Etwas ausgesprochen interessantes kommt wieder aus dem Verlag „Das vergessene Buch“ aus Wien.
Ähnlich wie das Buch „Nazi-Führer sehen dich an“ von wbg, geht es um die Anfangszeit der Nazis und eine Sicht auf das Geschehen, das von damaligen Zeitgenossen damals so empfunden wurde und genau das macht die Bücher so spannend. Retrospektive Sichtweisen gibt es zuhauf. Dorothy Thompson, eine bekannte amerikanische Journalistin, traf Adolf Hitler im Berliner Hotel Kaiserhof, dem ersten Luxushotel in Berlin, zum Interview. Es lag schräg gegenüber der Reichskanzlei im damaligen Berliner Regierungsviertel und wurde 1943 durch Bombeneinschläge zerstört. Seit vielen Jahren steht dort nun die Botschaft Nordkoreas. Das Interview führte sie Ende 1931 und veröffentlichte das Buch „I saw Hitler!“ im darauffolgenden Jahr, also noch vor dem Reichstagsbrand und der darauffolgenden Machtübernahme der Nazis. Sie sah in Hitler den „Prototypen des kleines Mannes“. Er sei von „erschreckender Bedeutungslosigkeit“. Gleichzeitig ahnte sie, dass vielleicht das genau der Grund für den „kleinen Mann“ sei ihm zu folgen, da der sich in ihm wiedererkennen würde. Sie konstatierte Minderwertigkeitsgefühle eines „Mobs von Kleinbürgern“ und tiefverwurzelten Judenhass. Thompson beleuchtet die politische Situation, in der Demokratien scheitern, was ja in diesem Fall nicht mehr lange dauern sollte. Es gibt durchaus Parallelen zur heutigen Zeit. Am 25. August 1934 musste Dorothy Thompson innerhalb von 24 Stunden Deutschland verlassen. Sie war die erste unter den Auslandskorrespondenten Berlins, die ausgewiesen wurde. Darüber berichtet sie unter der Überschrift „Good-By to Germany“. Dieser Artikel ist in der sehr ansprechend gelayouteten Ausgabe des DVB Verlags ebenfalls abgedruckt. Dort berichtet sie auch von ihrer Reise durch Österreich, von wo sie gerade herkam, bevor ihr der Ausweisungsbescheid im Hotel Adlon ausgehändigt wurde. In Österreich wurde kurz zuvor bei einem erfolglosen Naziputsch der austrofaschistische Kanzler Engelbert Dollfuß ermordet. Aber auch nach ihrem Rausschmiss aus Deutschland hörten und lasen die Obernazis ihre Kommentare, denn während des Zweiten Weltkrieges erschienen ihre Beiträge fast täglich in etwa 150 Zeitungen. „Es ist beschämend und aufreizend, daß so dumme Frauenzimmer, deren Gehirn nur aus Stroh bestehen kann, das Recht haben, gegen eine geschichtliche Größe wie den Führer überhaupt das Wort zu ergreifen.“, schrieb Goebbels 1942 in sein Tagebuch, dem die Kommentare von Dorothy Thompson ganz offensichtlich nicht zu gefallen schienen. Das Buch beschließt ein Nachwort von Oliver Lubrich mit interessanter „Textexegese“. Ernst Reuß Dorothy Thompson, „Ich traf Hitler!“, aus dem Amerikanischen Englisch übersetzt von Johanna von Koppenfels, herausgegeben und mit einem Nachwort von Oliver Lubrich, DVB Verlag, Wien 2023, zahlreiche Abbildungen, 267 Seiten, 26 Euro. Comments are closed.
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AutorErnst Reuß, geboren 1962 in Franken. Studium der Rechtswissenschaften in Erlangen und Wien. Promotion an der Humboldt - Universität zu Berlin. Danach als wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Freien Universität Berlin und im Bundestag beschäftigt. Archiv
Juni 2024
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