Sobibor ist nicht nur der Namen eines furchterregenden Vernichtungslagers, sondern auch Synonym für den Widerstand der geknechteten und gequälten jüdischen Häftlinge. Am 14. Oktober 1943 kam es im NS-Vernichtungslager Sobibor zu einem Aufstand, bei dem mindestens 12 SS-Männer und 10 ukrainische Helfer getötet wurden. Danach wurde das Lager von den Nazis aufgegeben und die Spuren verwischt. Die Rote Armee war nicht mehr weit.
Für den Aufstand hatten sich ungefähr 50 Verschwörer zusammengetan, die noch als Arbeiter gebraucht wurden und daher nicht sofort vergast worden waren. Sie wussten jedoch was auch ihnen bevorstand, denn sie sahen die ankommenden Züge und erlebten was tagtäglich in den Gaskammern geschah. Unter dem Kugelhagel der alarmierten ukrainischen Wachleute wurde von den Häftlingen das Lagertor durchbrochen, um in den nahen Wald zu fliehen. Im Kugelhagel und im Minenfeld starben etliche schon beim Fluchtversuch. Danach begann eine mörderische Hetzjagd, der auch viele zunächst erfolgreich Geflüchtete zum Opfer fielen. Von den 550 Insassen zum Zeitpunkt des Aufstands sollten nur 53 die nächsten Monate überleben. Einer davon war der 1906 in Chełm/Polen, unweit der ukrainischen Grenze, geborene Kalem Wewryk. Bereits 1984 verfasste er auf jiddisch seine Autobiographie. Howard Roiter übersetzte sie ins Englische und veröffentlichte 1999, zehn Jahre nach Wewryks Tod, das Buch „To Sobibór and Back: An Eyewitness Account“ in Kanada. Es ist dem Metropol Verlag in Zusammenarbeit mit dem österreichischen bahoe Verlag und dem Bildungswerk Stanisław Hantz zu verdanken, dass es das Buch nun endlich auch auf Deutsch gibt. Kalem führte ein einfaches Dasein als Tischler und war seit 1934 mit Jocheved verheiratet. Sie hatten einen Sohn Jossele und eine Tochter namens Pesha. 1942 wurde seine Familie von den Nazis verschleppt. Danach hat Kalem Wewryk nie wieder etwas von seiner Frau und seinen beiden Kindern gehört. Die Mehrzahl der 12 000 Juden aus Chelm wurden in Sobibor ermordet. Kurz Zeit später wurde auch Kalem Wewryk nach Sobibor verschleppt. Als Tischler entging er der sofortigen Ermordung. Es war ein schreckliches Dasein, das jeden Tag mit dem Tod hätte enden können. Seine Ankunft beschrieb er so: „Als der Zug das Lager erreichte, konnten wir die SS brüllen hören. Wir rochen den Gestank von verbrennendem Menschenfleisch. Ein großes Tor wurde geöffnet, um den Zug in das Lager einzulassen, dann kam er zum Stehen. (...) Es gab viele Ukrainer in Sobibor - schreckliche Mörder. Außergewöhnliche Sadisten. Sie führten uns ab. Wir durften nicht gehen - wir mussten rennen. Die Ukrainer trieben uns wie Tiere vor sich her, peitschten und schlugen auf unsein, brüllten «Parshive zyd» (dreckige Juden) und beschimpften uns mit allen möglichen anderen Flüchen.“ Unter den Häftlingen herrschte nur wenig Solidarität, was ihre Bewacher nutzen konnten. Nur die, die alles machten was von ihnen verlangt wurde, konnten überhaupt überleben. Mancher konnte das nicht mit sich vereinbaren und beging Suizid. Während des Aufstandes im Oktober 1943 gelang Kalem die Flucht in die Wälder. Deutsche, polnische und ukrainische Verfolgern waren auf seinen Fersen. Die aus Sobibor entkommenen Juden wurden in der Umgebung nicht mit offenen Armen aufgenommen. Viele wurden noch nach der Flucht auch von Einheimischen ermordet. Sei es aus Angst vor den Nazis, aber auch weil sie sich am Vermögen der Rückkehrer bereichert hatten. Auch auf der Flucht hätte jeder Tag mit dem Tod enden können. Schließlich stieß Wewryk auf sowjetische Partisanen und schloss sich ihnen an. Auch über die Zeit mit ihnen berichtete er: „Lange war ich weniger als eine Kakerlake auf dieser Erde gewesen. Für fast jeden, ob Soldat oder Zivilist, war ich Freiwild gewesen. Mein Leben war ein von Verrätern und Banditen bevölkerter Albtraum gewesen. Und jetzt konnte ich zurückschlagen! Ja, ich könnte fallen, doch es wäre im Kampf, während ich den Deutschen und ihren Kollaborateuren eine überfällige Schuld zurückzahlte. Ich war zum ersten Mal seit Langem glücklich!“ Er meinte: „Lassen Sie sich nichts anderes einreden -Rache ist tatsächlich süß.“ 1946 heiratete er erneut und bekam mit der Auschwitz-Überlebenden zwei Kinder. In Polen fühlte er sich wegen des sich wieder manifestierenden Antisemitismus, wie zum Beispiel beim Pogrom von Kielce, nicht wohl und emigrierten 1956 nach Paris, von wo er mit seiner neuen Familie 1968 nach Kanada auswanderten. Ernst Reuß Kalmen Wewryk, Nach Sobibor und zurück, Herausgegeben vom Bildungswerk Stanisław Hantz, aus dem Englischen von Ekpenyong Ani, Metropol Verlag, Berlin 2020, 176 S., 14 € Mit einem Beitrag von Andreas Kahrs und Steffen Hänschen zum Ghetto Chełm und dem Vernichtungslager Sobibor Weitere Literatur zum Thema: Aleksandr Petscherski: Bericht über den Aufstand in Sobibor. Herausgegeben und übersetzt von Ingrid Damerow. Mit einem Beitrag von Stephan Lehnstaedt. Metropol Berlin 2018, 137 Seiten, 19 Euro Steffen Hänschen, Das Transitghetto Izbica im System des Holocaust, Metropol Verlag, Berlin 2018, 608 Seiten, 29,90 Euro Sara Berger, Experten der Vernichtung, Das T4-Reinhardt-Netzwerk in den Lagern Belzec, Sobibor und Treblinka, 622 Seiten, Mit 23 Abbildungen, Hamburg 2013, 28 Euro Jules Schelvis, Vernichtungslager Sobibór, Unrast Verlag, Münster 2012, 360 Seiten, 20 Euro Thomas Tiovi Blatt, Sobibór – der vergessene Aufstand, Unrast Verlag, Münster 2004, 254 Seiten, 18 Euro Thomas Tiovi Blatt, Nur die Schatten bleiben, Der Aufstand im Vernichtungslager Sobibor, Aufbau Verlag, Berlin 2000, 335 Seiten Comments are closed.
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AutorErnst Reuß, geboren 1962 in Franken. Studium der Rechtswissenschaften in Erlangen und Wien. Promotion an der Humboldt - Universität zu Berlin. Danach als wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Freien Universität Berlin und im Bundestag beschäftigt. Archiv
Juni 2024
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