Da, wo heute Polen, Moldawien, Rumänien, Ungarn und die Ukraine, beziehungsweise Galizien, Bessarabien, Moldau, Poldonien, Transkarpatien, Wolhynien, Masowien und die Bukowina sind, lebte einst die Mehrheit der europäischen Juden. Während des Zweiten Weltkriegs wurden sie systematisch von den deutschen Besatzern und ihren lokalen Helfern ausgerottet und das jüdische Leben in der Region nahezu vollständig ausgelöscht. Genau dorthin reist Christian Herrmann regelmäßig, um Spuren früheren jüdischen Lebens zu fotografieren.
Geblieben sind zerstörte oder als Kinos, Sporthallen beziehungsweise Lagerhäuser zweckentfremdete Synagogen, überwucherte Friedhöfe und wiederverwendete Grabsteine. In seinem im Lukas Verlag erschienenen Buch „In schwindendem Licht. Spuren jüdischen Lebens im Osten Europas“ hat der Fotograf und Blogger (www.vanishedworld.blog) die interessantesten dieser Spuren abgebildet. Oftmals sieht man noch Reste der Mesusa an den ehemals jüdisch bewohnten Häusern - eine kleine Schriftrolle mit den entsprechenden Sätzen aus der Tora, die in einer Kapsel an den Türpfosten der Häuser befestigt waren und mit der das Haus gesegnet wurde. Gläubige Juden berühren die Mesusa beim Betreten des Hauses mit ihren Fingerspitzen und führen diese anschließend zum symbolischen Kuss an ihre Lippen. Im Buch sind 110 beeindruckende Fotos der in den benannten Regionen fast untergegangenen Kultur zu sehen. Viele wissen nicht mehr, was damals genau vor Ort geschah. Nach dem Krieg wurde alles totgeschwiegen, man hatte andere Probleme. Zwar kennt jeder Auschwitz, aber die Orte in denen die in den Vernichtungslagern ermordeten Menschen zuvor gelebt haben, kennt man kaum. Herrmann hat neben den übriggebliebenen Spuren jüdischen Lebens auch Orte fotografiert, an denen Massenexekutionen stattgefunden haben beziehungsweise Massengräber waren. Einer dieser Orte ist Misotsch. Zeugnis des dort stattgefundenen Pogroms sind nur noch die Fotos eines aus dem Sudetenland stammenden deutschen Polizisten, die 2015 im tschechischen Nationalarchiv ausfindig gemacht wurden. Wer die Bilder kennt, weiß was in Misotsch vorgefallen ist und nun die harmlosen Landschaftsfotos von dort sieht, hat automatisch die vielen toten, nackten Leiber von Männern, Frauen und Kindern vor seinem inneren Auge, die genau dort gemeuchelt wurden. Ernst Reuß Christian Herrmann, In schwindendem Licht | In Fading Light, Spuren jüdischen Lebens im Osten Europas, Traces of Jewish Life in the East of Europe, 180 Seiten, 110 Abb., Farbfotografien, Lukas Verlag, Berlin 2018, 30 € Comments are closed.
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AutorErnst Reuß, geboren 1962 in Franken. Studium der Rechtswissenschaften in Erlangen und Wien. Promotion an der Humboldt - Universität zu Berlin. Danach als wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Freien Universität Berlin und im Bundestag beschäftigt. Archiv
Juni 2024
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