Heute erschien das Buch „Fotos aus Sobibor“, das ausgesprochen außergewöhnlich ist. Johann Niemann, stellvertretender Kommandant in Sobibor, wurde beim Aufstand der jüdischen Gefangenen am 14. Oktober 1943 getötet. Er hat eine Reihe Fotos zu Belzec und Sobibor hinterlassen, welche sein Enkel erst vor Kurzem dem Herausgeber anvertraut hatte. Eine sensationelle Entdeckung, weniger weil John Demjanjuk möglicherweise auf einem der Fotos abgebildet ist, sondern weil es Fotos der Protagonisten der „Aktion Reinhardt“ bisher kaum und Fotos aus dem Lager Sobibor bisher überhaupt nicht gab.
Bildungswerk Stanisław Hantz e. V. (Hrsg.), Forschungsstelle Ludwigsburg der Universität Stuttgart (Hrsg.), Fotos aus Sobibor, Die Niemann-Sammlung zu Holocaust und Nationalsozialismus, Metropol Verlag, Berlin 2020, € 29.00 Der Aufstand von Sobibor Jedes vierte Opfer des Holocaust kam im Rahmen der bis zum Oktober 1943 dauernden „Aktion Reinhardt“ ums Leben. Heinrich Himmler hatte dies im Juli 1942 angeordnet, weil die mit dem Überfall auf die Sowjetunion stattfindenden Massenerschießungen durch Einsatzgruppen nicht „effektiv“ genug waren. „Aktion Reinhardt“ steht für die systematische Ermordung von Menschen in den abgeschieden an Eisenbahnlinien liegenden drei Vernichtungslagern Belzec, Sobibor und Treblinka an der östlichen Grenze des besetzten Polens. Die Insassen von Vernichtungslagern im Dritten Reich werden zumeist als gedemütigte, verängstigte und wehrlose Individuen dargestellt, daher wissen die wenigsten, dass es in den Lagern auch vereinzelt Widerstand gab. Dieses Jahr jährt sich zum 75ten mal der größte Aufstand, der je in einem NS-Vernichtungslager stattgefunden hat. Am 14. Oktober 1943 kam es in Sobibor zu einem Aufstand, bei dem mindestens 12 SS-Männer und 10 ukrainische Helfer getötet wurden. Bereits im August hatte es einen ähnlichen Aufstand in Treblinka gegeben. Damit hatten die SS-Männer nicht gerechnet, denn sie waren überzeugt, dass die von ihnen so bezeichneten „Untermenschen“ dazu nicht in der Lage wären. Für den Aufstand in Sobibor hatten sich ungefähr 50 Verschwörer zusammengetan, die noch als Arbeiter gebraucht wurden und daher nicht sofort vergast worden waren. Sie wussten jedoch was auch ihnen bevorstand, denn sie sahen die ankommenden Züge und erlebten was tagtäglich in den Gaskammern geschah. Der Ukrainer Alexander Petscherski und der Pole Leon Feldhendler waren die treibenden Kräfte des Aufstands. Sie hatten alles minutiös geplant und mit einem gezielten Axthieb sollte der Aufstand beginnen. Der zu diesem Zeitpunkt amtierende Lagerkommandant Niemann wurde zur Anprobe einer neuen Uniform gebeten. Sie hätten was besonders schönes für ihn, behaupteten seine Arbeitssklaven. Niemann kam standesgemäß auf seinem Pferd angeritten, legte seine Uniform mitsamt der Pistole ab, um sich seine Uniform anpassen zu lassen. Nichtsahnend ließ er sich in seiner Hybris vom Schneider in die richtige Richtung drehen, dann traf ihn von hinten die Axt und spaltete seinen Schädel. Ein Schlag hätte genügt, aber einer der Anwesenden stach noch rasend vor Wut mit einer Schere auf ihn ein, während er die Namen seiner in Sobibor ermordeten Frau und Kinder rief. In der Schusterwerkstatt wurde inzwischen der Kommandeur der ukrainischen Wachleute auf dieselbe Art liquidiert. Ihm waren schöne neue Stiefel versprochen worden. Innerhalb kurzer Zeit konnten so die wichtigsten SS-Männer im Lager liquidiert, alle Telefonleitungen gekappt und Gewehre aus der Waffenkammer gestohlen werden, ohne dass es die ukrainischen Wachposten an den Lagerzäunen bemerkt hätten. Das Lager war führungslos. Danach erst wurden die anderen Arbeitshäftlinge eingeweiht. Petscherski hielt eine kurze Ansprache. Für die Wachleute in ihren fernen Wachtürmen sah es aus wie der übliche Nachmittagsappell, zu dem ein eingeweihter „Kapo“ gerufen hatte. Erst als ein vom Einkauf zurückkehrender SS-Mann den ersten ermordeten Kollegen fand, brach das Chaos aus. Unter dem Kugelhagel der alarmierten ukrainischen Wachleute wurde von den Häftlingen das Lagertor durchbrochen, um in den nahen Wald zu fliehen. Im Kugelhagel und im Minenfeld starben viele schon beim Fluchtversuch. Danach begann eine mörderische Hetzjagd, der auch viele zunächst erfolgreich Geflüchtete zum Opfer fielen. Von den 550 Insassen zum Zeitpunkt des Aufstands sollten nur 53 die nächsten Monate überleben. Zwei davon, Aleksandr Petscherski und der damals 16-jährige Thomas Blatt, haben beeindruckende Augenzeugenberichte hinterlassen. Petscherskis eher nüchterner Bericht wurde gerade eben erstmals auf Deutsch veröffentlicht, Thomas Blatts Buch „Nur die Schatten bleiben“, bereits vor einigen Jahren. Blatts Augenzeugenbericht beeindruckt auch durch ein dokumentiertes Gespräch von 1983 mit einem seiner deutschen Peiniger. Die im Lager verbliebenen Juden wurden schon am Tag nach dem Aufstand erschossen. Das Vernichtungslager wurde von der SS dem Erdboden gleichgemacht, wohl auch um die Verbrechen vor der herannahenden Roten Armee zu verbergen. Weder Petscherski noch Blatt hatten es nach dem Krieg leicht. Aleksandr Petscherski galt als ehemaliger Kriegsgefangener in der Sowjetunion als Verräter. So hatte es Stalin einst dekretiert. Erst 2016 verlieh ihm Präsident Wladimir Putin posthum die Tapferkeitsmedaille. Auch Thomas Blatt war in seiner polnischen Heimat Izbica nicht mehr gern gesehen. Ein Bauer versuchte ihn zu töten, nachdem er ihm zuvor Unterschlupf gewährt hatte. Er überlebte mit einem Steckschuss im Kiefer, seine Begleiter nicht. Neue Besitzer hatten sich jüdisches Eigentum unter den Nagel gerissen und sahen ihn nun als Konkurrenten. Auch andere zurückgekehrte Juden wurden getötet, denn Antisemitismus war weit verbreitet. Ein Nachbar, der Blatt vor einheimischen Antisemiten versteckte, riet ihm: „Lauf von hier weg, Toivi, und verlier keine Zeit, sonst ist es zu spät. (…) Sie suchen dich, sie suchen dich überall. Lauf, lauf nach Lublin, bevor es zu spät ist.“ Der zweiten Anführer des Aufstands von Sobibor Leon Feldhendler ging nach der Befreiung nach Lublin, wurde dort im April 1945 von einem Antisemiten angeschossen und erlag nach drei Tagen seinen Verletzungen. Ernst Reuß Literatur: Aleksandr Petscherski: Bericht über den Aufstand in Sobibor. Herausgegeben und übersetzt von Ingrid Damerow. Mit einem Beitrag von Stephan Lehnstaedt. Metropol Berlin 2018, 137 Seiten, 19 Euro Steffen Hänschen, Das Transitghetto Izbica im System des Holocaust, Metropol Verlag, Berlin 2018, 608 Seiten, 29,90 Euro Sara Berger, Experten der Vernichtung, Das T4-Reinhardt-Netzwerk in den Lagern Belzec, Sobibor und Treblinka, 622 Seiten, Mit 23 Abbildungen, Hamburg 2013, 28 Euro Jules Schelvis, Vernichtungslager Sobibór, Unrast Verlag, Münster 2012, 360 Seiten, 20 Euro Thomas Tiovi Blatt, Sobibór – der vergessene Aufstand, Unrast Verlag, Münster 2004, 254 Seiten, 18 Euro Thomas Tiovi Blatt, Nur die Schatten bleiben, Der Aufstand im Vernichtungslager Sobibor, Aufbau Verlag, Berlin 2000, 335 Seiten Comments are closed.
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AutorErnst Reuß, geboren 1962 in Franken. Studium der Rechtswissenschaften in Erlangen und Wien. Promotion an der Humboldt - Universität zu Berlin. Danach als wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Freien Universität Berlin und im Bundestag beschäftigt. Archiv
März 2024
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