Atemlos berichtete der Autor und Journalist Uwe Wittstock 2021 in seinem Buch „Februar 33: Der Winter der Literatur“ über den ersten Monat nach Hitlers Machtübernahme. Chronologisch erzählt er Tag für Tag aus der Sicht berühmter Kunst- und Kulturschaffenden. Geradezu atemberaubend ist das Tempo, wie sich ihre Welt in diesem Monat veränderte. Schon im März 1933 sind viele der Protagonisten im Exil oder im Gefängnis. Wittstock schrieb: „Für die Zerstörung der Demokratie brauchten die Antidemokraten nicht länger als die Dauer eines guten Jahresurlaubs. Wer Ende Januar aus einem Rechtsstaat abreiste, kehrte vier Wochen später in eine Diktatur zurück.“
Nun hat Wittstock mit dem selben atemberaubenden Erzählstil sein neues Buch „Marseille 1940: Die große Flucht der Literatur“ geschrieben, in dem chronologisch das Leben der Literaten im französischen Exil erzählt wird, bevor die Flucht vor den Nazischergen weitergehen musste. Das Tempo, mit dem die Deutschen Frankreich überrannten, überraschte die Flüchtlinge genauso wie die französischen Truppen. Viele flohen zu den Häfen, nach Marseille, die größte Stadt in der unbesetzten Zone. Von Marseille aus wollten sie Europa verlassen, doch das war alles andere als einfach. Das Buch behandelt die Zeit zwischen Mai 1940 und August 1941. In Marseille kreuzten sich die Wege zahlreicher deutscher und österreichischer Schriftsteller, Intellektueller und Künstler. Das Buch dreht sich aber auch um den altruistischen amerikanischen Fluchthelfer Varian Fry, der in New York das Emergency Rescue Committee gründete, selbst nach Frankreich reiste und nun endlich auch in Deutschland ein wenig bekannter ist. Am Potsdamer Platz in Berlin ist inzwischen eine Straße nach ihm benannt. Fry war nach der Machtübernahme der Nazis als Journalist in Berlin und beobachtete mit Entsetzen was dort geschah. Später ermöglichte der Literaturenthusiast vielen Literaten, Intellektuellen und sonstigen Künstlern die Flucht, auch wenn das nicht einfach war und er selbst dafür einiges riskierte. Die weitgehend unbekannte Mary Jayne Gold half ihm dabei. Meist wurden die Flüchtlinge von Lisa und Hans Fittko auf kleinen Schmugglerpfaden nach Spanien gebracht, von wo die Flucht nach Übersee weiter gehen konnte. Die Fluchthelfer setzten dabei ihr Leben aufs Spiel, kehrten aber immer wieder zurück, um weiter zu helfen. Nicht allen konnte geholfen werden Walter Hasenclever, Ernst Weiß und Walter Benjamin brachten sich um, weil sie nicht länger flüchten wollten. Alfred Apfel starb bei der Fluchtplanung an einem Herzinfarkt im Büro von Varian Fry. Rudolph Breitscheid und Rudolf Hilferding zögerten zu lange, denn ihre Schiffspassage war von Fry schon gebucht. Sie wurden verraten, verhaftet und ermordet. Unter den von Fry geretteten über 2 000 Menschen befanden sich unter anderen Hannah Arendt, Ernst Josef Aufricht,Georg Bernhard, der Surrealist André Breton, die Maler Marc Chagall, Marcel Duchamp, Max Ernst, Wifredo Lam und André Masson, der geschwätzige „Frauenheld“ Lion Feuchtwanger, Leonhard Frank, Fritz Kahn, Siegfried Kracauer, Konrad Heiden, Heinz Jolles, Wanda Landowska, Jacques Lipchitz, Alma Mahler und ihr Mann Franz Werfel, Heinrich Mann, dessen von der Familie verachtete Frau Nelly und sein Neffe Golo, der immer wieder hysterische Walter Mehring, Otto Meyerhof, Soma Morgenstern, Hans Natonek, Hans Namuth, die beeindruckende Hertha Pauli, Alfred Polgar, Hans Sahl und Kurt Wolff. Allesamt waren nach dem 30. Januar 1933 aus Deutschland nach Frankreich geflohen und mussten nun erneut die Koffer packen. Sie standen ganz oben auf der Fahndungsliste der Nazi-Besatzungsmacht. Ihr Fluchthelfer Fry war ein Idealist, dessen Sturheit es ihm nicht immer leicht machte. Vor allem weil die USA eigentlich kein Interesse daran hatte politisch aktive, von den Nazis verfolgte Schriftsteller nach Amerika zu holen. Auch Juden wurden nicht mit offenen Armen empfangen. Von wegen „Refugees Welcome“. Fry fand nach dem Krieg nie wieder eine angemessene Anstellung, er wurde Werbetexter für Coca-Cola und starb 1967. Erst 1994 - lange nach seinem Tod -verlieh ihm die Gedenkstätte Yad Vashem den Titel „Gerechter unter den Völkern“. Bis dorthin wurden seine Taten kaum gewürdigt. In seinen Schilderungen der Geschehnisse erwähnte Heinrich Mann seinen Lebensretter mit keinem Wort. Eine deutschsprachige Biographie über den Lebensretter gibt es bis heute nicht, obwohl die deutsche Kulturgeschichte ihm doch einiges zu verdanken hat. Wittstock würdigt in „Marseille 1940“ Varian Fry auf seine eigene, sehr lesenswerte Art. Er hat damit zwei wunderbar erzählte Bücher verfasst, die die Fragilität einer Demokratie und deren brutale Zerstörung erfahrbar machen. Das neu verfasste Werk ist zudem ein Buch über den nackten Überlebenskampf von prominenten Flüchtlingen und eine Würdigung von altruistischen Fluchthelfern, die auch damals kriminalisiert wurden. Wittstock resümiert: „Neben jeder Person, die in diesem Buch erwähnt wird, standen Hunderte oder Tausende andere, die das gleiche Recht hätten, in Erinnerung gebracht zu werden. Mehr noch, manche der Schicksale, von denen hier erzählt wird, waren dicht verflochten mit Schicksalen, die nicht geschildert werden konnten, damit das Buch nicht ins Uferlose wuchs.“ Ernst Reuß Uwe Wittstock: „Februar 33: Der Winter der Literatur“, München 2021, 287 Seiten, 24 Euro. Uwe Wittstock: „Marseille 1940: Die große Flucht der Literatur“, München 2024, 351 Seiten, 26 Euro. Comments are closed.
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AutorErnst Reuß, geboren 1962 in Franken. Studium der Rechtswissenschaften in Erlangen und Wien. Promotion an der Humboldt - Universität zu Berlin. Danach als wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Freien Universität Berlin und im Bundestag beschäftigt. Archiv
Juni 2024
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