Ende Oktober 2010 wurde in Berlin die Studie über die NS-Vergangenheit des Auswärtigen Amtes präsentiert, mit dem Fazit, dass die Behörde tief in den Holocaust verstrickt gewesen war. Joschka Fischer, der die Studie initiiert hatte und mit einigen Millionen Euro finanzieren ließ, durfte danach wieder einmal auf allen Kanälen präsent sein. Überall, außer möglicherweise von so manchem altgedienten Mitarbeiter des Auswärtigen Amtes, wurde er mit Lob überschüttet. Er hatte scheinbar den Mantel des Schweigens endlich gelüftet. Das Bild einer Reisekostenabrechnung des Auswärtigen Amtes sah man in vielen Tageszeitungen, bei dem der Zweck der Reise handschriftlich mit »Liquidation von Juden in Belgrad« bezeichnet wurde. Dieses Dokument ist nicht neu aufgefunden. Es befand sich schon in Prozessakten. Und Christopher Browning hatte es bereits 1978 in seiner Dissertation über die Mitwirkung des Auswärtigen Amtes bei der »Endlösung« zitiert. Das Buch gab es bisher nur in englischer Sprache. Niemand in Deutschland hatte anscheinend Interesse an einer Übersetzung.
»Macht es Sinn, ein Buch zum Holocaust mehr als 30 Jahre nach seinem ersten Erscheinen nunmehr in deutscher Sprache zu publizieren? Gerade ein Schlüsselthema wie die Rolle des Auswärtigen Amtes bei der Umsetzung der ›Endlösung der Judenfrage‹ …, so möchte man hoffen, sollte in der Fülle neuer Bücher… vertreten sein. Doch diese Hoffnung trügt.« So beginnt das nunmehr übersetzte Buch Brownings, der schon vor vielen Jahren mit dem Titel »Ganz normale Männer«, der Geschichte eines deutschen Polizeibataillons und dessen Verwicklungen bei der Judenvernichtung, Pionierarbeit für die Deutschen geleistet hatte. Es ist erstaunlich, aber auch bezeichnend, dass Brownings Buch erst jetzt, nach über 30 Jahren, ins Deutsche übersetzt worden ist. Er berichtet detailliert über die Verwicklungen der »Abteilung Deutschland« im Auswärtigen Amt bei der Deportation von ausländischen Juden in die Vernichtungslager oder bei dem Versuch die Auswanderung, auch von Kindergruppen, nach Palästina zu verhindern. Er dokumentiert nach Staaten geordnet, wann, an welchen Orten und in welchem Umfang dies geschehen ist. Im Anhang kann man in chronologischer Reihenfolge alle maßgebenden Behördenaktionen nachvollziehen. Browning wertete dazu Bestände des Politischen Archivs aus und durchforstete Prozessakten aus der Nachkriegszeit gegen ehemalige Mitarbeiter der Behörde. Jeder hätte sich wie er in den frei zugänglichen Beständen darüber informieren können. Laut Browning war der kurz nach dem Krieg gestorbene Leiter der »Abteilung Deutschland«, Martin Luther, ein amoralischer hemmungsloser Karrierist und Speichellecker, der wohl für jedes Regime gearbeitet hätte. Seine Mitarbeiter seien nichts weiter als äußerst karrierebewusste, aber unauffällige Bürokraten gewesen. Politische Wendehälse ohne eigene Überzeugung, denen eine Handlung, die »ihren Ruf als tüchtige und zuverlässige Mitarbeiter geschadet hätte«, unvorstellbar gewesen wäre. Sie bedurften keines expliziten »Führerbefehls«, um im vorauseilenden Gehorsam jede Andeutung des »Führerwillens« in die Tat umzusetzen. Luthers Chef, Ernst von Weizäcker, einer von der »alten Garde«, sei ein Bürokrat ohne Rückgrat gewesen, so Browning. Mitunter gab es zwar von der »alten Garde« Kritik wegen der Judenpolitik – weil man befürchtete, »die Judenfrage« könnte Deutschlands internationale Position schädigen. Man war entschlossen, den Ruf Deutschlands und dessen Ehre gegen unberechtigte und unbefugte Eingriffe des Auslands in innere Angelegenheiten zu verteidigen. Browning dazu: »Drei Monate nach der Machtergreifung und auch auf eigene Initiative hatten die Führungsetagen des Auswärtigen Amtes also offiziell der weltweiten Verbreitung der krudesten Form von antisemitischer Propaganda zugestimmt, um Deutschlands Ruf und Ehre zu verteidigen.« Interessant auch der weitere Lebensweg der Mitarbeiter der Unterabteilung für »Judenfragen« des Auswärtigen Amtes, von denen einige doch noch vor Gericht landeten und alles auf einen »Bürolehrling Peters« schoben, dessen physische Existenz jedoch nie jemand nachweisen konnte. Die Gerichte wollten den Angeklagten dennoch allzu gerne glauben. Franz Rademacher (1906-1973), der seine Reisekostenabrechnung mit »Liquidation von Juden in Belgrad« begründet hatte, wurde 1952 wegen des dortigen Massakers lediglich wegen Beihilfe zum Totschlag verurteilt. Er hätte zwar die dort zuständigen Bürokraten überzeugt, 1500 Juden nicht zu deportieren, sondern »das Problem« vor Ort zu erledigen. Dies sei jedoch nicht aus niedrigen und grausamen Beweggründen geschehen, sondern weil man eine Bedrohung der Sicherheit gesehen habe, so das Gericht. Er bekam drei Jahre und fünf Monate, entzog sich aber der weiteren Haft durch Flucht. Erst 1968 wurde er aufgrund einer Berufung wegen Beihilfe zum Mord von Juden in Serbien und Rumänien zu fünf Jahren verurteilt, wurde allerdings wegen seines Alters, seines Gesundheitszustandes und da er bereits einen Teil in Untersuchungshaft abgesessen hatte, freigelassen. Christopher Browning war übrigens seltsamerweise nicht in die Expertengruppe der neuen Studie berufen worden. Ernst Reuß Christopher Browning: Die »Endlösung « und das Auswärtige Amt. Das Referat D III der Abteilung Deutschland 1940-1943. Aus dem Amerik. von Claudia Kotte. Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt 2010. 320 S., geb., 49,90 ¤. |
AutorErnst Reuß, geboren 1962 in Franken. Studium der Rechtswissenschaften in Erlangen und Wien. Promotion an der Humboldt - Universität zu Berlin. Danach als wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Freien Universität Berlin und im Bundestag beschäftigt. Archiv
März 2024
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