesamt etwa 50 Außenlagern. In Auschwitz und Birkenau wurde selektiert. Alte, Kranke, Schwache und Kinder wurden in der Regel sofort nach ihrer Ankunft vergast, arbeitsfähige Männer und Frauen erst einmal unter menschenunwürdigsten Bedingungen versklavt. Registriert und mit Nummern versehen wurden nur diejenigen, die bei der Selektion nicht zur sofortigen Vernichtung bestimmt wurden. Hatte man die Selektion überlebt, konnte schon der nächste Tag der letzte sein. In Auschwitz wurden 1,1 bis 1,5 Millionen. Menschen von der SS ermordet. Darunter waren mindestens 1 Millionen Juden, bis zu 75 000 Polen, 21 000 Sinti und Roma, circa 15 000 sowjetische Kriegsgefangene und an die 15 000 Menschen, die keiner dieser Kategorien zugeordnet werden können. Am 27. Januar 1945 befreite die Rote Armee die Lager. Der Jahrestag der Befreiung des KZ Auschwitz ist seit 1996 in Deutschland, seit 2005 international der Tag des Gedenkens an die Opfer des Nationalsozialismus. Jüngst sind daher zwei Augenzeugenberichte erschienen, von Überlebenden, die damals noch Kinder waren. Eine davon war Rachel Hanan. Sie schreibt: „Ich war ein Teenager, noch ein halbes Kind, als ich an meinem 15. Geburtstag in Auschwitz ankam. Ziemlich genau ein Jahr später, eine Woche vor meinem 16. Geburtstag, wurde ich im Konzentrationslager Theresienstadt aus der Gefangenschaft der Nationalsozialisten befreit.“ Rachel Hanan überlebte als Teenager vier Konzentrationslager, bevor sie am 9. Mai 1945 von der Roten Armee in Theresienstadt befreit wurde. Vorher war sie in Auschwitz, wo sie den überaus freundlichen Dr. Mengele kennenlernte, der im Gegensatz zu den brüllenden Soldaten, mit denen sie tagtäglich konfrontiert wurde, immer mit freundlicher Miene und ohne weitere Regung über Tod oder Leben entschied. Danach war sie in Bergen Belsen und in Duderstadt, einem Außenlager von Buchenwald. Rachel stammte aus Unterwischau, einer Gemeinde im Norden Rumäniens. Ungarn hatte 1940 mit Hilfe Hitlers einen Teil von Siebenbürgen okkupiert, die Juden entrechtet und später deportiert. 1947 wanderte Rachel nach Israel aus und arbeitete dort als Sozialarbeiterin. Die andere - Tova Friedman - ist gerade einmal fünf Jahre alt, als sie mit ihrer Mutter nach der vorherigen Ghettoisierung und dem Aufenthalt in einem Arbeitslager in das Vernichtungslager Auschwitz Birkenau deportiert wird. Sie schreibt: „Ich habe überlebt. Damit einher geht die Verpflichtung gegenüber den anderthalb Millionen jüdischen Kindern, die von den Nazis ermordet wurden. Sie können nicht mehr sprechen. Also spreche ich für sie.“ Tova Friedman gehörte zu Beginn des Zweiten Weltkriegs zu den 50 000 jüdischen Kindern der polnischen Stadt Tomaszow Mazowiecki. Nur fünf davon überlebten die Nazizeit. Sie hatten unsagbares Leid zu überstehen. Tova kehrte mit ihre Mutter an ihren Wohnort zurück, wo sie den polnischen Antisemitismus erlebte. Eine Tante wurde von antisemitischen Banden getötet. Über die Station Berlin, Landsberg am Lech und Israel ging Tova Friedman in die USA und arbeitete dort als Psychotherapeutin. Sie schreibt in ihrem Vorwort: „Wenn Sie jetzt weiterlesen, möchte ich, dass Sie schmecken, fühlen und riechen, wie es war, als Kind während des Holocaust zu leben. (...) Ich hoffe, Sie werden wütend. Denn wenn Sie wütend sind, besteht die Möglichkeit, dass Sie Ihre Empörung mit anderen teilen, und das erhöht wiederum die Chancen, einen weiteren Völkermord zu verhindern.“ Ihre Erzählungen wurden aufgeschrieben von einem freien BBC Journalisten, der das alltägliche Grauen plastisch beschreibt, so dass man mit etwas Empathie nur schaudern und wütend werden kann. Schrecklich was den Menschen angetan wurde und trotzdem muss man es immer wieder lesen, um das ganze Ausmaß des Schreckens verstehen zu können. Antisemitismus ist wieder auf dem Vormarsch und das obwohl der Holocaust erst ein paar Jahrzehnte zurückliegt. Die Erinnerung daran muss wach bleiben. Nie wieder! Ernst Reuß Rachel Hanan, Thilo Komma-Pöllath, Ich habe Wut und Hass besiegt«, Was mich Auschwitz über den Wert der Liebe gelehrt hat, München 2023, 288 Seiten, 20,00 € Tova Friedmann und Malcom Brabant, Ich war das Mädchen aus Auschwitz, 352 Seiten, übersetzt von Ulrike Strerath-Bolz, München 2023, 18,00 € Susanne Willems: „Auschwitz“. Die Geschichte des Vernichtungslagers. Edition Ost, Berlin 2015, 256 Seiten, 29,99 Euro.
„Eine Jugend in Deutschland“ ist die Autobiographie eines Mannes und ein sehr spannendes Stück deutscher Geschichte.
Als Freiwilliger zieht Ernst Toller begeistert in den Ersten Weltkrieg und kehrt - wie so viele andere auch - als bekennender Pazifist zurück. Toller stürzt sich in die politische und künstlerische Arbeit. Er lernt unter anderen Max Weber, Thomas Mann sowie Rainer Maria Rilke kennen und schließt sich einer Gruppe von linken Kriegsgegnern in München an, zu denen Erich Mühsam, Oskar Maria Graf und Kurt Eisner gehören. Im November 1918 wird er in München einer der Anführer der nur kurz existierenden Münchner Räterepublik, die er zusammen mit Erich Mühsam und Kurt Landauer gegründet hatte. Der 1893 geborene Ernst Toller war nach der Ermordung Kurt Eisners auch zeitweiliger Vorsitzender der bayerischen USPD. Nach der Niederschlagung der Räterepublik wurde er im Juni 1919 verhaftet und wegen Hochverrats angeklagt. Er entging mit dem einen Monat später gefällten Urteil knapp der drohenden Todesstrafe und wird zu fünf Jahren Festungshaft verurteilt. Als er am 15. Juli 1924 das Gefängnis lebend verlässt - was nicht jedem seiner Genossen gelingt - ist Ernst Toller auch aufgrund seiner literarischen Erfolge eine nationale Berühmtheit. Toller verbüßte den größten Teil seiner Haftzeit im Gefängnis Niederschönenfeld. Er nutzte die langjährige Haft sehr produktiv, wobei es nicht immer einfach war seine Bücher aus dem Gefängnis herauszubekommen. Während und nach seiner Gefängniszeit wurde er als Schriftsteller in der Weimarer Republik und durch die vielen Übersetzungen auch international sehr bekannt. Mit seiner Geschichtsrevue „Hoppla, wir leben!“ eröffnete 1927 die Piscator-Bühne im Berliner „Theater am Nollendorfplatz“, die zum Inbegriff des Avantgardetheaters der 1920er Jahre wurde. „Ich bin dreißig Jahre. Mein Haar wird grau. Ich bin nicht müde.“, schreibt er am Ende der Haft. Doch nicht lange danach ist er müde. Sechs Jahre nach Hitlers Machtergreifung erhängte er sich nach schweren Depressionen im Alter von 45 Jahren in New York in einem Zimmer des Mayflower Hotels am Central Park. Einen Strick hatte er schon in den Jahren zuvor bei seinen Reisen immer dabei. „Eine Jugend in Deutschland“ wurde gerade in der „Anderen Bibliothek“ neu aufgelegt. Seit 1985 gibt es „die Andere Bibliothek“. Dort gibt es zwölf limitierte und besondere Bücher im Jahr. Ein Buch pro Monat, auf dessen Herstellung und Ausstattung die höchste Sorgfalt verwendet wird. Ediert und erläutert wird Tollers Autobiographie von Ernst Piper. Im Buch sind zahlreiche historische Abbildungen, Faksimiles und Dokumente. Nach 1933 war der jüdischstämmige Toller aus Deutschland ausgebürgert worden. Er galt als „Volksverräter“. Ähnlich denkende und in deutschen Parlamenten sitzende Politiker wollen das nach ihrer Machtübernahme auch jetzt wieder tun. Nach mehreren Exilstationen kam er 1937 in die USA. Er muss angesichts der Erfolge der Nazis vor seinem Suizid sehr verzweifelt gewesen sein. Vor denen hatte er bereits in den 1920er Jahren gewarnt. In dem Buch heißt es: „Um den Mann Adolf Hitler scharen sich unzufriedene Kleinbürger, frühere Offiziere, antisemitische Studenten und entlassene Beamte. Sein Programm ist primitiv und einfältig. Die Marxisten und die Juden sind die inneren Feinde und an allem Unglück schuld, sie haben das unbesiegte Deutschland hinterrücks gemeuchelt und dann dem Volk eingeredet, Deutschland hätte den Krieg verloren.“ „Eine Jugend in Deutschland“ ist nicht nur wegen der schönen Prosa gerade heute wieder ausgesprochen lesens- und bedenkenswert! Die bibliophile Ausgabe seines Buches schmückt zudem jede Bibliothek. Ernst Reuß Ernst Toller, Eine Jugend in Deutschland, Aufbau Verlag, Die Andere Bibliothek, Band 469, Herausgeber Ernst Piper, Berlin 2024, 348 Seiten, 48 €.
Wer immer noch nicht den Unterschied zwischen einer antisemitische Pogrome veranstaltenden Mörderbande und einer Freiheitsbewegung gegen ein Apartheidsregime erkennt, sollte dieses Buch lesen. Letztes Jahr auf englisch erschienen, nun für die Edition Tiamat aus Berlin auf Deutsch übersetzt. Das Buch erschien vor dem 7. Oktober und wirkt wie eine Prophezeiung auf das was danach geschah.
Mit dem Buch „Israelphobie. Die unendliche Geschichte von Hass und Dämonisierung“ bemüht sich der englische Journalist Jake Wallis Simons zu erklären, warum bei Eskalationen im Nahost-Konflikt regelmäßig der Hass auf Israel aufblüht, so wie zuletzt nach dem Pogrom vom 7. Oktober 2023. Er bezeichnet dieses immer wieder auftretende Phänomen als „Israelphobie“, die auch in linken Kreisen vorherrscht, seitdem vor vielen Jahren das Tragen eines Palästinensertuches zum modischen Accessoire von linken Jugendlichen geworden ist. Israel bleibt ein Feindbild, nicht nur für muslimische Jugendliche. Simons schreibt: „Die palästinensische Sache ist zu einem ideologischen Totem für den revolutionären Instinkt der Linken (....) geworden“. Die einschlägigen Schlagworten lauten: „Apartheid“, „Rassismus“, „Völkermord“. Im Buch dargestellt sind unzählige Beispiele von Denunziationen Israels. Im Mittelalter wurden die Juden wegen ihrer Religion gehasst, später dann wegen ihrer „Rasse“. Heute wird Israel als „Apartheidstaat“ gehasst. Jake Wallis Simons nennt das „Israelphobie“ und geht der Frage nach, warum die einzige Demokratie im Nahen Osten, die die Rechte von Frauen und sexuellen und religiösen Minderheiten achtet, so unverhältnismäßig viel Hass auf sich zieht. Dabei werden Fakenews verbreitet und weitaus schlimmere Auswüchse in anderen Ländern verschwiegen oder die schlechte Behandlung von Palästinensern in muslimischen Ländern nicht thematisiert. Vielfach werden die Propagandameldungen aus vergangen Nazi- und Sowjetzeiten einfach nachgeplappert. „Israelphobie ist die neueste Version des ältesten Hasses“, schreibt Simons, der die Dämonisierung Israels mit diesem Buch entlarven will. Ernst Reuß Jake Wallis Simons, Israelphobie. Die unendliche Geschichte von Hass und Dämonisierung, Berlin 2023 (Edition Tiamat), 238 S., 24 €.
Natascha Wodin gelingt das, was Autoren von historischen Sachbüchern oft nicht gelingt. Sie kleidet die Welt des letzten Jahrhunderts mit ihren katastrophalen Verwerfungen und den Auswirkungen auf die Familien in wunderbare Prosa, so dass man das Buch in einem Rutsch durchlesen kann, ohne es aus der Hand zu legen.
Das beweist sie auch in ihrer neuen, autobiografisch anmutenden Sammlung von fünf Erzählungen, die zum Teil schon in anderen Büchern erschienen sind und von ihr überarbeitet wurden. Das Schreiben ist für Wodin Aufarbeitung, was auch in diesem glänzend erzählten Buch deutlich wird. Ein leicht zu lesendes, aber kein leichtes Buch ohne Happy End, das tief in die Seele der Autorin blicken lässt. Die Titelgeschichte „Der Fluss und das Meer“ kommt vom kleinen Fluss Regnitz in Forchheim, in dem die Mutter Suizid beging, zum Asowschen Meer ihrer Heimatstadt Mariupol. Dann beobachtet und beschreibt sie eine verwahrloste Frau aus der Nachkriegszeit, deren gut situierte, sich von ihr gestört fühlende, Nachbarschaft sie wissentlich zugrunde gehen lässt und für deren Tod sich die Erzählerin auch persönlich verantwortlich fühlt. Danach erzählt Wodin von einem Mann, der in einer geschlossenen Anstalt dahinvegetiert und zu dem sie eine platonische aber unerfüllte postalische Liebesbeziehung pflegt. Eine Reise nach Sri Lanka wird für sie eher katastrophal. Zuletzt berichtet sie von einer Angststörung, die eines Tages scheinbar grundlos kam und sie über Jahrzehnte hinweg kaum noch ihre jeweilige Wohnung verlassen lässt. All die Figuren in ihren Geschichten nehmen ihren Ursprung in der eigenen Lebensgeschichte Natascha Wodins, die als Kind russisch-ukrainischer „Ostarbeiter“ in der BRD aufwuchs. Für ihr erfolgreichstes Buch mit dem Titel „Sie kam aus Mariupol“ wurde Natascha Wodin zu Recht schon 2017 mit dem Preis der Leipziger Buchmesse für Belletristik ausgezeichnet. In der auf Tatsachen beruhenden Erzählung geht es vordergründig um das Leben ihrer ukrainischen Mutter, die aus der Hafenstadt Mariupol stammte und mit ihrem Mann 1943 als „Ostarbeiterin“ nach Deutschland kamen. Ihre Mutter, die als junges Mädchen den Niedergang ihrer Familie im Bürgerkrieg und anschließendem Terror miterlebte, beging 1956 mit 36 Jahren Selbstmord, als die Tochter gerade einmal zehn Jahre alt war. Eine dramatische Familiengeschichte in Zeiten von Revolution, Hunger, Krieg, Gulag, Selbstmorden, Mord und dem Leben als „Heimatloser Ausländer“ in der fränkischen Provinz. Die wechselvolle Geschichte ihrer Familie ist sowohl ein Familiendrama als auch eine Flüchtlingsgeschichte aus dem letzten blutigen und sehr ereignisreichen europäischen Jahrhundert. Mit Hilfe eines computeraffinen Hobbyhistorikers aus Russland rekonstruiert sie die Herkunft ihrer Mutter. Die Geschichte dieser im ersten Teil des Buches aufgeschriebenen Recherche liest sich wie ein Krimi. Der zweite Teil des Buches verdankt sie den dadurch entdeckten Aufzeichnungen ihrer nicht mehr lebenden Tante. Er führt aus deren Perspektive vom vorrevolutionären Russland einer zu großem Vermögen gekommenen italienischstämmigen und adligen Familie, zu stalinistischen Terror und furchtbaren Hungersnöten. Ihre 1920 geborene Mutter hatte die einstmalige Pracht nie erlebt und daher auch nie thematisiert. Deren Leben begann im revolutionären Chaos und stolperte von einer Katastrophe in die nächste. Ihre bürgerliche Herkunft war in der Ukraine lediglich eine Bürde und war für sie kein Grund in der Vergangenheit zu schwelgen. Der dritte Teil des Buches erzählt den Werdegang der Mutter, die trotz ihrer bürgerlichen Herkunft studieren konnte und nach dem Einmarsch der Wehrmacht eine Anstellung beim deutschen „Arbeitsamt“ fand, der Vermittlungsstelle für Zwangsarbeiter. Möglicherweise war diese Form von Kollaboration auch ein Grund ihres Exils in Deutschland und im Gegensatz zu vielen anderen Ostarbeitern keine Verschleppung. Wodin wurde in einem Arbeitslager des Flick-Konzerns gezeugt und kam 1945 auf die Welt. Der vierte und letzte Teil des Buches erzählt von der Nachkriegszeit. Im Schuppen einer Eisenwarenfabrik in Nürnberg wächst die rebellische Tochter schließlich in ärmlichsten und schwierigen Verhältnissen auf. In ihrem Elternhaus mit einem gewalttätigen Vater und einer depressiven Mutter herrschen chaotische Verhältnisse, ansonsten wird geschwiegen. Wodins Mutter trauerte ihren engsten Familienangehörigen nach, die sie alle zu verloren haben scheint. Erst ihre Tochter findet nun wieder die Spuren dieser Familie und stellte dabei fest, dass man - ohne voneinander auch nur zu ahnen - sich nach dem Krieg an Orten befand, die nicht allzu weit entfernt waren. Die Nachkriegszeit und der beginnende Kalten Krieg ließen jedoch kein Wiedersehen zu. Ernst Reuß Natascha Wodin, Der Fluss und das Meer, Erzählungen, Rowohlt Verlag, Hamburg 2023, 192 Seiten, 22 Euro. Natascha Wodin, Sie kam aus Mariupol, Roman, Rowohlt Verlag, Hamburg 2017, 364 Seiten, 19,95 Euro.
Mordende Frauen sind eher die Ausnahme. Tötungsverbrechen begehen sie vor allem durch die Verabreichung von Gift. Eine Frau, die Männer erdrosselt, ist schon angesichts der Kräfteverhältnisse eine Rarität. Aber auch das gab es, wenn man dem Gericht glauben darf. Zumindest in diesem Fall unmittelbar nach dem Krieg, der auch mit der sich zum 75 mal jährenden Währungsreform in Berlin zu tun hat.
Wegen der Kräfteverhältnisse bestanden aber auch erhebliche Zweifel an Elisabeth Kusians Geständnis. Man vermutete einen männlichen Mittäter. Sogar eine Wahrsagerin mischte sich ein, die „vor ihrem inneren Auge“ einen männlichen Täter gesehen haben will. Daraufhin widerrief Kusian ihr Geständnis und beschuldigte ihren Ex-Mann, die ihr zur Last gelegten Morde aus Eifersucht verübt zu haben. Sie habe ihm nur bei der Beseitigung der Leiche geholfen. Kusians Ex-Mann, mit dem sie auch nach der Scheidung noch eine intime Beziehung unterhielt, wurde zwar verdächtigt, aber nach kurzer Haft als entlastet auf freien Fuß gesetzt. Er war allerdings nicht der einzige Verdächtige. Kusian pflegte mehrere Beziehungen. Auch ihr neuester Liebhaber stand unter Mordverdacht. Kusians Ex-Mann Walter wusste von ihren Liebhabern, diese aber nicht von ihm. Mitunter musste Walter sich selbst als Elisabeths Schwager ausgeben, wenn er sie zufällig mit einem ihrer Geliebten traf. Selbst seine eigenen Kinder wurden dann dazu angehalten, „Onkel Walter“ zu ihm zu sagen. Kusians neue große Liebe war Kriminalsekretär Muschan, angeblich ein glücklich verheirateter Vater von drei Kindern. Um seine Familienverhältnisse mit eigenen Augen zu begutachten, hatte Elisabeth, als Weihnachtsmann verkleidet, die überraschte Familie Muschan vor ihrem Weihnachtsbaum besucht. Ziemlich übergriffig, aber offenbar schöpfte Muschans Ehefrau keinen Verdacht. Kusian hatte ihrem neuen Freund erzählt, ihr Mann, ein Oberarzt, sei verstorben. Dem wiederum hatte sie vor der Ehe anvertraut, sie sei Offizierstochter. Alles erfunden. Ihre eigene Mutter machte Kusian zu einer ungarischen Gräfin, und sie entwarf Todesanzeigen hochrangiger Personen, bei denen sie selbst als stud. med. unter den Hinterbliebenen auftauchte. Elisabeth Kusian dachte sich immer wieder neue Lügengespinste für ihre verworrenen Verhältnisse und Hochstapeleien aus. Ihr Ex-Mann hielt trotzdem immer zu ihr. Der Fall, der ohne die Währungsreform und ohne die Zuständigkeitsproblematiken der geteilten Polizei wohl anders verlaufen wäre, war jedenfalls nicht nur in Berlin eine Sensation. Er fand in der östlichen und westlichen Presselandschaft, aber auch im Ausland reichlich Resonanz. Der Telegraf titelte am 15. Januar 1951: „Lügen, Morphium, Liebe, Mord ...“ Elisabeth wurde am 8. Mai 1914 kurz vor Beginn des Ersten Weltkriegs in dem kleinen Dorf Bornshain in Thüringen als jüngstes von sechs Geschwistern geboren. Sie durchlebte ihre Kindheit und Jugend in Armut, denn der Vater, der als Melker („Oberschweizer“) auf einem Gut sein Auskommen fand, starb 1915 im Krieg, und die Mutter musste die sechs Kinder alleine großziehen. 1936 heiratete sie einen überzeugten Nationalsozialisten, den damals als Wärter einer „Irrenanstalt“ tätigen Walter Kusian, und bekam mit ihm drei Kinder. Er war bereits 1926 in die NSDAP eingetreten und als „alter Kämpfer“ für einen Karrieresprung prädestiniert. Die Familie lebte daher inzwischen in Berlin am Gesundbrunnen. Ihr Mann, der nach der NS-Machtübernahme im Goebbels’schen Propagandaministerium arbeitete, schlug sie und die Kinder. Elisabeth war unglücklich und brachte das immer wieder mit Ohnmachtsanfällen und mehr oder weniger ernst gemeinten Selbstmordversuchen zum Ausdruck. Im Prozess hieß es: „Die Angeschuldigte ist eine psychopathische Persönlichkeit mit einer disharmonischen Charakteranlage und ausgesprochen hysterischen Zügen.“ Ein Sachverständiger, der sie für das Gericht begutachtete, schrieb: „Ein besonders wichtiger Bestandteil ihrer psychopathischen Charakteranlagen ist ihre ungewöhnliche Unaufrichtigkeit und psychopathische Lügenhaftigkeit, die (...) in den letzten Jahren geradezu einen pseudologistischen Charakter angenommen haben und von ihr auch nach Entdeckung ihrer Straftaten in geradezu sinnloser Weise beibehalten worden sind, so daß sich ihre Vernehmungen und auch die ärztlichen Untersuchungen zum Teil außerordentlich schwierig gestaltet haben.“ Nachdem ihr Mann zum Kriegsdienst eingezogen worden war, ging sie fremd und gab seine ganzen Ersparnisse innerhalb kürzester Zeit aus. Vorher hatte er sie ziemlich kurz gehalten. Sie verliebte sich 1942 in einen „Untermusikmeister der Luftwaffe“ und bat um die Scheidung, aber ihr Ehemann willigte nicht ein. Er war - wie auch später - stets bereit seiner Ehefrau das Fremdgehen zu verzeihen, „weil er sie bis auf den heutigen Tag liebt.“ - so das Gericht. Gerne stapelte die junge Frau auch in jener Zeit hoch und gab sich bei ihren Ausflügen ins Berliner Nachtleben als ungarische Gräfin, Medizinstudentin oder Malerin aus. Sie schrieb sogar Briefe an sich selbst, um ihr Lügengespinst aufrechtzuerhalten. Kusian ging viel aus und feierte in ihrer Wohnung ausufernde Feste, als ob es kein Morgen gäbe. Missgünstige und neugierige Nachbarn sprachen sogar von Orgien. Als Krankenschwester arbeitete sie dennoch bis zum Kriegsende im Robert-Koch-Krankenhaus, wie das inzwischen geschlossene ehemalige Krankenhaus Moabit in der NS-Zeit genannt wurde. In den 1920er-Jahren war es bis zur Entlassung der jüdischen Ärzte die wichtigste Klinik Berlins nach der Charité gewesen. Die neu eingesetzten, parteinahen Ärzte konnten mit ihren Vorgängern keineswegs mithalten, und die Sterblichkeitsrate im Krankenhaus soll dramatisch angestiegen sein. Nun erfolgten auch dort Zwangssterilisationen an Alkoholikern oder an „verhaltensauffälligen Frauen“. Elisabeth Kusian erlitt kurz vor Kriegsende eine Schussverletzung am Unterschenkel. Sie besorgte sich Morphium, um die Schmerzen zu lindern. Pervitin wiederum nahm sie ein, um sich aufzuputschen. Vor ihren Taten will sie sich jeweils etwas gespritzt haben, galt aber als schuldfähig. 1947 ließ sich Elisabeth Kusian dann doch scheiden, die Kinder brachte sie ins Heim. Sie selbst suchte wegen dauernden Geldmangels Kontakt mit der Unterwelt. Sie freundete sich mit einem Mitglied einer Einbrecherbande an, und als der in den Knast kam, wechselte sie die Seiten und verliebte sich in den West-Berliner Kriminalsekretär Kurt Muschan. Sie überhäufte ihren neuen Partner trotz ihrer ständigen Geldsorgen mit Geschenken. Ende 1949 wurde sie gekündigt, weil sie im Krankenhaus ständig Patienten anpumpte. Kusian wohnte in der Nähe des Bahnhofs Zoo in der Kantstraße 154a in Berlin-Charlottenburg. Dort gab es einen großen Schwarzmarkt, und man konnte nach der Währungsreform Geld tauschen. Elisabeth machte sich dies zunutze und fand ihr erstes Opfer. Mit ihrer vertrauenswürdigen Krankenschwesteruniform machte die durchaus ansehnliche Frau Eindruck auf den Schausteller Hermann Seidelmann aus Plauen, der im Herbst 1949 zur Beerdigung seiner Mutter nach Berlin gekommen war und am Bahnhof Zoo Geld zu tauschen versuchte. Er folgte Elisabeth ahnungslos in deren Wohnung, die ja ums Eck lag. Dort tauschte er Geld und trank mit ihr fröhlich plaudernd Kaffee. Vielleicht erhoffte er noch mehr von ihr, war aber sicherlich vollkommen arglos, als Elisabeth eine Wäscheleine holte, ihm diese von hinten über den Kopf warf und ihn damit erwürgte. Am nächsten Tag hatte er die Rückfahrt nach Plauen geplant. Im Urteil wurde die Tat so beschrieben: „Er setzte sich auf Stuhl oder Couch, und sie wechselten einen Betrag von etwa 100 DM-Ost gegen den entsprechenden Westbetrag. (..) Seidelmann (...) blätterte in illustrierten Zeitschriften, welche in dem Zimmer lagen. Die Angeklagte hatte inzwischen für beide Kaffee gekocht und dabei Pervitin eingenommen. Das Radio spielte laut. Etwas später holte sie eine kurze Wäscheleine, welche sie gewöhnlich in dem Schubfach ihrer Frisiertoilette aufbewahrte und welche sie bereits vorher mit einer Schlaufe versehen und in die richtige Länge zugeschnitten hatte. Sie trat von hinten an Seidelmann heran, warf ihm die Leine über den Kopf und zog von hinten fest zu. Seidelmann sprang auf, stieß den vor ihm stehenden Tisch von sich, fiel hin und riß im Fallen einen Stuhl und die Angeklagte mit zu Boden. Die Angeklagte hielt hierbei den Strick fest in der Hand, ohne locker zu lassen, der Mann war inzwischen ohnmächtig geworden und sie verknotete nunmehr die Leine fest. Er lag rücklings mit den Füßen zur Tür auf dem Fußboden. Sie setzte sich in einen Sessel und wartete in Ruhe seinen Tod ab.“ Danach durchsuchte sie seine Klamotten und nahm sein Geld an sich. Zu ihrem Motiv sagte Kusian später aus: „Plötzlich fiel mir ein, daß ich sehr viel Schulden habe und es kam so über mich, daß ich das Geld dieses Mannes gebrauchen könnte.“ Das konnte der Unterschied zwischen Mord und Totschlag sein. Ihre Aussagen waren aber mit Vorsicht zu genießen. Im Vorführbericht hieß es: „Aus sichergestellten Effekten (...) auch aus den Zeugenaussagen geht einwandfrei hervor, daß es sich bei der Besch[uldigten] um eine notorische Lügnerin handelt, die in angeberischer Weise gegenüber ihren Mitmenschen über ihre Person und Verhältnisse ein regelrechtes Lügengebäude aufgebaut hatte.“ Im Umgang mit Seidelmanns Leiche stellte sich die Krankenschwester dann gar nicht dumm an. Sie zerstückelte sie dank ihrer chirurgischen Kenntnisse und machte sich die geteilte Stadt, wie so viele andere Verbrecher, zunutze. Sie legte die Leichenteile nachts auf Brachgrundstücken und in Ruinen in beiden Teilen der Stadt ab. Zuerst verteilte sie mit ihrem Rucksack die linke Hand sowie zwei Unter- und einen Oberschenkel. Am 5. Dezember 1949 wurden in einem Ruinengrundstück in der Borsigstraße Leichenteile gefunden. Vier Tage später wurde ein männlicher Torso in Charlottenburg und eine Woche später der Kopf und die restlichen Gliedmaßen in einer Ruine in der Nähe des Stettiner Bahnhofs gefunden. Seidelmann konnte trotzdem umgehend identifiziert werden. Sein Bruder hatte ihn bereits als vermisst gemeldet. Der Täter konnte vorerst nicht ermittelt werden. Doch das Geld, dass Kusian von ihm erbeutet hatte, reichte nicht lange. Sie hatte erhebliche Schulden, die auch ihrer Morphiumsucht geschuldet waren. Weihnachten stand vor der Tür, und ihre neue große Liebe, Kriminalsekretär Kurt Muschan, wünschte sich eine Erika Reiseschreibmaschine. Am zweiten Weihnachtsfeiertag 1949 lud sie die Verkäuferin Doris Merten in ihre Wohnung ein, die die Schreibmaschine vorbeibrachte und die vereinbarte Anzahlung von 50 DM abholen wollte. Kusian trank mit ihr harmlos plaudernd Kaffee dann erwürgte sie ihr Opfer von hinten mit der Wäscheleine. Das Opfer versteckte sie erst einmal unter ihrer Couch, weil ihr Liebhaber zu Besuch kommen wollte. Die Leiche zerstückelte sie erst in den nächsten Tagen und verteilte die Leichenteile am Anfang des neuen Jahres in der Stadt. Spielende Kinder fanden am 4. Januar 1950 gegen Mittag Körperteile in einer Ost-Berliner Hausruine in der Memhard- Ecke Prenzlauer Straße. Laut Ermittlungsakte handelte es sich „um eine 35–45 Jahre alt scheinende Frau von ca 1,60 bis 1,65 m Größe und untersetzter Statur. Kopf und Gliedmaßen waren vom Rumpf getrennt, sie lagen auf und neben demselben.“ Die Personalien des Opfers waren auch diesmal schnell ermittelt und auch die letzte Kundin der Verkäuferin – Elisabeth Kusian, die die Tat anfangs bestritt: Angeblich hatte Merten nur 15 Minuten bei ihr verbracht und dabei ihren Regenschirm vergessen. Komisch nur, dass bei Kusian später auch Kleidungsstücke von Merten aufgefunden wurden. Der Geschäftsinhaber und Mertens Schwester wussten von der Übergabe der Schreibmaschine. So musste Kusian erst im Westsektor aussagen und dann bei der Ost-Berliner Kripo, wo sie sich in Widersprüche verwickelte. Die Mordkommissionen arbeiteten ausnahmsweise zusammen, und man fand Spuren von beiden Opfern in ihrer Wohnung. Nach viertägiger Vernehmung gestand sie am 10. Januar 1950 überraschenderweise auch den Mord an Seidelmann. Zwei Tage später versuchte sie sich das Leben zu nehmen. Sie schnitt sich die Pulsadern auf, wurde aber gerettet. Ein Jahr später, im Februar 1951, wurde sie wieder nach West-Berlin überstellt und vor das Kriminalgericht Moabit gebracht wo sie nach sechs Verhandlungstagen wegen Mordes aus Habgier zu einer lebenslangen Haftstrafe verurteilt wurde. Glück, denn in Ost - Berlin galt noch die Todesstrafe und sie wäre möglicherweise unter der Guillotine gelandet. Sieben Jahre später starb die inzwischen 44-Jahre alte Frau in der Haft an Darmkrebs. Sie überlebte die letzte von vielen Operationen nicht, die sie seit nunmehr viereinhalb Jahren über sich hatte ergehen lassen müssen. Am 16. Juni 1958 verstarb sie um 11 Uhr 35 auf dem Operationstisch des Gefängniskrankenhauses. Ernst Reuß (vom Autor erschien 2022 das Buch „Endzeit und Neubeginn, Berliner Nachkriegsgeschichten“ im Metropol Verlag) |
AutorErnst Reuß, geboren 1962 in Franken. Studium der Rechtswissenschaften in Erlangen und Wien. Promotion an der Humboldt - Universität zu Berlin. Danach als wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Freien Universität Berlin und im Bundestag beschäftigt. Archiv
März 2024
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