„Wir sind so gern geneigt, einem anderen die Schuld zu geben und sie nicht bei uns selbst zu suchen ... Wir haben seinerzeit, als die Nazis an die Macht kamen, nichts getan, um es zu verhindern. Wir haben die eigenen Ideale verraten, das Ideal der persönlichen Freiheit, der demokratischen Freiheit, der religiösen. Der Arbeiter lief mit, die Kirche sah zu. Der Bürger war zu feige, ebenso die führenden geistigen Schichten. Wir ließen zu, dass die Gewerkschaften zerschlagen wurden, dass die Konfessionen unterdrückt wurden, es gab keine freie Meinungsäußerung in Fresse, Rundfunk. Zuletzt ließen wir uns in den Krieg treiben.“ (Tagebucheintrag vom 6. Juli 1943) „Ich sehe immer den Menschen vor mir“ ist der Titel der Biographie eines Mannes mit Skrupeln und zugleich das Buch einer großen Liebe. Ausgewertet wurden dafür die Briefe und Tagebücher von Wilm Hosenfeld, eines einstmals überzeugten Nazis, der - im Gegensatz zu vielen anderen – während des „Dritten Reiches“ menschlich geblieben war. Hosenfeld schrieb während seines Aufenthalts in Warschau zahlreiche Briefe an seine Frau und setzte sich in seinen Tagebüchern mit der deutschen Besatzungspolitik ausgesprochen kritisch auseinander. Der ehemalige Lehrer aus Hessen hatte im besetzten und später total zerstörten Warschau eine relativ einflussreiche Position in der deutschen Kommandantur inne. Erst vor einigen Jahren, erfuhr die Welt durch Roman Polanskis Film „Der Pianist“ von der Existenz dieses Hauptmanns der Wehrmacht, der unter anderem den polnisch-jüdischen Pianisten Wladislaw Szpilman rettete. „Ich versuche jeden zu retten, der zu retten ist“, hatte der christliche Wehrmachtsoffizier an seine Frau geschrieben. Er war angewidert vom Verhalten seiner Landsleute in Warschau und versuchte zu helfen wo es ihm möglich war. Sein eigenes Leben hingegen konnte er nicht retten. Nach der Gefangennahme durch die „Rote Armee“ glaubte ihm dort tragischerweise niemand seine Geschichte. Sieben Jahre nach Kriegsende starb er als verurteilter Kriegsverbrecher in sowjetischer Gefangenschaft. Nach mehreren Schlaganfällen wurde er nur 57 Jahre alt. Zuvor war er in Isolationshaft „strengen Verhören“ ausgesetzt gewesen, weil man ihm eine geheimdienstliche Tätigkeit während des Krieges vorwarf. Trotz der Fürsprache von ihm Geretteter wurde Hosenfeld nicht entlassen. Die Jerusalemer Holocaustgedenkstätte Yad Vashem ernannte Hosenfeld Ende 2008 postum zum Gerechten unter den Völkern. Vorausgegangen waren intensive Recherchen, die sicherstellten, dass Hosenfeld in keine Kriegsverbrechen verwickelt gewesen war. Flüssig und nachvollziehbar geschrieben. Lesenswert! Ernst Reuß Hermann Vinke: „Ich sehe immer den Menschen vor mir“: Das Leben des deutschen Offiziers Wilm Hosenfeld. Biographie. Arche, Zürich 2015, 22,99 €. Comments are closed.
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AutorErnst Reuß, geboren 1962 in Franken. Studium der Rechtswissenschaften in Erlangen und Wien. Promotion an der Humboldt - Universität zu Berlin. Danach als wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Freien Universität Berlin und im Bundestag beschäftigt. Archiv
Juni 2024
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