– denn König Fußball regiert die Welt", sang 1974 die bundesdeutsche Fußballnationalmannschaft. Es wurde ein Hit.
Bald findet in Deutschland die Fußballeuropameisterschaft statt und viele Menschen überall in Europa werden genau das empfinden. Als der Fußball nach Deutschland kam, regierte der Fußball noch nicht die Welt und wurde in Deutschland als „Fußlümmelei“ abgewertet und abgelehnt. Turnen und der eher militärische Drill waren damals angesagt. Fußball galt als durch und durch „undeutsch“. Man rümpfte die Nase über den proletenhaften Sport aus England. Da in einigen dieser deutschen Turnvereine bereits um die Jahrhundertwende Juden nicht erwünscht waren, waren aber gerade Fußballvereine für jüdische Mitbürger besonders attraktiv. Bayern, der Club oder die Eintracht aus Frankfurt wurden von Juden mitgegründet. Auch an der Entstehung des DFB waren Juden entscheidend beteiligt. Am bedeutsamsten diesbezüglich wurde Walther Bensemann, der ebenfalls jüdischen Glaubens war. Der reisefreudige Mann war an der Gründung zahlreicher Fußballvereine in Süddeutschland beteiligt. Er organisierte die ersten internationalen Begegnungen und hatte sich den Namen Deutscher Fußball-Bund ausgedacht. 1920 gründete er außerdem den „Kicker“. Auch heute noch die „Bibel“ für den deutschen Fußballfan. Nur wenige Wochen nach Hitlers Machtantritt wurden Juden aus den bürgerlichen Vereinen ausgeschlossen. Sie wurden zu Sündenböcken eines gnadenlosen Regimes, dem ein großer Teil der aufgehetzten Bevölkerung willig folgte. Bensemann wurde fortgejagt. Er starb 1934, kurz nach der geglückten Emigration in die Schweiz. Auch dem jüdischen Nationalspieler Gottfried Fuchs, der den bis heute unerreichten Rekord von zehn Toren in einem Spiel der Nationalmannschaft aufgestellt hatte, gelang die Auswanderung nach Kanada. Anders erging es jedoch dem jüdischen Nationalstürmer Julius Hirsch, der 1943 im KZ Auschwitz ermordet wurde. Aus den berühmten Nationalmannschafts-Sammelalben des Kicker Sportmagazins wurden die Porträts der beiden Nationalspieler fortan verbannt. Hirsch galt als einer der besten Stürmer seiner Zeit. Als erstem Fußballer gelang es ihm, mit zwei Vereinen Deutscher Meister zu werden: 1910 mit dem Karlsruher FV und 1914 mit der SpVgg Fürth. In seinem zweiten Länderspiel gegen die Auswahl der Niederlande schoss er als erster deutscher Nationalspieler vier Tore in einem Spiel. Hirschs Schicksal wurde auch in der Nachkriegszeit noch lange verschwiegen. Erst nach vielen Jahrzehnten begannen unabhängige Sporthistoriker damit, sich seiner Person ausführlicher zu erinnern. Seit 2005 vergibt der Deutsche Fußball-Bund (DFB) den „Julius-Hirsch-Preis“. Dieser wird besonders für Aktivitäten verliehen, die sich gegen Ausgrenzung und Diskriminierung gesellschaftlicher Gruppen wenden. Bereits zwei Monate nach der Machtübernahme der Nazis hatten einige - teilweise von Juden mit gegründete - Vereine in einer gemeinsamen Erklärung unterstrichen, „insbesondere in der Frage der Entfernung der Juden aus den Sportvereinen“ mit den neuen Machthabern „freudig und entschieden“ zusammenarbeiten zu wollen. Mit dabei waren Kaiserslautern, die Eintracht aus Frankfurt, der „Club“ und Fürth, die Bayern und die „60er“. Dies alles geschah im vorauseilenden Gehorsam, ohne dass die nationalsozialistische Regierung darauf gedrängt hatte. Julius Hirsch kam seinem Rausschmiss kurz nach der Erklärung durch Austritt zuvor und schrieb an seinen Verein: „Ich lese heute im Sportbericht Stuttgart, dass die großen Vereine, darunter auch der KFV, einen Entschluss gefasst haben, dass die Juden aus den Sportvereinen zu entfernen seien. Leider muss ich nun bewegten Herzens meinem lieben KFV, dem ich seit 1902 angehöre, meinen Austritt anzeigen. Nicht unerwähnt möchte ich aber lassen, dass es in dem heute so gehassten Prügelkinde der deutschen Nation auch anständige Menschen und vielleicht noch viel mehr national denkende und auch durch die Tat bewiesene und durch das Herzblut vergossene deutsche Juden gibt.“ Nach den vielen Demütigungen unternahm Hirsch 1938 einen Selbstmordversuch. Später ließ sich seine Frau von ihm scheiden, um zumindest die gemeinsamen Kinder zu retten. Was für eine verzweifelte und traurige Entscheidung! Für Hirsch bedeute dies das Ende der von den Nazis privilegierten „Mischehe“. Im Februar 1943 wurde dem 50-jährigen Julius Hirsch mitgeteilt, dass er sich zu einem Transport zum „Arbeitseinsatz“ am Hauptbahnhof einzufinden habe. Von dort wurde er gemeinsam mit elf weiteren badischen Juden nach Auschwitz deportiert, wo er wahrscheinlich umgehend vergast wurde. In den dortigen Eingangsbüchern wurde er nicht mehr erwähnt. Sein letztes Lebenszeichen war eine Postkarte von unterwegs, die erst am 3. März in Dortmund abgestempelt wurde: „Meine Lieben. Bin gut gelandet, es geht gut. Komme nach Oberschlesien, noch in Deutschland. Herzliche Grüße und Küsse euer Juller“ Seine beiden 22 und 17 Jahre alten Kinder wurden dennoch später in das KZ Theresienstadt deportiert. Beide wurden jedoch am 7. Mai 1945 durch die Rote Armee befreit. Seine Frau nahm nach dem Krieg den Namen Hirsch wieder an, sprach aber bis zu ihrem Tod nicht über das tragische Schicksal. Seine Tochter erinnert sich nach dem Krieg: „Am 1. März 1943 habe ich meinen Vater Julius Hirsch zum Hauptbahnhof in Karlsruhe gebracht und von dort wurde er abtransportiert, in einem normalen Zugabteil. Es war eines der schrecklichsten Erlebnisse meines Lebens. Es war ein strahlend schöner Tag. Noch heute kann ich nicht begreifen, dass an diesem Tag die Sonne scheinen konnte! Wir haben nicht geglaubt, dass wir ihn nie mehr wiedersehen werden. (...) Er hing an Deutschland, er war für Deutschland - wie auch seine Brüder im Ersten Weltkrieg. Nie dachte er, dass man ihn so behandeln würde.“ Hirsch wurde 1950 vom Amtsgericht Karlsruhe für tot erklärt. Gleichzeitig wurde eine „Entschädigung“ in Höhe von 3 450 DM ausgezahlt. Die meisten Täter, wie der für die Deportation verantwortliche Gestapochef, machten im Nachkriegsdeutschland Karriere. 1972 wollte der ehemalige Bundestrainer Sepp Herberger den letzten Überlebenden Gottfried Fuchs als Gast des DFB zu einem Länderspiel anlässlich der Eröffnung des Olympiastadions in München einladen. Das Präsidium des DFB, in dem einige ehemalige Nazis saßen, lehnte dies ab, um keinen „Präzedenzfall“ zu schaffen. 1972 war die Zeit der Träumer. Man glaubte an ein besseres Deutschland. 1972 war auch das Jahr mit dem vermeintlich schönsten Fußball der bundesdeutschen Nationalmannschaft. Für denjenigen, der sich an die Zeit noch erinnern kann, bleibt der damalige Fußball mit Netzer, Breitner und Co. – obwohl der WM Titel erst 1974 geholt wurde - das fußballerische Maß aller Dinge Exemplarisch dabei die Lebensgeschichte von zwei jung gestorbenen Träumern. Stan Libuda und Rio Reiser: „An Gott kommt keiner vorbei. Nur Libuda“, stand auf einigen Gelsenkirchener Mauern - während Reiser sang: „Reißen wir die Mauern ein, die uns trennen. Kommt zusammen, Leute, lernt euch kennen“. „Der Traum ist aus“ hatte letzterer damals in anderem Zusammenhang ebenfalls getextet. Der Traum vom romantischen Fußball scheint inzwischen jedenfalls tatsächlich ausgeträumt. Als Paul Breitner, der mit der „Peking-Rundschau“ unterm Mao-Poster posiert hatte, in der WG von Rio Reisers Band Ton Steine Scherben in Berlin-Kreuzberg auftauchte, weil die ihm ihr Album „Keine Macht für Niemand“ geschickt hatten, schlief Rio, der sich nicht für Fußball interessierte, tief und fest. Das Spiel im Wembley Stadion von 1972, zwei Tage nach dem Misstrauensvotum gegen Willy Brandt und die darauffolgende Europameisterschaft bleiben unvergessen. Das Gute und Schöne schien zu siegen. Doch auch damals war nicht alles schön und gut. Es war auch die Zeit der angehenden Kommerzialisierung und des Fußballbundesliga-Bestechungsskandals, bei dem Bundesligapartien „verkauft“ worden waren. Horst-Gregorio Canellas, der Präsident des deswegen abgestiegenen Vereins Offenbacher Kickers, hatte den Skandal mittels mitgeschnittener Telefongespräche aufgedeckt. Es war auch die Zeit der vielen „Hater“, die sich hauptsächlich über die Frisuren der Nationalspieler ausließen. Damals noch mit der Deutschen Bundespost, Internet gab es noch nicht. Bundestrainer Schön sammelte die Briefe. Man wünschte sich den akkuraten Haarschnitt der Weltmeister von 1954 zurück. Ähnliches geistert ja auch heute durch das Internet, wenn man sich die Hautfarbe der Spieler von 1974 zurückwünscht. Von „Fake News“ sprach man damals noch nicht, aber den Umgang mit dem „Volksverräter“ Brandt würde man heute wohl durchaus als „Hate Speech“ bezeichnen. Schon damals tat sich die Bildzeitung diesbezüglich besonders hervor. Zwei der Hauptopfer wurden später zu Nobelpreisträgern gekürt. Neben Willy Brandt, dem, nach seinem Kniefall vor dem Warschauer-Ghetto-Mahnmal, vorgeworfen wurde ein „Vaterlandsverräter“ zu sein, wurde auch Heinrich Böll, der, nachdem er sich über die kampagnenartige RAF Berichterstattung der Bildzeitung echauffierte, als „Helfershelfer“ von Terroristen bezeichnet, vom Nobelkomitee ausgewählt. Bundestrainer Helmut Schön, ein eher konservativer Mann, pflegte einen ganz anderen Führungsstil als seine Vorgänger und gab den mündigen Spielern - so wie er selbst einer war - Mitspracherechte. Schön war bekannt für seine kultivierte Art und seine leisen Töne. Er galt als Schöngeist und Fußballästhet. Auch deswegen spielte die Nationalmannschaft unter Schöns Führung meist einen offensiven und erfolgreichen Fußball, der noch heute Fußballromantiker vor Wonne seufzen lässt. Schöns Karriere begann zwar während der Nazizeit. Ein Nazi war er trotzdem nie, ein Widerständler aber auch nicht. In der frisch gegründeten DDR wurde er kurz Nationaltrainer, bevor er in Ungnade fiel und in den Westen floh. Eine Gesellschaft war jedenfalls in Bewegung geraten und es ist eigentlich kaum zu glauben, dass 1977 Horst-Gregorio Canellas in der in Mogadischu befreiten „Landshut“-Maschine saß. Eben dieser Canellas hatte im Juni 1971 den Bundesliga-Bestechungsskandal ausgelöst; undEr sagte nach der Geiselbefreiung: „Mogadischu hatte noch menschliche Züge. Der Skandal war schlimmer, viel schlimmer.“ 1974, bei der Fußballweltmeisterschaft in Deutschland, dann das Deutsch-Deutsche Duell. Der kurz zuvor zurückgetretene Willy Brandt, dessen Leben nicht nur aus Fußball bestand, interessierte sich weniger dafür, sein Sohn Matthias, inzwischen ein bekannter Schauspieler, dagegen sehr. Er durfte für seinen Vater im Aktuellen Sportstudio auf die Torwand schießen. Fußball ist immer auch Zeitgeschichte. Ernst Reuß, ehemals sehr fußballaffin, lebt als Autor und Publizist in Berlin. Zuletzt veröffentlichte er „Endzeit und Neubeginn. Berliner Nachkriegsgeschichten“ im Metropol Verlag. Literatur: Werner Skrentny: Julius Hirsch. Biografie eines jüdischen Fußballers, 352 S. Henry Wahlig/Lorenz Peiffer: Jüdische Fußballvereine im nationalsozialistischen Deutschland. Eine Spurensuche. 576 S. Bernd-M. Beyer: Helmut Schön. 544 S. und Die Saison der Träumer, Schieber, Spieler und Rebellen. 352 S. Ronald Reng, 1974 – Eine deutsche Begegnung, Als die Geschichte Ost und West zusammenbrachte; 432 S.
Der 1974 in St. Petersburg geborene ehemalige Chefredakteur des GEO Magazins in Russland und heutiger Redakteur der Deutschen Welle Vladimir Esipov, erklärt ausgesprochen lesenswert und mit sehr viel Empathie für seine Landsleute die Entwicklung seiner Heimat in den letzten Jahrzehnten.
Russland ist das größte Land des Kontinents und hat sich in den letzten vierzig Jahren unter den Protagonisten Gorbatschow, Jelzin und Putin extrem verändert. Vieles von dem was dort an Katastrophen geschah hat man hierzulande bereits wieder weitestgehend vergessen. Die westeuropäische Erwartung, dass man dieses riesige Russland innerhalb weniger Jahre in eine westliche Konsumgesellschaft umwandeln kann, so wie das Baltikum, die DDR oder Polen, trat nicht ein. Warum das nicht geschah, versucht Esipov verständlich zu machen. Alles dort schien in die richtige Richtung zu laufen und Russland wurde dank seiner Energiereserven wohlhabend, aber dann kam 2014 die Maidan-Revolution in Kiew und in der russischen politischen Elite entstand die Berürchtung, dass von der Ukraine eine Gefahr ausgeht. Man hatte Angst, dass sich in Russland etwas Ähnliches wiederholen könnte. Seitdem rollt die Propagandamaschine in den von Putin gleichgeschalteten Staatsmedien. Seit Jahren wird dort erklärt, dass die Ukrainer von Nazis regiert werden und dass Russen dort gemeuchelt würden. Es ist eine Dauerbeschallung auf allen Kanälen, aus der dann eine vermeintliche Wahrheit entstand, an die inzwischen die Mehrheit des Volkes glaubt. Esipov sagt: „Die Bevölkerung steht ziemlich geschlossen hinter ihrem Präsidenten. Und wer den Krieg nicht unterstützt, schweigt, trinkt oder setzt sich ins Ausland ab.“ Für Westeuropäer ist das alles oft nur schwer zu verstehen. So konnte es zu diesem absurden Krieg zwischen zwei Ländern kommen, die eine jahrhundertelange Geschichte und millionenfache Verwandtschaften und Freundschaften verband. Inzwischen scheint nachvollziehbarerweise Hass das Gefühl zu sein, das die meisten Ukrainer für Russland empfinden, sagt Esipov. Dennoch führt - laut Esipov - Putin seinen Kreuzzug nicht unbedingt gegen die Ukraine, sondern gegen den ganzen westlichen Lebensstil. Er schreibt: „Die ganze Annäherung ist passé, (...) die ‚Wandel durch Handel‘-Beschwörungen entpuppten sich als ein selbstbetrügerisches Feigenblatt der deutschen Wirtschaft, als ein Alibi für Milliardeninvestitionen in ein Land, das westliches Geld wollte, aber nicht die Idee der Freiheit. (...) Es gibt inzwischen mehr als zehn Sanktionspakete, es gibt keine Direktflüge zwischen Berlin und Moskau, zwischen der EU und Russland, und die Ostsee-Pipeline Nord Stream, ein Milliardenprojekt, ist durch einen gezielten Anschlag zerstört. Die heile Welt der demonstrativen deutsch-russischen Zuneigung, wie wir sie bis 24. Februar 2022 kannten, gibt es nicht mehr.“ Ernst Reuß Vladimir Esipov, Die russische Tragödie, Wie meine Heimat zum Feind der Freiheit wurde, München 2024, 320 Seiten, 18 €.
Als Urlaubslektüre gehen historische Krimis immer. Die historische Krimireihe aus den 1920ern von Thomas Ziebula wird jetzt nach dem vierten Teil wohl beendet.
Hauptdarsteller ist der aus der Kriegsgefangenschaft traumatisiert zurückgekehrte sozialdemokratische Kriminalinspektor Paul Stainer. Der Autor führt uns dabei in das Leipzig der Zwischenkriegsjahre. Genauso wie in dem inzwischen berühmte Vorbild Babylon Berlin versuchen dort Menschen, denen die Demokratie ein Dorn im Auge ist, mit allen Mitteln die Weimarer Republik zu zerstören. In der Wächterburg, Leipzigs Polizeipräsidium, ermittelt Paul Stainer im politisch aufgeheizten Leipzig, wo rechte Kräfte ihre Netze spannen und Kriminelle ihrem Handwerk nachgehen. Aufgrund der turbulenten Zeit gab es viel Stoff zu verarbeiten. Durchaus spannend erzählte Zeitgeschichte bei der oft konstruierte und reale Ereignisse verknüpft werden. Die Verknüpfung von konstruierten und realen Ereignissen gelingt dabei nicht immer gleich gut. Im letzten Band geht es um eine grausame Mordserie. Erst als auf der Technischen Messe Leipzig Eva-Maria Dorn, die Gattin eines erfolgreichen Ingenieurs und Unternehmers, entführt und vergewaltigt wird, scheint der Fall der „Bestie von Leipzig“ eindeutig, doch auch in Eva-Maria Dorn steckt mehr als das unschuldige Opfer. Jeder Band der Reihe ist einzeln lesbar. Zum besseren Verständnis empfiehlt es sich jedoch mit Band 1 zu beginnen. Die ersten beiden Bände gibt es bereits als Taschenbuch. Ernst Reuß Thomas Ziebula, Der rote Judas, Historischer Leipzig-Krimi, Paul Stainer Band 1. Rowohlt Wunderlich, Hamburg 2021, 480 Seiten, 12 Euro. Thomas Ziebula, Abels Auferstehung, Historischer Leipzig-Krimi. Paul Stainer, Band 2. Rowohlt Wunderlich, Hamburg 2022, 464 Seiten, 10 Euro. Thomas Ziebula, Engel des Todes , Historischer Leipzig-Krimi. Paul Stainer, Band 3, Rowohlt Wunderlich, Hamburg 2022, 384 Seiten, 20 Euro. Thomas Ziebula, Evas Rache, Historischer Leipzig-Krimi. Paul Stainer, Band 4, Rowohlt Wunderlich, Hamburg 2024, 384 Seiten, 24 Euro.
Christian Neef, ein ausgewiesener Experte für Russland, lebte als Spiegelredakteur 16 Jahre in Moskau. Heute arbeitet er als freier Autor und veröffentlichte mehrere Bücher zur russischen Geschichte, zuletzt das hervorragende Buch über den Untergang der deutschen Gemeinde von St. Petersburg.
Christian Neefs kenntnisreiches neues Buch „Das Schattenregime“ handelt davon wie der sowjetische Geheimdienst nach dem 2. Weltkrieg als eine Art „Nebenregierung“ in der sowjetischen Besatzungszone und dann in der DDR agierte. Während Stalins Herrschaft waren Willkür, Verhaftungen und Deportationen alltäglich, da nützen auch keine Einwände von Walter Ulbricht oder Wilhelm Pieck. Die Entführungen wichtiger Wissenschaftler und Demontagen geschahen auf geheimdienstliche Anweisung. Der sowjetische Geheimdienst gab sich auch in Deutschland erbarmungslos. Ein Klima von Angst und Gewalt entstand, welches das russische Staatswesen damals wie heute kennzeichnet, schreibt Neef. Das Tagebuch des KGB-Generals Iwan Alexandrowitsch Serow diente dabei als eine zentrale Quelle. 5700 Seiten eng beschriebene Seiten, die erst vor nicht allzu langer Zeit entdeckt wurden. Serow hatte die Aufzeichnungen offenbar für den Fall versteckt, falls er selbst einmal Opfer von Säuberungen werden sollte. Anders als beispielsweise Schuckow oder Bersarin ist Serow - wie es sich für einen Geheimdienstler gehört - der Öffentlichkeit weitgehend unbekannt. Serow war bei der Kapitulation der deutschen Wehrmacht in Berlin und als Chef der gesamten Zivilverwaltung der SMAD auch für Sicherheitsfragen zuständig. Die Aufgabe lautete Aufdeckung von „Spionen, Diversanten, Terroristen, Mitgliedern faschistischer Organisationen und aktiven feindlichen Elementen“. Offiziell wurde Serow als Mitglied der SMAD geführt. Zuvor hatte er bereits in der Sowjetunion Deportationen organisiert, die polnische Armee entwaffnet und dort antisowjetische Kräfte eliminiert. Danach wurde er der erste Vorsitzende des KGB in der Sowjetunion und leitete 1956 die KGB-Operationen gegen den ungarischen Volksaufstand. In der unmittelbaren Nachkriegszeit versuchte der russische Geheimdienst und damit Serow, die Geschicke Deutschlands im stalinistischen Sinne zu lenken. Man schreckte dabei auch nicht davor zurück, die Politik der eigenen Militärregierung zu hintertreiben. Die sowjetischen Staatssicherheitsorgane seien „gerade im besetzten Deutschland eine besonders krasse Verkörperung des stalinistischen totalitären Regimes“ gewesen, heißt es. Neef betrachtet Wladimir Putin als Serows Erbe. Der Abzug aus der DDR sei ein grober Fehler des Verräter Gorbatschow gewesen, denken heutzutage einige wichtige Menschen in Russland. All jenen, die in Deutschland glauben, der Krieg in der Ukraine gehe Deutschland nichts an, versucht Neef mit seinem Buch zu warnen. Er schreibt: „Während die Verfolgungsbehörden früher meist im Verborgenen wirkten, zählen jene, die heute in diesen Diensten arbeiten, ganz offen zur Elite des Landes. Keine andere Gruppe in Russland hat eine solche Macht erlangt wie das Militär, die Polizisten, Nationalgardisten und Geheimdienstler. (...) In den vergangenen mehr als zwanzig Jahren unter Putin haben die Sicherheitsorgane das gesamte Land übernommen. Vertreter und Vertrauensleute dieser Organe sitzen an den Schaltstellen des Parlaments und der Regionalverwaltungen, des Justizapparates und der Polizei. Darüber thront das Untersuchungskomitee, die wichtigste föderale Ermittlungsbehörde Russlands, die bis hin zur Presse alle Ebenen überwacht und von der Präsidialadministration gesteuert wird.“ Doch der Arm des russischen Geheimdienstes reicht auch heute noch bis nach Deutschland. Fast 200 ihrer Agenten saßen bis 2023 allein in der Berliner Botschaft, getarnt als Diplomaten. Der Mord im Berliner Tiergarten, russische Agenten im Bundesnachrichtendienst (BND), Fake News und ständige Versuche, auf das politische Geschehen in der Bundesrepublik Einfluss zu nehmen, sind nur einige Beispiele für deren Aktivitäten. Lesenswert! Ernst Reuß Christian Neef, Das Schattenregime. Wie der sowjetische Geheimdienst nach 1945 Deutschland terrorisierte, Propyläen Verlag, Berlin 2024, 320 Seiten, 28 €.
Erst kürzlich vertagte das Oberverwaltungsgericht Nordrhein-Westfalen in Münster das Verfahren in Sachen AfD gegen den Bundesverfassungsschutz, in dem es um die Einstufung der AFD als „extremistischen Verdachtsfall“ ging. Inzwischen prüft der Bundesverfassungsschutz, ob er die AfD vom Verdachtsfall in die Kategorie „gesichert extremistische Bestrebung“ hochstuft, was für verbeamtete Parteimitglieder der AfD wohl Konsequenzen haben würde. Auf Länderebene gibt es das ja bereits schon öfters. Daneben wird weiter heftig über ein Verbot dieser Partei diskutiert.
Argumente für ein Verbot liefert das Buch von Hendrik Cremer, der im Deutschen Institut für Menschenrechte zu Rassismus und Rechtsextremismus forscht. Er sammelte Beweise, die zeigen, welche völkischen und verfassungsfeindlichen Ziele die Partei heute verfolgt und wie es ihr gelingt, die öffentlichen Debatten zu beeinflussen, sei es in Talkshows oder in unkritischen Interviews. Bereits der Parteitag der Alternative für Deutschland im Sommer 2015 war ein Wendepunkt zur Radikalisierung der Partei nach ganz rechts. Damals setzte sich Frauke Petry gegen den euroskeptischen Gründer Bernd Lucke durch, der die AfD in der Folge verließ. Inzwischen sind Petry und Lucke Geschichte, genauso wie viele andere rechtspopulistische Parteimitglieder. Der völkische Flügel um ihren Führer Höcke hat sich vollkommen durchgesetzt. Hendrik Cremer charakterisiert die AfD mit nachvollziehbaren Bewertungen als rechtsextreme Partei. Die AfD ist laut Cremer eine Partei, die die Menschenwürde vieler in Deutschland lebender Menschen nicht achtet, Gewalt befürwortet und die Grund- und Menschenrechte systematisch in Frage stellt. Am Ende der Lektüre des Buches fragt man sich, warum es noch nicht schon längst das Parteiverbotsverfahren gibt, denn sehr deutlich belegt der Autor wie gefährlich die AfD ist. Was sie will machen die führenden Parteimitglieder immer wieder mehr als deutlich. Die Beweisführung zum rechtsextremen Charakter der AfD konzentriert sich auf Aussagen der Führungsfiguren Höcke, Weidel, Gauland und Chrupalla. Hendrik Cremer belegt das alles mit öffentlichen Zitaten. Eigentlich müsste sie jeder kennen. Erschreckend! Im anstehende Wahljahr sei ein Verbot wegen der Länge des Verfahrens jedoch keine sinnvolle Option mehr, meint Cremer, fordert aber die „längst überfällige Einstufung der AfD als ‚erwiesen rechtsextremistische Bestrebung‘“. Laut Cremer erhebt die „AfD den totalitären Anspruch, Menschen zu Objekten zu degradieren, nach Gutdünken über sie zu entscheiden und zu verfügen“, „was Deportationen deutscher Staatsangehöriger einschließt“. Er resümiert: „Käme die AfD an die Macht, wäre niemand mehr in diesem Land sicher“. Schon 2018 sprach Höcke in einem Buch von der Notwendigkeit eines „großangelegten Remigrationsprojekts“, das eine Politik der „wohltemperierten Grausamkeit“ erfordere. Wer sich noch mal auf den neuesten Stand bringen möchte, welche Ziele die AfD heute verfolgt, kann das in dem Buch nachlesen. Gut recherchiert und schnell zu lesen möge es viele Leser finden. Ernst Reuß Hendrik Cremer: „Je länger wir schweigen, desto mehr Mut werden wir brauchen“, Berlin Verlag, Berlin 2024. 240 Seiten, 22 Euro
Die Geschichte, die Albrecht Weinberg von seinem Leben erzählt ist herzzerreißend. Er erzählt wie er in seiner ostfriesischen Heimat zuerst diskriminiert und dann vertrieben wurde. Die Demokratie starb allmählich, doch dann ging alles sehr schnell. Selbst in der tiefsten idyllischen Provinz wirkte das antisemitisch rassistische Gift der Nazis und wie das geschah ist unfassbar, denn jeder Dorfbewohner kriegte das mit. Albrecht Weinberg war im „Fehndorf“ Rhauderfehn in Ostfriesland aufgewachsen. Bereits 1936 durften die Kinder nicht mehr die reguläre Schule besuchen. Auch Ostfriesland wurde „judenrein“ gemacht. Nach den Novemberpogromen 1938 versuchten die Eltern zumindest den Kindern die Auswanderung nach Palästina zu ermöglichen, doch als die Auswanderung dorthin erfolgen sollte, war es Menschen jüdischen Glaubens schon verboten Deutschland zu verlassen.
Albrecht Weinberg musste Zwangsarbeit verrichten, überlebte drei Todesmärsche und wurde im April 1945 in Bergen-Belsen befreit. Nur wenige Familienmitglieder überlebten den Holocaust. Seine Eltern wurden in Auschwitz ermordet. Er, sein Bruder Dieter und seine Schwester Friedel überlebten jedoch das Vernichtungslager Auschwitz. Der Bruder starb tragischerweise jedoch kurz nach dem Krieg. Zusammen mit seiner Schwester Friedel wanderte Albrecht Weinberg 1947 in die USA aus. Mehr als 60 Jahre lebten sie zusammen in New York. Als seine Schwester Friedel im Alter einen Schlaganfall erlitt, kamen die Geschwister 2012 nach Leer zurück. Friedel starb kurz danach in ihrer alten Heimat. Albrecht Weinberg begann nun endlich zu sprechen und besuchte in der Folgezeit zunehmend Schulen. Dadurch fand er späte Anerkennung. In Rhauderfehn gibt es seit 2006 eine Geschwister-Weinberg-Straße. Albrecht wurde Ehrenbürger und das Gymnasium, das er ab 1936 nicht mehr besuchen durfte, wurde inzwischen nach ihm benannt, nachdem ihm dort 2021 das Ehrenabitur verliehen wurde. Die Schülersprecher ehrten ihn mit den Worten: „In den vergangenen Jahren haben Sie uns Schülerinnen und Schülern immer wieder Ihre Geschichte erzählt, für uns haben Sie das Grauen, das Ihnen widerfahren ist, erneut durchlebt, um uns etwas beizubringen, das so viel wichtiger ist als viele der schulischen Inhalte: Was es bedeutet, ausgegrenzt und gehasst zu werden, dass Respekt und Achtung vor unseren Mitmenschen wichtiger sind denn je, und vor allem, dass wir eine Stimme haben, die im Angesicht großer Ungerechtigkeit nicht verstummen darf.“ Eine andere nicht weniger herzzerreißende Lebensgeschichte ist die von Lidia Maksymowicz. In ihren Erinnerungen „Ich war zu jung, um zu hassen.“ erzählt sie von ihrer Leidenszeit in Auschwitz. Sie wurde im Alter von drei Jahren nach Auschwitz deportiert und überlebte das Vernichtungslager nur, weil sie von Josef Mengele für seine grausamen Experimente ausgewählt wurde. Lidias Familie wurde bei Ankunft dort „selektiert“. Die Großeltern wurden sofort in der Gaskammer ermordet, ihre belarussische Mutter musste Zwangsarbeit leisten, während Lidia als Mengeles Versuchskaninchen in die Kinderbaracke geschickt wurde. Lidia erzählt in dem Buch auch von der Suche nach der eigenen Identität und nach ihrer leiblichen Mutter, die Auschwitz in einem der letzten Todesmärsche verlassen musste. Auch sie überlebte und suchte nach dem Krieg in Auschwitz vergeblich nach ihrer Tochter, bevor sie in ihre Heimat zurückkehrte. Lidia wurde nach dem Krieg von einer Polin aus Auschwitz adoptiert und lebte nun dort. Sie kannte auch kaum etwas anderes. Erst im Erwachsenenalter fand sie ihre leibliche Mutter in Belarus wieder. Schwierige Zeiten für alle Beteiligten, denn ihre leibliche Mutter ging davon aus, dass sie nun wieder bei ihr leben würde. Doch Lidia hatte ihre Heimat in Auschwitz gefunden und blieb. Sie lebt bis heute in der Nähe, in Krakau. Ernst Reuß Nicolas Büchse, Albrecht Weinberg - »Damit die Erinnerung nicht verblasst wie die Nummer auf meinem Arm«, Eine wahre Geschichte vom Holocaust, dem Überleben und einem Versprechen, das die Zeit überdauert, München 2024, 288 Seiten, 20 Euro. Lidia Maksymowicz, Paolo Rodari, Ich war zu jung, um zu hassen. Meine Kindheit in Auschwitz, München 2024, 192 Seiten, 22 Euro.
Mordechai Strigler, der 1998 als 80-Jähriger in New York starb, war ein Schriftsteller, Journalist und Überlebender der Shoah. Er schuf mit seiner Buchreihe „Verloschene Lichter“ ein literarisches Denkmal für die Opfer der nationalsozialistischen Vernichtungspolitik.
Bereits kurz nach seiner Befreiung aus dem Konzentrationslager Buchenwald im April 1945 begann er seine Erfahrungen in den Lagern literarisch zu verarbeiten. Er beschreibt die Lagerorganisation und das Lagerleben sowie den Umgang der jüdischen Gefangenen untereinander. Der beim Ausbruch des Zweiten Weltkriegs in Warschau ansässige Strigler, war nach Einmarsch der Deutschen zur Zwangsarbeit in unterschiedliche Arbeitslager geschickt worden. Er überlebte zwölf davon und emigrierte kurz nach seiner Befreiung nach Paris. Er selbst war mit der Zeit in „privilegiertere“ Kreise der jüdischen Lagerverwaltung aufgestiegen. Eltern und drei von sieben Schwestern wurden Opfer der Nazis. 1952 ging er nach New York und arbeitete bis zu seinem Tod für jiddische Zeitungen. Nach „Majdanek“, „In den Fabriken des Todes“ und „Werk C“ erschien nun der vierte und letzte Teil der Tetralogie in deutscher Erstausgabe. Das Buch heißt „Schicksale“ . Die Bücher waren zuvor nur auf Jiddisch veröffentlicht worden. In „Schicksale“ berichtet Strigler von den letzten Monaten in den HASAG-Werken im besetzten Polen, als die Munitionsfabrik letztendlich geschlossen und die Häftlinge im August 1944 nach Deutschland „evakuiert“ wurden. Es ist dem Herausgeber Frank Beer und der Übersetzerin Sigrid Beisel zu verdanken, dass diese Publikationenen nun auf Deutsch erscheinen. Beer, der bereits andere, nie auf Deutsch erschienene Augenzeugenberichte aus den Vernichtungslagern für deutsche Leser zugänglich gemacht hat, widmet sich dankenswerterweise diesen historischen Schätzen, um sie dem Vergessen zu entreißen. In seinen Zeitzeugenberichten beschreibt Strigler die grausamen Umstände, unter denen die jüdischen Gefangenen im Zwangsarbeiterlager der Hugo und Alfred Schneider AG (HASAG) Munition für den Krieg herstellen mussten. Die HASAG war ein in Leipzig ansässiges metallverarbeitendes deutsches Unternehmen, das auch als Rüstungskonzern vor allem nach dem deutschen Überfall auf die Sowjetunion von großer Bedeutung war. Die Fabrik war Munitionshauptlieferant im Osten, mehr als 10 000 Menschen arbeiteten im Lager. Striglers Bücher sind keine nüchterne Beschreibung des Alltags der jüdischen Häftlinge, sondern eine Aufarbeitung des Erlebten. Neben den Tatsachenschilderungen versucht Strigler in einem belletristischen Teil die erlebten Grausamkeiten zu beschreiben. Die Zwangsarbeit war gesundheitsgefährdend und wurde von sadistischen Mördern überwacht. Arbeiter, die als nicht mehr arbeitsfähig erachtet worden waren, wurden in den Wäldern der Umgebung erschossen. Über 20 000 jüdische Zwangsarbeiter fielen den Verhältnissen dort zum Opfer. Meist starben sie innerhalb von drei Monaten nach ihrer Ankunft, da die benutzten Säuren zu schweren Vergiftungen führten und für Juden keine Schutzkleidung vorgesehen war. Am Ende des Krieges wurden tausende Häftlinge aus den HASAG-Werken auf Todesmärsche geschickt. 1948 wurden 25 Mitarbeiter der HASAG vor Gericht gestellt und verurteilt. Der Chef des Werkes konnte nach dem Krieg untertauchen und wurde nie gefasst. Inzwischen begann man im Stammwerk Leipzig Kochtöpfe, Milchkannen, Lampen und ähnliches zu produzieren. Der VEB Leuchtenbau Leipzig hatte die Rechte an der Firma HASAG, die erst 1974 gelöscht wurde. Striglers Bücher sind keine einfachen Schilderungen des Alltags der jüdischen Häftlinge, sondern er beschreibt mit dem scharfen und bitteren Blick seines teilweise autobiographischen Protagonisten „Mechele“ - genauestens - sowohl die Opfer als auch die Täter. Ganz besonders in den Vernichtungslagern galt:„Homo homini lupus“ – Der Mensch ist des Menschen ein Wolf. Nichts für zart besaitete Gemüter. Ernst Reuß Mordechai Strigler (Hg. Frank Beer), Majdanek, Verloschene Lichter. Ein früher Zeitzeugenbericht vom Todeslager. Aus dem Jiddischen von Sigrid Beisel, Deutsche Erstausgabe März 2016, 228 Seiten, Paperback, 24,00 €. Mordechai Strigler (Hg. Frank Beer), In den Fabriken des Todes, Verloschene Lichter II. Ein früher Zeitzeugenbericht vom Arbeitslager Skarzysko-Kamienna. Aus dem Jiddischen von Sigrid Beisel, Deutsche Erstausgabe Juni 2017, 400 Seiten, Paperback, 29,80 €. Mordechai Strigler (Hg. Frank Beer), Werk C, Verloschene Lichter III. Ein Zeitzeugenbericht aus den Fabriken des Todes, Aus dem Jiddischen von Sigrid Beisel, Deutsche Erstausgabe Oktober 2019, 460 Seiten, Paperback, 32,00 €. Mordechai Strigler (Hg. Frank Beer), Schicksale. Verloschene Lichter IV. Ein früher Zeitzeugenbericht über die Opfer der Schoah, Aus dem Jiddischen von Sigrid Beisel, Deutsche Erstausgabe Januar 2024, 694 Seiten, Paperback, 48,00 €.
Atemlos berichtete der Autor und Journalist Uwe Wittstock 2021 in seinem Buch „Februar 33: Der Winter der Literatur“ über den ersten Monat nach Hitlers Machtübernahme. Chronologisch erzählt er Tag für Tag aus der Sicht berühmter Kunst- und Kulturschaffenden. Geradezu atemberaubend ist das Tempo, wie sich ihre Welt in diesem Monat veränderte. Schon im März 1933 sind viele der Protagonisten im Exil oder im Gefängnis. Wittstock schrieb: „Für die Zerstörung der Demokratie brauchten die Antidemokraten nicht länger als die Dauer eines guten Jahresurlaubs. Wer Ende Januar aus einem Rechtsstaat abreiste, kehrte vier Wochen später in eine Diktatur zurück.“
Nun hat Wittstock mit dem selben atemberaubenden Erzählstil sein neues Buch „Marseille 1940: Die große Flucht der Literatur“ geschrieben, in dem chronologisch das Leben der Literaten im französischen Exil erzählt wird, bevor die Flucht vor den Nazischergen weitergehen musste. Das Tempo, mit dem die Deutschen Frankreich überrannten, überraschte die Flüchtlinge genauso wie die französischen Truppen. Viele flohen zu den Häfen, nach Marseille, die größte Stadt in der unbesetzten Zone. Von Marseille aus wollten sie Europa verlassen, doch das war alles andere als einfach. Das Buch behandelt die Zeit zwischen Mai 1940 und August 1941. In Marseille kreuzten sich die Wege zahlreicher deutscher und österreichischer Schriftsteller, Intellektueller und Künstler. Das Buch dreht sich aber auch um den altruistischen amerikanischen Fluchthelfer Varian Fry, der in New York das Emergency Rescue Committee gründete, selbst nach Frankreich reiste und nun endlich auch in Deutschland ein wenig bekannter ist. Am Potsdamer Platz in Berlin ist inzwischen eine Straße nach ihm benannt. Fry war nach der Machtübernahme der Nazis als Journalist in Berlin und beobachtete mit Entsetzen was dort geschah. Später ermöglichte der Literaturenthusiast vielen Literaten, Intellektuellen und sonstigen Künstlern die Flucht, auch wenn das nicht einfach war und er selbst dafür einiges riskierte. Die weitgehend unbekannte Mary Jayne Gold half ihm dabei. Meist wurden die Flüchtlinge von Lisa und Hans Fittko auf kleinen Schmugglerpfaden nach Spanien gebracht, von wo die Flucht nach Übersee weiter gehen konnte. Die Fluchthelfer setzten dabei ihr Leben aufs Spiel, kehrten aber immer wieder zurück, um weiter zu helfen. Nicht allen konnte geholfen werden Walter Hasenclever, Ernst Weiß und Walter Benjamin brachten sich um, weil sie nicht länger flüchten wollten. Alfred Apfel starb bei der Fluchtplanung an einem Herzinfarkt im Büro von Varian Fry. Rudolph Breitscheid und Rudolf Hilferding zögerten zu lange, denn ihre Schiffspassage war von Fry schon gebucht. Sie wurden verraten, verhaftet und ermordet. Unter den von Fry geretteten über 2 000 Menschen befanden sich unter anderen Hannah Arendt, Ernst Josef Aufricht,Georg Bernhard, der Surrealist André Breton, die Maler Marc Chagall, Marcel Duchamp, Max Ernst, Wifredo Lam und André Masson, der geschwätzige „Frauenheld“ Lion Feuchtwanger, Leonhard Frank, Fritz Kahn, Siegfried Kracauer, Konrad Heiden, Heinz Jolles, Wanda Landowska, Jacques Lipchitz, Alma Mahler und ihr Mann Franz Werfel, Heinrich Mann, dessen von der Familie verachtete Frau Nelly und sein Neffe Golo, der immer wieder hysterische Walter Mehring, Otto Meyerhof, Soma Morgenstern, Hans Natonek, Hans Namuth, die beeindruckende Hertha Pauli, Alfred Polgar, Hans Sahl und Kurt Wolff. Allesamt waren nach dem 30. Januar 1933 aus Deutschland nach Frankreich geflohen und mussten nun erneut die Koffer packen. Sie standen ganz oben auf der Fahndungsliste der Nazi-Besatzungsmacht. Ihr Fluchthelfer Fry war ein Idealist, dessen Sturheit es ihm nicht immer leicht machte. Vor allem weil die USA eigentlich kein Interesse daran hatte politisch aktive, von den Nazis verfolgte Schriftsteller nach Amerika zu holen. Auch Juden wurden nicht mit offenen Armen empfangen. Von wegen „Refugees Welcome“. Fry fand nach dem Krieg nie wieder eine angemessene Anstellung, er wurde Werbetexter für Coca-Cola und starb 1967. Erst 1994 - lange nach seinem Tod -verlieh ihm die Gedenkstätte Yad Vashem den Titel „Gerechter unter den Völkern“. Bis dorthin wurden seine Taten kaum gewürdigt. In seinen Schilderungen der Geschehnisse erwähnte Heinrich Mann seinen Lebensretter mit keinem Wort. Eine deutschsprachige Biographie über den Lebensretter gibt es bis heute nicht, obwohl die deutsche Kulturgeschichte ihm doch einiges zu verdanken hat. Wittstock würdigt in „Marseille 1940“ Varian Fry auf seine eigene, sehr lesenswerte Art. Er hat damit zwei wunderbar erzählte Bücher verfasst, die die Fragilität einer Demokratie und deren brutale Zerstörung erfahrbar machen. Das neu verfasste Werk ist zudem ein Buch über den nackten Überlebenskampf von prominenten Flüchtlingen und eine Würdigung von altruistischen Fluchthelfern, die auch damals kriminalisiert wurden. Wittstock resümiert: „Neben jeder Person, die in diesem Buch erwähnt wird, standen Hunderte oder Tausende andere, die das gleiche Recht hätten, in Erinnerung gebracht zu werden. Mehr noch, manche der Schicksale, von denen hier erzählt wird, waren dicht verflochten mit Schicksalen, die nicht geschildert werden konnten, damit das Buch nicht ins Uferlose wuchs.“ Ernst Reuß Uwe Wittstock: „Februar 33: Der Winter der Literatur“, München 2021, 287 Seiten, 24 Euro. Uwe Wittstock: „Marseille 1940: Die große Flucht der Literatur“, München 2024, 351 Seiten, 26 Euro. |
AutorErnst Reuß, geboren 1962 in Franken. Studium der Rechtswissenschaften in Erlangen und Wien. Promotion an der Humboldt - Universität zu Berlin. Danach als wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Freien Universität Berlin und im Bundestag beschäftigt. Archiv
Juli 2024
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