Ilse Koch war die Ehefrau des SS-Kommandanten von Buchenwald und eine der wenigen verurteilten NS-Täterinnen. Als Gattin des SS-Führers Karl Koch erlebte sie im KZ-Buchenwald einen rapiden gesellschaftlichen Aufstieg.
Ihren Mann brachte der SS-Richter Konrad Morgen bereits 1943 wegen Korruption und dreifachen Mordes zu Fall. Er wurde kurz vor Ende des Krieges in Buchenwald hingerichtet. Ein im Fischer Verlag erschienenes Buch mit dem reißerischen Titel „Im Bann des Bösen“ beschäftigt sich ausführlich mit Ilse Koch. Das Buch der Autorin Alexandra Przyrembel ist keine Biographie, sondern eine umfassende akribische Analyse der Nachkriegszeit und seiner Nachkriegspresse sowie des Umgangs der Nachkriegsgesellschaft mit den zuvor begangenen schrecklichen Verbrechen. Laut Spiegel von 1948 hieß es in den Akten des SS-Untersuchungsrichters: „Die mitangeschuldigte Ehefrau gab ihrem Mann in bezug auf dünkelhaften Hochmut, Maßlosigkeit, brutale Willkür und Größenwahnsinn in nichts nach. Sie wurde als die verhaßteste Person des gesamten Lagers bezeichnet. Durch auf sex appeal hergerichtete leichte Kleidung, Sonnenbaden usw. suchte sie die sexuell notleidenden Häftlinge zu reizen. Sah ihr ein Häftling nach, so merkte sie sich die Nummer und veranlaßte ihren Mann, diesem als Vorschuß 25 Stockhiebe zu versetzen.“ Ob das die ursprüngliche Fassung der Anklageschrift war, lässt sich jedoch laut der Autorin des Buches nicht verifizieren. Es gab verschiedene Fassungen, die nach dem Krieg von Konrad Morgen zu seiner eigenen Entlastung in Umlauf gebracht worden waren. Ob es sich eher um Gerüchte als um die Wahrheit handelte, dass sich Ilse Koch tatsächlich wirklich häufig aufreizend kleidete und damit vor den KZ-Insassen kokettierte, kann letztendlich auch nicht endgültig bestätigt werden. Aber obwohl sich die SS im Prozess alle Mühe gab neben Karl auch Ilse Koch zu überführen, wurde sie nach 16 Monaten in Untersuchungshaft mangels Beweisen freigesprochen. Angeblich soll sie sich aus Menschenhaut Buchhüllen und Lampenschirme anfertigen gelassen haben. Tätowierte Häftlinge sollen dafür ermordet worden sein. Aber auch die Gestapo fand dafür, wie später auch die deutschen und amerikanischen Gerichte - trotz Zeugenaussagen - keine Beweise, auch wenn im Lager nach der Befreiung mehrere gegerbte, tätowierte Menschenhäute, zwei „Schrumpfköpfe“ sowie ein Lampenschirm öffentlich präsentiert wurden. Ob letzterer aus Menschenhaut gefertigt war, ist umstritten. Er ist verschwunden. Ausgiebig berichtete nach dem Krieg die Presse über die als besonders grausam geltende „Hexe von Buchenwald“. Das Gerücht mit der Menschenhaut verbreitete sich unaufhaltsam. Für die biedere Nachkriegsgesellschaften war Ilse Koch eine Projektionsfläche für das absolute Böse. Je grausamer sie war, desto mehr konnten Deutsche sich von ihr distanzieren und sich selbst entschulden. NS-Verbrecher wurden in der Nachkriegszeit immer wieder entmenschlicht, damit man die eigene Schuld auf einige wenige „Bestien“ abschieben konnte. Der Spiegel titulierte Ilse Koch als „tizianrote, grünäugige Sphinx von Buchenwald“ und schrieb: „Von der später entwickelten Mannstollheit liegen aus Ilse Kochs ersten 30 Jahren keine Zeugnisse vor. Ihr Mann indessen war ihr mit jener überhitzten Leidenschaft verfallen, die Gourmands der Liebe zuweilen an Frauen mit dem tizianroten Haarton Ilse Kochs fesseln soll.“ Sex and Crime verkauft sich auch heute noch gut. Jedenfalls wurde Ilse Koch seit damals als nymphomane Sadistin dargestellt. Laut Wikipedia soll sie die letzten Monate vor Kriegsende in Ludwigsburg verbracht haben, wo Verwandte ihr wegen sexuellen Ausschweifungen und Alkoholexzessen das Sorgerecht für die Kinder entziehen wollten. Dort wurde sie nach dem Krieg von einem ehemaligen Buchenwaldhäftling erkannt und von den Alliierten verhaftet. Die Tatsache, dass sie während ihrer Haft ein Kind bekam, den Vater nicht bekanntgab und mit mehreren Mitangeklagte oder Wachmännern eine intime Beziehungen gehabt haben soll, trug ein Übriges zu ihrem Ruf bei. Im August 1947 wurde sie, die einzige weibliche Angeklagte im Buchenwald-Hauptprozess, wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit vor einem amerikanischen Militärgericht zu einer lebenslangen Freiheitsstrafe verurteilt. Eine fortgeschrittenen Schwangerschaft soll verhindert haben, dass sie zum Tode verurteilt wurde. Anders als 22 ihrer 30 Mitangeklagten. Die nicht nur von KZ-Insassen oft als „Kommandeuse“ bezeichnete Koch legte erfolgreich Revision ein und im Juni 1948 wurde die Haftstrafe auf vier Jahre reduziert. Eine Senatskommission befand dagegen Ende 1948 das Revisionsurteil sei nicht gerechtfertigt und beantragte, dass Koch vor ein deutsches Gericht gestellt werde. Koch wurde schließlich am 15. Januar 1951 vom Landgericht Augsburg wegen Anstiftung zum Mord, versuchten Mordes und Anstiftung zu schwerer Körperverletzung zu lebenslangem Zuchthaus verurteilt. Sie soll SS-Angehörige angestiftet haben bestimmte Häftlinge umzubringen oder zu züchtigen und war damit die einzige Frau, gegen die in der Bundesrepublik im Zusammenhang mit NS-Verbrechen eine lebenslange Freiheitsstrafe verhängt wurde. Gerne soll sie bei den von ihr initiierten Bestrafungsaktionen der SS zugeschaut haben. Ihr Verteidiger war Alfred Seidel, der von 1958 bis 1986 Mitglied des Bayerischen Landtages war und dort auch Fraktionsvorsitzender und Innenminister. Ein bayerischer Saubermann, der als ehemaliges NSDAP Mitglied auch in den Nürnberger Prozessen NS Größen verteidigte und dabei von „Siegerjustiz“ sprach. 1977, zu Hochzeiten der RAF, wollte er die Todesstrafe wieder einführen. Er pflegte gute Kontakte in rechtsextreme Kreise. 1967, also 16 Jahre nach dem letzten Urteil und der Ablehnung eines der vielen Gnadengesuche erhängte sich Ilse Koch in ihrer Zelle . Ernst Reuß Alexandra Przyrembel, Im Bann des Bösen, Ilse Koch – ein Kapitel deutscher Gesellschaftsgeschichte 1933 bis 1970, Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2023, 432 Seiten, 28 €.
Kein historisches Sachbuch, aber ein zeitgenössischer friesischer Krimi mit viel Humor und tollen Dialogen. Genau deshalb ist er auch hier eine Erwähnung wert.
„Sörensen sieht Land“ ist inzwischen der vierte Teil einer Krimireihe. Teilweise wurden sie bereits verfilmt und mit tollen Schauspielern in Szene gesetzt. Sörensen hat eine Angststörung und erinnert im Film mit seinem Parka ein bisschen an Schimanski nach drei Wochen ohne Schlaf und eben soviel durchzechten Nächten. Wunderbar im Film dargestellt von Bjarne Mädel, den man beim Schmökern unwillkürlich vor Augen hat. Für ihn hatte der Autor Sven Stricker die Figur einst auch entworfen. Sörensen ließ sich von Hamburg nach Katenbüll in Nordfriesland versetzen, wo der seltsame Kauz, der seiner Angststörung und dem Stress in Hamburg entfliehen will, gut hinpasst, aber eher barsch empfangen wird - was auch daran liegt, dass er Veganer ist und Leute gerne auf Abstand hält. Im vierten Band der Krimireihe „Sörensen sieht Land“ fährt ein Auto in die Jubiläumsfeier des Katenbüller Einkaufszentrums. Fünf Menschen kommen ums Leben. Das Auto gehört ausgerechnet dem Ex-Praktikanten Sörensens, Malte Schuster. Doch der saß nicht am Steuer. Die Spur führt Sörensen schließlich zum Ehemann der Bürgermeisterin, aber es gibt noch einige andere Verdächtige. Außerdem muss Sörensen sich mit seinem sturen Vater herumplagen und kommt auch seiner Kollegin Jennifer endlich ein bisschen näher, auch das natürlich nicht ohne amüsante Komplikationen. Beispiel für einen der vielen wunderbaren Dialoge, bei dem es um die tote Madonna geht: „‘Ach, die ist gestorben?‘, fragte Sörensen verwirrt, während Jennifer die Augen verdrehte. ‚Haben sie gar nichts von in den Nachrichten gesagt.‘ ‚So was kommt doch nicht in den Nachrichten‘, sagte Dohnau traurig. ‚Eigentlich schon‘, sagte Sörensen. ‚Ich meine, wir reden hier immerhin über Madonna. Sag mal, war die nicht eigentlich ein bisschen jung? Fürs Sterben?‘ ‚Allerdings‘, sagte Dohnau. ‚Neunundzwanzig.‘ ‚Nee, das sah nur so aus‘, sagte Sörensen. ‚Geliftet war die. Operiert. Botox und so.‘" Ein Missverständnis, denn bei dieser Madonna handelt es sich um eine Katze. Eine Rolle spielen auch Bernd und Gaby Schuster, die nichts mit Fußball zu tun haben. Auch ein Missverständnis. Sven Stricker zeichnet skurrile Figuren auf dem Land. Der Kriminalfall ist Nebensache. Amüsant immer wieder die außergewöhnlichen Dialoge. Ein Ende der Sörensen-Reihe ist hoffentlich nicht in Sicht. Sehr lustig! Als Buch, und auch als Film! Ernst Reuß Sven Stricker, Sörensen sieht Land, Rowohlt Taschenbuch, Hamburg 2023, 512 Seiten, 12 €. Band 1: Sörensen hat Angst 2015, Band 2: Sörensen fängt Feuer 2018, Band 3: Sörensen am Ende der Welt 2021, Band 4: Sörensen sieht Land 2023
Dorothea Neff war eine Schauspielerin, die nach diversen Stationen in Deutschland 1939 am Deutschen Volkstheater, wie das Wiener Volkstheater damals hieß, ein Engagement fand. Von 1941 bis 1945 versteckte Dorothea Neff ihre jüdische Freundin Lilli Wolff in ihrer nun gemeinsamen Wiener Wohnung, nachdem diese den Deportationsbefehl gen Osten bekommen hatte und gefährdete damit auch ihr eigenes Leben. Unterstützt wurde sie dabei von einem Hausbewohner, dem damals jungen Arzt Erwin Ringel, der es später zu einer gewissen Prominenz bringen sollte. Zum Essen hatten Dorothea und Lilli anfangs nur das, was durch Neffs Lebensmittelmarke zu bekommen war. Um mit dem Immer-magerer-Werden nicht aufzufallen, schmuggelte Neff ihre Kostüme aus dem Theater mit nach Hause, wo Wolff, von Beruf Modedesignerin und Schneiderin, sie enger nähte. Später - mit dem entsprechenden Know-How - wurden Lebensmittelmarken erfolgreich gefälscht.
Der Autor und ORF - Redakteur Jürgen Pettinger, der sich schon zuvor mit „Franz“ dem Thema Homosexualität in Dritten Reich angenommen hat, erzählt die queere Geschichte Dorothea Neffs und ihrer jüdischen Partnerin Lilli Wolff. Lesben wurden im Gegensatz zu Schwulen viel seltener strafrechtlich verfolgt, aber auch lesbische Liebe galt „wider der Natur“ und „Unzucht mit einer Person desselben Geschlechts“ wurde nach österreichischem Recht kriminalisiert. Das galt selbst nach dem „Anschluss“ Österreichs an NS-Deutschland, obwohl die entsprechende Bestimmung im „Deutschen Reich“ ausschließlich männliche Homosexualität bestrafte. Nach dem Krieg schwieg man über gleichgeschlechtliche Beziehungen, denn bis 1971 wurde Homosexualität in Österreich weiterhin strafrechtlich verfolgt , wovon auch die neue Beziehung von Dorothea Neff betroffen gewesen wäre. Das Österreich der Nachkriegszeit verweigerte Homosexuellen jahrzehntelang die Anerkennung als NS-Opfer. Erst 1995 änderte sich das. Die Liebesbeziehung zwischen Dorothea Neff und Lilli Wolff scheiterte an den Anspannungen der Jahre im Versteck. Lilli Wolff hatte jedoch glücklicherweise überlebt, arbeite nach dem Krieg erst als Kostümbildnerin an Theatern und wanderte dann in die USA aus, wo sie sich − zusammen mit der ehemaligen Partnerin ihres Kölner Modesalons eine neue Existenz und Beziehung aufbaute. 1983 starb sie in Dallas. Wolff hat nach ihrer Auswanderung in die USA österreichischen Boden nie wieder betreten. Neff war inzwischen eine allseits anerkannte Schauspielerin. Von 1973 bis 1976 war sie am Burgtheater und am Akademietheater engagiert und mit der ebenfalls bekannten Schaupielerkollegin Eva Zilcher liiert. Erst 1978 erfuhr eine Wiener Journalistin von der Rettungsaktion und konnte Neff für ein Interview gewinnen. Später wurde sie in Yad Vashem als „Gerechte unter den Völkern“ ausgezeichnet. 1986 wurde Dorothea Neff auf dem Wiener Zentralfriedhof in einem Ehrengrab der Stadt Wien beigesetzt. Ernst Reuß Jürgen Pettinger, "Dorothea: Queere Heldin unterm Hakenkreuz". Verlag Kremayr & Scheriau, Wien 2023, 192 Seiten, 24 €.
Stephan Lambys sich über weite Strecken wie ein Krimi lesendes Buch liefert exklusive Einblicke in die Regierungszentrale. Lamby war auch während sehr kritischer Momente sehr nah dran an den führenden Politikern dieser Republik, die nur kurz nach ihrem Amtsantritt aufgrund des Krieges in der Ukraine unter größtmöglichen Druck gerieten. Am 7. Dezember 2021 prostete man sich noch auf den Koalitionsvertrag zu und hatte viel vor. „Fortschrittskoalition“ nannte man das Vorhaben, doch schon bald folgte der Schrecken. Die Koalition sollte immer tiefer in einen Krieg hineingezogen werden, den sie nicht gewollt und auch nicht zu verantworten hatte. Falsche politische Entscheidungen konnten zu einer unkontrollierbaren Eskalation des Krieges oder zu Unruhen im eigenen Land führen.
Wer die dreiteilige TV Dokumentation „Ernstfall – Regieren am Limit“ in der ARD gesehen hat, weiß das und kennt größtenteils den Inhalt des Buches. Aber es lohnt sich trotzdem das Buch zu lesen, das die Zeit von Dezember 2021 bis Juli 2023 zusammenfasst. Seit Kriegsbeginn mussten permanent Überzeugungen über Bord geworfen werden. Wie es dazu kam erzählt Lamby in „Ernstfall, Regieren in Zeiten des Krieges“ minutiös. Erst beim Rückblick auf die vielen Krisen, die man teilweise schon wieder verdrängt hat, erkennt man, was alles in dieser Zeit geleistet wurde. Seit Amtsbeginn der hoffnungsvoll gestarteten rot-grün-gelben „Ampelkoalition“ aus SPD, Grünen und FDP ist einiges passiert. Es gab Irrungen und Wirrungen, aber viele schwierig zu lösenden Probleme wurden trotzdem gemeistert. Dank erhalten die Protagonisten dafür nicht, vielmehr wird weiterhin von Menschen , die immer noch glauben, alles könne so sein wie vorher, gewehklagt. Diejenigen, die versuchen die größten Probleme zu lösen werden übelst beschimpft und bedroht. Populisten, die immer gegen alles sind, selbst aber keine Lösungen anbieten, profitieren von dieser Stimmung, die durch bestimmte Massenmedien weiter verstärkt wird. Lamby gelingt es ausgezeichnet, die Dramatik nach der Regierungsübernahme chronologisch einzufangen. Bundeskanzler Olaf Scholz sprach nach dem 24. Februar 2022, also dem Angriff Russlands auf die Ukraine, zurecht von einer „Zeitenwende“. Trotz der Warnungen der US-Geheimdienste wollte lange niemand so recht daran glauben. Auch die deutschen Nachrichtendienste lagen vollkommen daneben. Macron und Scholz glaubten Putin in vielen Gesprächen sein Vorhaben ausgeredet zu haben. Beide saßen dort an einem irritierend langen Tisch mit Putin. Für Putin ein propagandistischer Erfolg, denn er empfing sie als Bittsteller und lässt sie aus seiner Sicht wie Schulbuben aussehen. Das wirkt zwar weniger nach außen, aber sehr wohl nach innen. Doch Putin hatte sich damals schon längst entschieden und log westlichen Politikern dreist ins Gesicht. Für ihn ist Europa und die Demokratie das Feindbild, das seine eigenen diktatorischen Machtbefugnisse bedroht. Alles hat sich seit dem Krieg geändert. Jahrzehntelange Gewissheiten gelten nicht mehr. Nicht nur für die mehrheitlich als Kriegsdienstverweigerer im Kabinett vertretenen Regierungsmitglieder, wie Olaf Scholz, sondern auch für viele politische Beobachter und Bürger. Bang schaute man in die Ukraine. Viele hofften insgeheim, dass die Ukraine in wenigen Tagen den Krieg verlieren und danach alles wie vorher sein wird. Waffenlieferungen an die Ukraine seien daher völlig unnütz, argumentiert man. Doch man irrte sehr. Die Ukrainer wollten nicht kapitulieren. Der Nationalstolz und die Wut auf die als Okkupation empfundene lange Zeit mit den Russen waren viel stärker. In der deutschen Politik gab und gibt es immer wieder Zögerlichkeiten bei Waffenlieferungen, was man aufgrund der gefestigten jahrzehntelangen pazifistischen Grundhaltung einiger Politiker durchaus verstehen kann. Erstaunlicherweise sind es gerade die Grünen, die nicht nur diesbezüglich über ihren Schatten springen und dem Opfer des Angriffs beistehen wollen. Robert Habeck bekam noch viel Prügel, als er sich vor dem Krieg dafür aussprach an die Ukraine Abwehrwaffen zu liefern. Ebenso Annalena Baerbock, die sich gegen North Stream 2 aussprach. Andere wiederum betreiben Täter - Opfer - Umkehr und finden Unterstützung bei Besitzstandwahrern. Man fürchtet einen kalten Winter ohne russisches Gas. Rechtsradikale Parteien geben sich auf einmal als Pazifisten aus. Schwierige Zeiten! Die Lektüre lohnt und erzeugt Verständnis für Politiker am Limit. Inzwischen gibt es neue Brandherde. Ernst Reuß Lamby, Stephan, Ernstfall, Regieren in Zeiten des Krieges. Report aus dem Inneren der Macht, C.H. Beck, München 2023. 400 S., 26,90 Euro.
Der ukrainische Nationalist Stepan Bandera, der sich im Zweiten Weltkrieg mit Hitler verbündete, gilt im Osten des Landes sowie in Polen, Russland und Israel als Nazi-Kollaborateur und Kriegsverbrecher. Im Westen der Ukraine wird er dagegen von vielen Einheimischen als Nationalheld und Märtyrer hoch geschätzt.
Dort gibt es nach ihm benannte Straßen und Denkmäler. 2009 wurde er sogar mit einer Briefmarke geehrt. 50 Jahre zuvor war er in München ermordet worden. Sein Münchner Grab ist noch heute eine Pilgerstätte für viele ukrainische Nationalisten. Ermordet wurde er von einem KGB-Agenten, der anschließend in den Westen flüchtete und sich den westlichen Geheimdiensten als Informant anbot. Obwohl er eigenhändig die Tat beging, wurde er nur wegen Beihilfe verurteilt, was Juristen bis heute beschäftigt. Im sogenannten Staschynskij-Fall entschied der Bundesgerichtshof 1962: „Wer eine Tötung eigenhändig begeht, ist im Regelfalle Täter; jedoch kann er unter bestimmten, engen Umständen auch lediglich Gehilfe sein.“ Wie kann das sein? Jemand, der einen anderen eigenhändig tötet, soll nun nur Gehilfe sein? Etwa Gehilfe seiner eigenen Hände? Oder wie ist das zu verstehen? Die als Staschynskij-Fall bekannt gewordene Entscheidung des Bundesgerichtshofs urteilte über die Mordtaten des 1931 geborenen KGB-Agenten Bogdan Nikolajewitsch Staschynskij. Wieder ging es um die Abgrenzung zwischen Täterschaft und Teilnahme. Der „sympathisch wirkende“ 30-jährige Staschynskij war im KGB in der „Abteilung für Terrorakte im Ausland“ beschäftigt. Ja, tatsächlich. So etwas gab es in Zeiten des Kalten Krieges. Trotz des sehr bürokratisch klingenden Namens der Abteilung, in der Staschynskij ein kleiner Angestellter war, war er „auf gut Deutsch“ nichts anderes als ein KGB-Killer. 1957 erhielt er den Auftrag, einige als störend empfundene Exilpolitiker, nämlich führende Mitglieder der Organisation Ukrainischer Nationalisten und des russischen Nationalen Bundes der Schaffenden, zu liquidieren. Dafür wurde er nach Ost-Berlin entsandt. Auftragsgemäß und zügig tötete er schon im Herbst 1957 Lew Rebet vom „Nationalen Bund“. 1959 „erledigte“ er dann Stepan Bandera, den Vorsitzenden der Ukrainischen Nationalisten, der im Zweiten Weltkrieg eine Zeit lang mit Hitler paktiert hatte. In beiden Fällen hatte es auf den ersten Blick nicht nach Mord ausgesehen: Rebet wurde am 12. Oktober 1957 im Treppenflur am Münchener Karlsplatz tot aufgefunden. Der unter dem Pseudonym Stefan Popel in München lebende Bandera starb zwei Jahre später, am 15. Oktober 1959, ebenfalls in einem Münchener Treppenflur. Giftpistole mit Blausäuregas Als Tatwaffe hatte Staschynskij eine schon mehrfach und stets mit Erfolg verwendete Giftpistole zum Versprühen von Blausäuregas verwendet, das er seinen Opfern direkt ins Gesicht sprayte. Durch die Blausäure wurde das Opfer durch Verengung der Atmungsorgane ohnmächtig und starb zwei oder drei Minuten später. Staschynskij bekam ein Gegenserum, das er einsetzen sollte, falls er bei der Tatbegehung aus Versehen etwas davon einatmete. Auch vor einer Tat nahm er sein Gegenmittel ein, um sich vor solchen Eventualitäten zu schützen. Das war damals also die übliche KGB–Methode, um unliebsame Regimekritiker aus dem Verkehr zu ziehen. So weit, so schlecht. Genauso wie Bandera wurde auch Rebet heimtückisch getötet. Also ermordet, denn Heimtücke ist laut § 211 StGB eines der Tatbestandsmerkmale für Mord. Zumindest diesbezüglich waren sich die fünf Richter in den roten Roben einig, denn heimtückisch tötet, wer das Opfer unter bewusster Ausnutzung von dessen Arg- oder Wehrlosigkeit umbringt. Staschynskij hatte also Rebet und Bandera höchstpersönlich umgebracht. Auch diesbezüglich gab es seitens des Gerichts keine Zweifel mehr. Beide waren jedenfalls tot, und Staschynskij wurde von seinem Auftraggeber dafür geehrt. Für seine Verbrechen bekam Staschynskij den „Kampforden vom Roten Banner“, was auch immer das bedeuten mag. Staschynskij bekam aber nicht nur den Rotbanner-Orden, er durfte auch mit Erlaubnis des Komitees für Staatssicherheit – O-Ton Die Welt 1962 – „das Ostberliner FDJ Mädchen Inge F.“ heiraten. Seine Frau war eine gelernte Friseurin. Flucht des Agenten nach West-Berlin Da Banderas Tod zu einiger Aufregung in Emigrantenkreisen und in der Bundesrepublik geführt hatte, wurde Staschynskij erst einmal aus dem Verkehr gezogen und 1960 nach Moskau zurückbeordert. Dort wohnte er gemeinsam mit seiner Frau, die sich für ihre große Liebe ebenfalls verpflichten musste, für den KGB tätig zu sein. Staschynskij wäre ein hoch dekorierter Mann jenseits des Eisernen Vorhangs gewesen. In der BRD hätte es zwei ungesühnte und vielleicht noch unentdeckte Verbrechen gegeben, wenn alles wie immer gelaufen wäre. Es kam jedoch ganz anders. Das Problem für die bundesdeutsche Justiz entstand um den 13. August 1961, jenem bedeutsamen Datum im deutsch-deutschen Verhältnis – beziehungsweise Nichtverhältnis – und im Kalten Krieg, denn zum Zeitpunkt des Baus der Berliner Mauer war Staschynskij bereits mit seiner deutschen Ehefrau aus Moskau nach West-Berlin geflüchtet, weil er sich in Russland nicht mehr sicher gefühlt hatte. In der BRD kam er kurze Zeit später, am 1. September 1961, in Untersuchungshaft. Staschynskij hatte sich selbst angezeigt. Die Selbstbezichtigungen des Mannes vom KGB wurden von den zuerst ungläubig staunenden Ermittlungsbeamten ziemlich lange geprüft, ehe Anklage erhoben wurde. Es war allerdings Kalter Krieg. Um den reuigen Sünder Staschynskij, dem eine lebenslange Freiheitsstrafe nahezu gewiss schien, zu einer kürzeren Strafe verurteilen zu können, bemühten sich die bundesdeutschen Gerichte mit einem Kunstgriff um Abhilfe. Es war sozusagen die Vorwegnahme der damals noch nicht existierenden und heute noch ziemlich umstrittenen Kronzeugenregelung. Der Bundesgerichtshof stellte fest: „St.s Auftraggeber haben bei der Anordnung beider Attentate deren wesentliche Merkmale (Opfer, Waffe, Gegenmittel, Art der Anwendung, Tatzeiten, Tatorte, Reisen) vorher festgelegt. Sie haben vorsätzlich gehandelt.“ Und jetzt kommt‘s: „Diese eigentlichen Taturheber sind daher Täter, und zwar mittelbare Täter. (…) Entgegen der Auffassung der Bundesanwaltschaft, die den Angeklagten als Täter ansieht, dies jedoch nicht näher begründet hat, war St. in beiden Fällen nur als Mordgehilfe zu verurteilen (§ 49 StGB).“ Mörder, aber nicht Täter Staschynskij, der höchstpersönlich mindestens zwei Menschen umbrachte, war auf einmal kein Täter mehr, sondern nur Gehilfe irgendwelcher obskuren Hintermänner. Das soll man mal einem klar denkenden Menschen erklären. Der Bundesgerichtshof versuchte es mit folgender Begründung: „Gehilfe ist, beim Morde wie bei allen anderen Straftaten, wer die Tat nicht als eigene begeht, sondern nur als Werkzeug oder Hilfsperson bei fremder Tat mitwirkt. Maßgebend dafür ist die innere Haltung zur Tat. (…) Danach (…) kann insbesondere auch derjenige bloßer Gehilfe sein, der alle Tatbestandsmerkmale selber erfüllt (...)“ Staschynskij war nur ein Werkzeug. Wirklich? Eine nur schwer nachvollziehbare Begründung bei diesen heimtückischen Taten. Sie ist wohl nur angesichts der damals bestehenden politischen Verhältnisse zu erklären. Der Bundesgerichtshof hatte angesichts des Kalten Krieges weniger juristisch als politisch entschieden. Man wollte dem Überläufer die gesetzlich vorgesehene Strafmilderung für einen Gehilfen ermöglichen. Laut Bundesgerichtshof soll Staschynskij also – bei seinen in Deutschland begangenen Taten – in Wirklichkeit nur dem eigentlichen Täter, dem in Moskau verbliebenen Chef des KGB, Beihilfe zu dessen zwei Morden geleistet haben. Das Gericht begründete dies damit, dass Staschynskij „ohne Interesse an dem Erfolg der Tat“ gewesen sei. Das Urteil des Landgerichts wurde vom Bundesgerichtshof bestätigt, der dabei die griffige Formel „Täter ist, wer die Tat als eigene will“ verwendete und damit argumentierte, Staschynskij habe seine Taten als fremde, nämlich als Taten des KGB-Chefs gewollt und statt Täterwillen nur Gehilfenwillen gehabt. Auf dem Höhepunkt des Kalten Kriegs sollte das Urteil wohl ein Signal an ausländische Geheimdienstler senden. Leben unter neuer Identität Staschynskij lebt oder lebte wahrscheinlich nach seiner vorzeitigen Haftentlassung unter einer neuen Identität in der Bundesrepublik Deutschland, möglicherweise auch in den USA. Um solch merkwürdig anmutenden Urteile zukünftig zu verhindern, wurde Jahre später in § 25 StGB mit der Formulierung „Als Täter wird bestraft, wer die Straftat selbst oder durch einen anderen begeht“ ausdrücklich klarzustellen versucht, dass jeder, der die Tat persönlich verwirklicht, auch als Täter zu betrachten sei. Ernst Reuß Aus „Mord? Totschlag? Oder Was? Bizarres aus Deutschlands Strafgerichten“.
Lag ein versuchter Mord vor? Vor dieser äußerst kniffligen Frage stand im Juli 1983 der erste Strafsenat des Bundesgerichtshofs in Karlsruhe.
Was war geschehen? Anfang der 70er Jahre lernte der Angeklagte in einer Diskothek die vier Jahre jüngere Heidrun T. kennen. Diese war laut Schilderung von Zeugen damals noch eine unselbstständige, ziemlich komplexbeladen junge Frau von Anfang 20. Der anscheinend umwerfende Charmeur Fred G. hatte sich fälschlicherweise als Heilpraktiker, Privatdozent und Doktor der Psychologie vorgestellt. Heidrun war stark beeindruckt und verliebte sich heftig, obwohl sie gewiss war, dass ihre Liebe von diesem aus ihrer Sicht großen, weisen – aber mit anderen Frauen liierten – unerreichbaren Mann nicht erwidert werden konnte. So entwickelte sich eine äußerst intensive, aber doch nur platonische Freundschaft. Man diskutierte sich hauptsächlich die Köpfe heiß. Fred – der angeblich promovierte Psychologe – wusste einfach auf alles eine Antwort. Die ausgebildete Chefsekretärin Heidrun T. befand sich in einer Selbstfindungsphase und war gerade dabei den Sinn des Lebens zu ergründen. Fred G. stand ihr zur Seite. Heidrun vertraute und glaubte ihm blindlings. Er war immer für sie da. Zumindest telefonisch! Damit sie ihre Probleme überwinden könne, meinte G., benötige sie einer geistigen und philosophischen Weiterentwicklung. Dazu bedürfe es natürlich größter geistiger Anstrengung. Er könne allerdings Hilfe anbieten, denn er kenne einen Mönch namens „Uliko vom Volke der Dogen“. Der wäre ein noch größerer Lehrmeister als er selbst. Er würde für sie meditieren, was allerdings nicht ganz billig wäre. Das verstand Heidrun und nahm einen Bankkredit auf. Dass es sich bei „Uliko“ schlicht um Freds Fantasieprodukt handelte, braucht hier nicht näher dargelegt werden. Dass Heidrun T. keine Zweifel daran hatte, wohl auch nicht. Und, dass Fred G. das ganze Geld – immerhin 30.000 DM - mit dem ihm eigenen Selbstverständnis seinem eigenen Konto gut schreiben ließ, erst recht nicht! Deswegen wurde Fred dann auch später wegen Betrugs verurteilt. So weit, so klar. Aber versuchter Mord? Es musste also noch mehr vorgefallen sein, was auch so war. Mit ihrer geistigen Weiterentwicklung war Heidrun nicht ganz zufrieden, denn sie fühlte sich trotz der fernmeditaiven Anstrengungen von „Uliko“ kein bisschen verändert. Fred erklärte ihr daraufhin, dass ihr Körper im Wege sei und ihre geistige Blockade nur durch die Vernichtung des alten und die Beschaffung eines neuen Körpers beseitigt werden könne. Ziemlich durchsichtig eigentlich, doch die arglose Frau schöpfte keinen Verdacht. Sie war ihrem Fred vollkommen verfallen, denn eines Tages hatte er ihr in einem ihrer unzähligen esoterisch angehauchten Gespräche überraschenderweise erzählt, dass er ja, um ehrlich zu sein, eigentlich gar kein Mensch sei, sondern von einem fremden Stern stamme. Er sei Sirianer, also ein Bewohner des weit, weit entfernten Sternes Sirius. Fred erzählte ihr in den folgenden Tagen einiges von „seinem“ Planeten. Unter anderem berichtete er davon, dass die Sirianer eine Rasse seien, die philosophisch auf einer weit höheren Stufe stehen als die Menschen und er deswegen zur Erde gesandt worden sei, weil er den Auftrag habe es einigen besonders brillanten Menschen zu ermöglichen auf dem Sirius weiterzuleben. Selbstverständlich gehörte auch die leichtgläubige aber geschmeichelte Heidrun T. zu dieser Elite. Freilich blieb ein klitzekleines Problemchen. Ein Weiterleben auf dem Sirius sei erst nach der geistigen Weiterentwicklung und dem völligen Zerfall des eigenen Körpers möglich, denn nur mit ihrer Seele könne sie auf dem Sirius weiterleben. Dafür müsse sie aber zuvor wiederum ihre geistigen Blockaden überwinden. Fred hatte natürlich auch für dieses Problem eine Lösung. Er erklärte ihr, dass in einem Raum am Genfer See für sie ein neuer Körper bereit stehe, in dem sie sich als Künstlerin wiederfinden werde, wenn sie sich von ihrem alten Körper trennt. Damit könne sie sich erst mal geistig weiterentwickeln. Beruhigungspillen und die erforderlichen Papiere würde sie dort auch vorfinden. In welchen schillernden Farben Fred diesen neuen Körper vorher schilderte, geht aus dem Urteil leider nicht hervor. Er muss jedenfalls sehr überzeugend gewesen sein. Heidrun T. glaubte ihrem Sirianer ohne den Hauch eines Zweifels und ließ sich darauf ein, eine Lebensversicherung über 250.000 DM abzuschließen. Bei Unfalltod sollte sich die Summe auf 500.000 DM erhöhen. Daher musste der „Übergang in den neuen Körper“ wie ein Unfall aussehen. Der Versicherungsschutz von Heidrun T. begann im Dezember 1979. Ihre monatliche Versicherungsprämie belief sich auf 587,50 DM. Ein ganz schöner Batzen Geld bei ihren Einkommensverhältnissen, aber bald wäre sie ja eine andere und die Versicherungsprämie wäre dann hinfällig. Ihr konnte es zu diesem Zeitpunkt egal sein. Heidrun bestimmte Fred G. zum Bezugsberechtigten und bereitete sich auf ihr neues Leben vor. Das Geld – so versprach Fred – werde er ihr nach Auszahlung der Versicherungssumme sofort überbringen. Sie glaubte ihm, bedingungslos. Vorab gab sie ihm schon mal ihre übrigen Ersparnisse in Höhe von 4.000 DM. Beide gemeinsam fanden den günstigsten Platz für einen Autounfall: den Brückenpfeiler eines Autobahnzubringers. Der „Unfall“ sollte Weihnachten 1979 stattfinden. Heidrun war zu diesem Zeitpunkt gerade 28 Jahre alt. Ihr Plan ging allerdings nicht sofort auf, denn tragischerweise durchkreuzte Freds Ehefrau Heike das Vorhaben, indem sie sich kurz zuvor selbst erschoss. Fred hielt sich während des Selbstmordes seiner Gemahlin in der Wohnung auf und hatte wegen der nachfolgenden Ermittlungen der Polizei erst einmal ganz andere Probleme zu bewältigen. Es liefen Ermittlungen gegen ihn, denn schon zuvor sollen Freundinnen von ihm auf recht dubiose Weise ums Leben gekommen sein. Doch ihm war vorerst nichts nachzuweisen. Fred bastelte daher schon bald wieder munter an seinen Plan, wie sich Heidrun am besten selbst umbringen könnte. Beide nannten es verniedlichend „Körpervernichtung“. Da sich Fred und seine ihm hörige platonische Beziehung nicht sicher waren, ob Heidrun bei einem Autounfall dann möglicherweise doch „nur“ schwer verletzt sein würde, entschlossen sich die beiden es mit einem eingeschalteten Fön in der Badewanne zu versuchen. Anfang der 80er Jahre war das wohl noch eine sehr „angesagte“ Suizidart. „Evakuieren“ nannte Fred das. Evakuieren auf den Planeten Sirius. Weit, weit weg in ferne Galaxien sozusagen. Zuvor sollte Heidrun – damit es auch wirklich nach einem Unfall aussah – Wäsche waschen, einen Kuchen backen, eine Bekannte für den Abend einladen und das Telefon neben die Badewanne stellen. Fred gab telefonisch den Startschuss, doch der tödliche Stromstoß blieb aus. Heidrun verspürte nur ein Kribbeln am Körper, als sie den Fön eintauchte. Blöd gelaufen! Doch Fred gab nicht auf! Er, der sich nach dem Tod der Gattin diesmal nicht am Tatort eines Selbstmordes aufhalten wollte, wartete am Telefon auf das nahende Ende seiner Freundin und war hörbar überrascht als Heidrun bei seinem Kontrollanruf den Hörer abnahm. Sie saß immer noch mit ihrem Fön in der Badewanne und versuchte verzweifelt damit ihren Körper zu vernichten. Fred half ihr mehr oder weniger „uneigennützig“ dabei. In den nächsten drei Stunden gab er ihr in etwa zehn Telefongesprächen Anweisungen zur Fortführung des Versuchs, aus dem Leben zu scheiden. Dann nahm er von weiteren Bemühungen Abstand. Nach stundenlangem erfolglosem Experimentieren doch noch mittels Stromschlag in der Badewanne ihr Leben auszuhauchen, stieg Heidrun aus dem – inzwischen wohl kalt gewordenen – Wasser und ging vermutlich frustriert ins Bett. Fred hatte zuvor den Befehl gegeben „Aufhören jetzt“, was sein Anwalt später in der Revision als Rücktritt von der geplanten Tat gewertet sehen wollte. Damit hatte er allerdings keinen Erfolg. Der Gutachter des TÜV stellte im Prozess fest, dass Heidrun ihr Überleben einer Bauschlamperei zu verdanken hatte, denn die Badewanne war nicht geerdet - was damals Vorschrift gewesen wäre. Erst im August 1980 ging Heidrun zur Polizei und brachte damit den ganzen Fall ins Rollen. Aus welchen Motiven dies geschah, blieb im Dunkeln. Die Polizei ermittelte, doch das größere Problem hatte die Justiz. Ein Selbstmord ist nun mal nicht strafbar. Da beißt die Maus keinen Faden ab! Betrug? Okay! Ein gewisses Sümmchen hatte Fred sich von der Heidrun ergaunert. Aber versuchter Mord? Nein, da war er sich sicher! Sein Anwalt trug vor, dass nur straflose Beteiligung am versuchten Selbstmord in Betracht gezogen werden könnte. Das war natürlich nicht ganz von der Hand zu weisen. Angriff ist die beste Verteidigung, dachte Fred und warf der Kriminalpolizei einen „wüsten Amoklauf“ gegen seine Person vor und titulierte den gegen ihn ermittelnden Kriminalbeamten frech als „Zombiejäger“. Doch ein Mann mit solch großer krimineller Energie und dieser dubiosen Vorgeschichte musste verurteilt werden. Straflos sollte so einer nicht ausgehen, denn das war doch zu dreist gewesen. Das Gericht war der Ansicht, dass allein Fred G. eine mögliche Tötung zu verantworten hatte. Die leichtgläubige Heidrun T. dachte ja nicht mal an Selbstmord, sie glaubte ohne Weiteres tatsächlich, in einem anderen Körper zu erwachen und nach Überwindung der geistigen Blockaden dann endlich zum Sirius zu entfleuchen. Soweit der potenzielle Selbstmörder beziehungsweise in diesem Fall die potenzielle Selbstmörderin sich gar nicht bewusst sei, dass sie gerade im Begriff ist sich umzubringen und der Hintermann, der sie zu dieser Tat anleitet, dieses hohe Maß an Einfältigkeit ausnutzt, sei der Hintermann als Täter anzusehen, denn er benutzt ein willenloses Werkzeug gegen sich selbst – so das Gericht. Deshalb, und nur deshalb, kam das Gericht zum Ergebnis, dass in diesem Fall Fred G. wegen versuchten Mordes zu verurteilen war, obwohl er gar nicht persönlich Hand angelegt hatte – ja nicht einmal anwesend war – und Selbstmord nicht strafbar ist. Das Gericht meinte etwas gestelzt, dass Fred seinem Opfer nicht vorspiegelte „es werde durch das Tor des Todes in eine transzendente Existenz eingehen, sondern es in den Irrtum versetzte, es werde – obgleich es scheinbar als Leichnam in der Wanne liege – zunächst als Mensch seinen irdischen Lebensweg fortsetzen, wenn auch körperlich und geistig so gewandelt, dass die Höherentwicklung zum astralen Wesen gewährleistet sei.“ Während Heidrun glaubte nach dem Stromstoß am Genfer See zu erwachen, sei es Fred nur darum gegangen die Versicherungssumme für ihren Tod zu kassieren. Laut Gericht „ein Verbrechen der versuchten mittelbaren Fremdtötung“, denn – um es salopp zu sagen – Fred G. war der kritiklosen und naiven Heidrun T. weit überlegen, und nur seine Täuschungen führten dazu, dass sie arglos Hand an sich selbst legte. Von allein hätte sie es nie getan. Sie selbst verneinte während der Gerichtsverhandlung ein Recht auf Selbsttötung. So kann also jemand, der im wörtlichen Sinn eigentlich keine Tat begangen hatte, als mittelbarer Täter für die Handlung eines anderen verantwortlich sein. Genau deshalb musste Fred G. wegen versuchten Mordes für sieben Jahre im Knast schmoren, auch wenn er selbst von einer „teuflischen Hetzjagd“ und einem „absurden Fehlurteil“ gegen sich sprach. Vollkommen untätig blieb er in den nächsten Jahren auch in der Haft nicht. Als 1988 seine Strafe eigentlich verbüßt gewesen wäre, musste er gleich weiter im Gefängnis bleiben. Wieder mit Hilfe einer leichtgläubigen Frau und einer selbst gegründeten Briefkastenfirma hatte er versucht ziemlich viel Geld zu ergaunern. Er blieb für weitere zwei Jahre und drei Monate im Gefängnis. Nach Verbüßung der Strafe verliert sich seine Spur. Ernst Reuß (Der Artikel ist ein Auszug aus dem Buch „Mord? Totschlag? Oder was?“ des Autors) |
AutorErnst Reuß, geboren 1962 in Franken. Studium der Rechtswissenschaften in Erlangen und Wien. Promotion an der Humboldt - Universität zu Berlin. Danach als wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Freien Universität Berlin und im Bundestag beschäftigt. Archiv
März 2024
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