Neutral-Moresnet, auf Deutsch Altenberg, ein 3,4 Quadratkilometer kleiner Landstrich in der Nähe von Aachen, fiel zwischen 1816 und 1919 als Niemandsland zwischen den Niederlanden und Preußen, das ab 1871 im Deutschen Reich aufging. Ab 1830 war Belgien der neue Nachbar von Moresnet, da es sich von den Niederlanden abgespalten hatte.
Die Bevölkerungsanzahl wuchs in dieser Zeit rasant um das 20fache, trotzdem gab es nie mehr als 5000 Einwohner. Während des Wiener Kongresses konnten sowohl Preußen als auch die Niederlande sich nicht einigen wem der Landstrich gehören sollte, weil ausgerechnet dort eine wirtschaftlich bedeutsame Zinkmine lag. Wegen Napoleons unerwarteter Flucht von der Insel Elba und seiner 100-tägigen Herrschaft, musste plötzlich alles sehr schnell gehen und die Verträge wurden unterzeichnet, wobei bei der Grenzziehung ein zu dicker Stift benutzt wurde. Moresnet war nun Niemandsland und wurde zu einem Eldorado für Schmuggler, Abenteurer sowie Steuer- und Kriegsdiensflüchtlinge, bis es im Ersten Weltkrieg von den Deutschen besetzt und danach dann Belgien zugeschlagen wurde. Mit dem Versailler Vertrag endete am 10. Januar 1920 offiziell die mehr als hundert Jahre dauernde kuriose Episode. In diesem Zeitraum entstand ein Zinkrausch, ähnlich dem des Goldrausches in Amerika. In Moresnet herrschte Männerüberschuss mit vielen Kneipen, illegalen Schnapsbrennereien, illegalem Glückspiel und ausufernder Prostitution. Zumindest das Glückspiel sollte in legale Bahnen gelenkt werden, aber der Versuch - wie das Vorbild Monaco - ein Casino zu eröffnen, scheiterte am Widerstand Preußens. Ein einziger Gendarm, der von der Zinkmine bezahlt wurde, musste für Recht und Ordnung sorgen. Ein unmögliches Unterfangen. Moresnet wurde zum Schlupfwinkel für alle möglichen Ganoven der angrenzenden Länder, denn ein Auslieferungsabkommen gab es nicht. Philip Dröge, ein niederländischer Autor von historischen Büchern, schreibt in seinem Vorwort: „Nichts in diesem Buch ist frei erfunden. Alle beschriebenen Ereignisse und Personen beruhen auf Briefen, Augenzeugenberichten, (Auto-)Biografien, Archivmaterial, Zeitungsartikeln und anderen Quellen.“ Entstanden ist eine unglaublich bizarre Geschichte, humorvoll erzählt und vergnüglich zu lesen. Wer mehr von dieser Skurrilität wissen will liest das Buch „Niemandsland. Die unglaubliche Geschichte von Moresnet, einem Ort, den es eigentlich gar nicht geben durfte“ und erfährt, welche Rolle die mit einem Lorbeerkranz und einem großen N verzierte portable Zinkbadewanne Napoleons spielte und warum Moresnet fast die Hauptstadt des Esperanto, mit eigener Staatssprache geworden wäre. Heute erinnern ein kleines Museum und ein kleines Denkmal an das Kuriosum. Die Grenzsteine wurden wieder eingesetzt, um den seltsamen Grenzverlauf auch heutzutage nachverfolgen zu können. Ernst Reuß Philip Dröge: „Niemandsland. Die unglaubliche Geschichte von Moresnet, einem Ort, den es eigentlich gar nicht geben durfte“ , 288 Seiten, Hardcover mit Schutzumschlag, München, 2017, 22,00 Euro
Geboren wurde sie 1921 als Ellen Pinkus in Berlin. Sie wuchs gut behütet in bürgerlichen Verhältnissen auf und war gerade mal achtzehn, als sie ohne ihre Eltern auf einem der letzten Passagierschiffe mit viel Glück vor den Nazis nach Argentinien entkam. Die meisten Staaten hatten ihre Grenzen für Juden schon dicht gemacht, auch Ellens Einreise stand auf der Kippe.
Eigentlich wollten ihre Eltern nachkommen, aber dazu kam es nicht mehr. Die Mutter wurde in Auschwitz ermordet, ihr Vater, ein ehemaliger Ledergroßhändler, war bereits vor der Deportation verstorben. Ellens »Familie« war in den Exiljahren ihre Pfadfindergruppe. Ihre erste Arbeitsstelle als Kindermädchen bei einer katholischen Familie verlor sie, als man erfuhr, dass sie Jüdin war. 1942 heiratete sie einen deutsch-jüdischen Emigranten namens Marx. Mit dem Pianisten bekam sie vier Kinder. Sie engagierte sich in der deutsch-jüdischen Gemeinde von Buenos Aires und leitete einen Kinderhort des jüdischen Hilfswerks. Sie bewegte sich fast ausschließlich im deutschen Emigrantenmilieu von Buenos Aires, bis ein weiterer Schicksalsschlag den Rest ihres Lebens bestimmen sollte. An Ellens 55. Geburtstag, am 24. März 1976, putschte sich in Argentinien das Militär an die Macht. Zahllose Menschen »verschwanden« auf Nimmerwiedersehen. Unter ihnen auch Nora, die 28-jährige Tochter von Ellen Marx. Sie wollte ins Kino gehen und kam nie wieder zurück. Nora engagierte sich für die Ärmsten, hatte in einem Elendsviertel von Buenos Aires gearbeitet. Sie »verschwand « am 21. August 1976. Die Botschaft der Bundesrepublik Deutschland konnte oder wollte Ellen Marx bei der Suche nach der Tochter nicht helfen. Und so wurde aus der deutschen Jüdin eine der »Madres de Plaza de Mayo«. Ende April 1977 machten sich die Mütter zum ersten Mal auf den Weg zum Präsidentenpalast, um Antworten über den Verbleib ihrer Kinder einzufordern. Ellen Marx lernte viele Menschen außerhalb des deutsch-jüdischen Emigrantenmilieus kennen, Schicksalsgefährtinnen. Die Suche nach den verschwundenen Kindern einte sie. Paradoxerweise traf Ellen Marx nun auch auf Mütter, die einst Nazis waren und nach dem Krieg emigrierten. Auch deren Kinder blieben von der Junta nicht verschont. Ihre eigene Tochter sollte Ellen Marx nie wieder sehen. Sie war bereits ermordet worden. Nach Ende der Diktatur reiste Ellen Marx 1983 erstmals wieder nach Deutschland. Mit Hilfe eines Berliner Rechtsanwalts erstattete sie in Berlin Strafanzeige gegen argentinische Militärs. Sie wurde sogar von Willy Brandt und Helmut Kohl empfangen, aber die Verfahren gegen die argentinischen Militärs zogen sich hin. Zur Anklage deutscherseits kam es in Noras Fall nicht, da sie nicht die deutsche Staatsbürgerschaft hatte. Allerdings wurde Anklage in anderen Fällen, so im Fall Käsemann, erhoben. Ein großer Erfolg! Ellen Marx kämpfte weiter um Aufklärung von Menschrechtsverletzungen und Verbrechen während der argentinischen Diktatur. Bis kurz vor ihrem Tod im Jahre 2008 leitete sie die Gruppe der deutschstämmigen Mütter von Verschwundenen und Diktaturopfern. Jeanette Erazo Heufelder hat eine würdige Erinnerung an eine starke, selbstbewusste Frau verfasst, deren Mut, Folterknechten und Mördern die Stirn zu bieten, viele Menschen beeindruckte und inspirierte. Dass in Argentinien ab 2011 mehrere damals führende Militärs wegen zahlreicher Verbrechen gegen die Menschlichkeit zu lebenslanger Haft verurteilt wurden, erlebte Ellen Marx nicht mehr. Jeanette Erazo Heufelder, Lateinamerikaexpertin, die bereits eine Biografie über Fidel Castro veröffentlichte, über Minenarbeiter in Kolumbien und Drogenhandel in Mexiko schrieb, erzählt vom Leben einer unerschrockenen Frau, die mit preußischer Disziplin für die Menschenrechte stritt. Ernst Reuß Jeanette Erazo Heufelder: Von Berlin nach Buenos Aires – Ellen Marx. Deutsch-jüdische Emigrantin und Mutter der Plaza de Mayo. Metropol. 224 S., geb., 22 €.
Am 4. Februar 1949 spaltete sich die Berliner Justiz. Mit der vom Kammergerichtspräsidenten Georg Strucksberg angeordneten Verlegung des Kammergerichts war die Spaltung perfekt. Von nun an existierten in Berlin zwei Kammergerichte und somit zwei Justizsysteme. Das höchste Berliner Gericht, zuvor in der Littenstraße im sowjetischen Sektor, hatte jetzt auch im britischen, im York-Haus am Fehrbelliner Platz, ein Domizil.
Zur Verlegung des Kammergerichts in den Westteil ließ die britische Militärverwaltung verlauten, die sowjetischen Behörden hätten versucht, »das Gerichtspersonal zum Kommunismus zu bekehren, indem sie die Teilnahme an politischen Kulturstunden während der Arbeitszeit anordneten«. Und: »Es ist für aufrechte Gerichtsbeamte unmöglich, Befehlen zu gehorchen, die rein politischer Natur und gesetzwidrig sind.« In Ostberlin sah man das anders. In einem an alle vier Besatzungsmächte gerichteten Bericht des Vizepräsidenten des Kammergerichts Richard Hartmann hieß es: »Um sich der Verantwortung... zu entziehen, hat der Kammergerichtspräsident Dr. Strucksberg am 3. Februar seinen Posten fluchtartig verlassen...« Der Kalte Krieg tobte heftig in Berlin. Neben den politischen Auseinandersetzungen und den alltäglichen Problemen einer Justiz hatten die Gerichte in jener Zeit vor allem mit Mangel an Papier, Stempeln und anderen Arbeitsmaterialien sowie Diebstählen zu kämpfen. Prozesse mussten ausfallen, weil begehrte Beweisstücke plötzlich aus der Asservatenkammer verschwanden. Gerichtsurteile wurden auf die Rückseite von Landkarten, eines Urlaubsantrags aus dem Jahre 1891 oder eines militärischen Führungszeugnisses von 1901 geschrieben. Nach Dienstschluss waren die Schreibmaschinen in den Kleiderschränken zu verstecken und die Glühbirnen herauszuschrauben. In Anbetracht des nahenden Winters wurde alles geklaut, was zu verheizen war: selbst Stühle, Tische und Holztäfelungen in den Sitzungssälen. Auch die Neurekrutierung des Justizpersonals führte zu erheblichen Problemen. Das Amtsgericht Berlin-Mitte war einem falschen Amtsrichter auf den Leim gegangen, der – wie sich herausstellte – ein vielfach Vorbestrafter war; er wurde schließlich wegen Betrugs, Abgabe falscher eidesstattlicher Versicherungen, Begünstigung im Amt und Fragebogenfälschung festgenommen. Dass in jener Zeit ein Pharmazieprofessor, Arthur Kanger, erster Kammergerichtspräsident wurde, war ebenfalls der Personalnot geschuldet. Kanger war aber immerhin langjähriger Gerichtschemiker und sprach russisch. Ständig gab es Reibereien zwischen neu eingesetzten und schon in der Weimarer Republik tätigen Richtern. Max Berger, der spätere Militäroberstaatsanwalt der DDR, hatte bereits Ende 1945 »an die Genossen Gerichtsoffiziere bei dem Amts- und Kammergericht Berlin-Mitte und den Staatsanwaltschaften« eine »Liste der politisch unzuverlässigen leitenden Beamten« geschickt. Darin nannte er das Gericht einen »Hort der Reaktion« und das Personal »die unverbesserlichen alten bürgerlichen Ideologen und Bürokraten mit starker reaktionärer Schlagseite, die ...eine Gefahr für die neue Demokratie in Deutschland und insbesondere für das klassenbewusste Proletariat« seien. Nachdem es bereits zur Spaltung der Polizei unter Markgraf im Osten und Stumm im Westen sowie der Stadtverwaltung in einen Ost-Magistrat (fortan in West-Zeitungen als »Opern-Magistrat« oder »Stadt-Sowjet« tituliert) und einen westliche Magistrat (in Ostzeitungen nur »Spalter-Magistrat«) gekommen war, schlug nun auch der sektorenübergreifenden Justiz die letzte Stunde. Bereits am 29. Mai 1947 war Generalstaatsanwalt Wilhelm Kühnast, der im Ostsektor wohnte, unter Hausarrest gestellt worden. Ihm wurde vorgeworfen, angezeigte Nazis zu zögerlich auf die Anklagebank gebracht zu haben. Von westlicher Seite wurden die sowjetischen Anschuldigungen in Verbindung mit Kühnasts Absicht gebracht, gegen Erich Mielke Anklage wegen der Bülow-Affäre 1932 zu erheben (bekanntlich nach der Wende aufgegriffen). Der Ex-Sozialdemokrat Kühnast konnte dem Hausarrest am 3. August 1948 in den Westen entkommen. Dahingegen floh in der Nacht zum 31. Januar 1949 der von der sowjetischen Besatzungsmacht unterstützte Vizepräsident des Landgerichts Jakob Blasse in den Ostteil der Stadt; er wurde später Zivilrichter am Landgericht-Ost und war einer der wenigen Nicht-SED-Mitglieder in der Ostberliner Justiz. Am 3. Februar 1949 wurde der 71-jährige Verwaltungsdirektor am Kammergericht Oskar Scheiblich verhaftet, in dessen Wohnung ein ansehnliches Lager an Literatur, Urkunden, Registern, Formularen, Haushaltslisten und anderen Gegenständen aus dem Gericht gefunden wurde. Er hatte von Strucksberg die Order bekommen, Akten in den Westen zu schaffen. Ein Kraftfahrer, der die Transporte durchführen sollte, deckte die Geheimaktion auf. Strucksberg hatte den Auftrag schon Wochen vor der Sitzverlegung des Kammergerichts erteilt, wie er später gestand. Und mehr noch: »Ich selbst habe fortgesetzt Akten und Bücher während mehrerer Wochen in meine Wohnung in den Britischen Sektor transportiert.« Angeblich tat er dies nur deswegen, um »sicherzustellen, dass, wenn das Kammergericht nach einem Westsektor verlegt würde, eine sofortige Weiterarbeit möglich wäre.« Eine recht durchsichtige Ausrede! Das Schnellgericht Berlin-Mitte verurteilte Scheiblich noch am Tag der Festnahme zu 18 Monaten Gefängnis. Im Rahmen der Ermittlungen gegen ihn wurde auch Kammergerichtspräsident Strucksberg mehrere Stunden vernommen. Nachdem dieser sich anschließend sofort nach Moabit begeben hatte, kündigte er dort vor versammelter Presse die Verlegung des Kammergerichts für den nächsten Tag an. Trotz seiner ausdrücklichen gegenteiligen Beteuerungen ist anzunehmen, dass Strucksberg die Verlegung des Kammergerichts nicht ohne Rückendeckung der Westalliierten geplant hatte. Während in Westberlin in der Nazizeit tätige Richter nach und nach wieder in ihre Ämter kamen, waren die neuen Richter in Ostberlin fast durchgängig Volksrichter. Die Justizsysteme in Berlin entwickelten sich auseinander, auch wenn das Strafmaß bei der Alltagskriminalität nicht unbedingt fundamental unterschiedlich war. Doch selbst hier schlug sich die Atmosphäre des Kalten Krieges nieder und trieb mitunter kuriose Blüten. So wurde in Ostberlin gegen einen Dieb eine mildere Strafe ausgesprochen, weil der »Schrottdiebstahl außerhalb des demokratischen Sektors von Berlin, und zwar im Westsektor, durchgeführt wurde«. Ein Fahrraddieb in Ostberlin wiederum wurde unverhältnismäßig zu acht Monaten Gefängnis verurteilt, weil es »allgemein bekannt« sei, »dass das Fahrrad wichtigstes Verkehrsmittel unserer werktätigen Bevölkerung ist. Millionäre fahren bekanntlich nicht auf Fahrrädern. Die Tat des Angeklagten ist daher umso verwerflicher.« Ernst Reuß (Mehr dazu im Buch: „Millionäre fahren nicht auf Fahrrädern: Justizalltag im Nachkriegsberlin.“) |
AutorErnst Reuß, geboren 1962 in Franken. Studium der Rechtswissenschaften in Erlangen und Wien. Promotion an der Humboldt - Universität zu Berlin. Danach als wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Freien Universität Berlin und im Bundestag beschäftigt. Archiv
März 2024
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