Von 1712 bis 1918 war St. Petersburg die Hauptstadt des Zarenreiches, eine glanzvolle Epoche in der Geschichte der Stadt. St. Petersburg hatte Ende des 19. Jahrhunderts 1,3 Millionen Einwohner. Im früheren Zentrum der russischen Macht war damals „Multikulti“ angesagt. Auch an die 50 000 Deutsche haben damals dort gelebt. Sie stellten die größte ethnische Gruppe nach den Russen. In jener Zeit sind ein Drittel der Geschäfte und Salons entlang des berühmten Newski Prospekts deutsch und es gibt viele deutsche Vereine sowie zwei deutsche Zeitungen. Nicht wenige Migranten aus Deutschland wurden zu anerkannten Honoratioren. Christian Neef beschreibt einige dieser Deutschen, darunter das Brüderpaar Kirchner, dern Apotheker Poehl, Pastor Maaß, dern Kolonisten Peter Amann und dern Musiker Oskar Böhme. Sie alle lebten in St. Petersburg um die Jahrhundertwende, als die deutsche Gemeinde im höchsten Ansehen stand. Der Spiegelkorrespondent Neef, der sich schon viele Jahre mit Osteuropa beschäftigt, erzählt in seinem Buch „Der Trompeter von St. Petersburg“ vom Schicksal dieser Familien. Es ist eine geschichtliche Lehrstunde, die im Zarenreich beginnt, sich über die russische Revolution fortsetzt und im stalinistischen Terror endet. „Glanz und Untergang der Deutschen an der Newa“ ist der Untertitel seines Buches und so verlief auch der Lebensweg vieler Deutscher. Trotzdem viele deutsche Migranten sehr erfolgreich und oft sogar russische Staatsbürger wurden, half ihnen das was ihnen aber spätestens bei der stalinistischen Säuberungswelle wenig. Ende 1938 sind nahezu alle Deutschen im ehemaligen St. Peterburg den Säuberungen zum Opfer gefallen.
Schon in den Jahren des Ersten Weltkriegs wurde das Leben für die Deutschen sehr viel schwieriger, denn beispielsweise wurde der Gebrauch jedes deutschen Wortes mit 3 000 Rubel Strafe oder 3 Monate Gefängnis bestraft. Richtig schwierig wurde es jedoch erst nach der Russischen Revolution. Karl und Otto Kirchner, Inhaber einer großen Schreibwarenfabrik, deren Abreißkalender überaus populär waren, wurden nun als Kapitalisten von der eigenen Belegschaft angefeindet und enteignet, konnten aber nach Berlin fliehen. Enteignet wurde letztendlich auch die Apothekendynastie Poehl, die Besitzer Eigentümer der bekanntesten Apotheke der Stadt, die den ZarenhHofZarenhof belieferte. Auch sie flohen schließlich nach Berlin. Pastor Eduard Maaß konnte sich mit seiner Familie früh nach Ostpreußen absetzen, wo später sein Enkel, der bekannte Schauspieler Armin Mueller-Stahl geboren wurde. Nach der Revolution war nur noch ein Drittel der Deutschen in St. Petersburg übriggeblieben. Die meisten waren emigriert, doch viele andere hatten das Glück nicht und hofften, weiterhin im inzwischen umbenannten Petrograd unbehelligt leben zu dürfen. Doch dem war nicht so. Deutsche Kirchen wurden mangels Personal geschlossen, nachdem man die deutschstämmige Pastoren zusammen mit Gemeindemitgliedern wegen angeblicher Bildung von „faschistischen Untergrund-Kirchen-Organisationen“ erschossen hatte. Peter Amann, der selbst Bolschwik wurde, überlebte die Säuberung nicht. Er wurde am letzen Tag der Massenerschießungen ermordet. Schon alleine der deutsche Migrationshintergrund machte jemanden schuldig. Wenn es galt, das vorgegebene Soll an Hinrichtungen zu erfüllen, waren die Deutschen besonders gefährdet. Auch Oskar Böhme, der ebenso wie Peter Amann russischer Staatbürger war, wurde zu einem der letzten Opfer des stalinistischen „Großen Terrors“. Er war inzwischen ein äußerst bekannter und erfolgreicher Musiker und Komponist, der als Trompeter schon 1892 bei den Bayreuther Festspielen bejubelt worden war und 1898 nach St. Petersburg übersiedelte. Nun wurde er nach einer absurdenr Beweisführung erschossen. Neef lässt die Akten sprechen. Böhme wurde 1989 rehabilitiert. Im November 1938 wurde der Terror gestoppt, an die 700 000 Menschen wurden alleine zwischen 1937 und 1938 erschossen, davon ungefähr 41 000 allein in Leningrad, so wie St. Petersburg inzwischen hieß. Christian Neef ist ein beeindruckendes Zeitdokument gelungen. Ernst Reuß Christian Neef: Der Trompeter von Sankt Petersburg. Glanz und Untergang der Deutschen an der Newa, Siedler Verlag, München 2019. 383 Seiten, 28 Euro. Comments are closed.
|
AutorErnst Reuß, geboren 1962 in Franken. Studium der Rechtswissenschaften in Erlangen und Wien. Promotion an der Humboldt - Universität zu Berlin. Danach als wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Freien Universität Berlin und im Bundestag beschäftigt. Archiv
März 2024
|