Am 10. Juli 1941 fand im polnischen Jedwabne ein Massaker statt. Die jüdischen Einwohner der Kleinstadt wurden von ihren katholischen Mitbürgern mit Knüppeln, Äxten und Messern zusammengetrieben, auf dem Marktplatz stundenlang misshandelt und anschließend in einer Scheune verbrannt. Ihr Besitz wurde von den lieben Nachbarn geplündert und übernommen. Nur wenige Juden überlebten.
Erst 2001 geriet das Thema in den Fokus der öffentlichen Aufmerksamkeit, nachdem ein polnischstämmiger, in den USA arbeitender Historiker das Buch „Nachbarn. Der Mord an den Juden von Jedwabne“ veröffentlicht hatte. Fortan galt er bei den national gesinnten Polen als Nestbeschmutzer und Verräter. Die PiS-Regierung verabschiedete, als Reaktion auf die Veröffentlichung des Buches, ein Gesetz, das jeden, der „die polnische Nation öffentlich der Teilnahme, Organisation oder Verantwortung für kommunistische oder nationalsozialistische Verbrechen bezichtigt“ mit einer bis zu dreijährigen Haftstrafe bedrohte. Nachdem das Gesetz vom Verfassungsgericht aufgehoben worden war, wurde es 2018 mit ähnlichen Wortlaut novelliert. Jedwabne war zur Zeit des Massakers von den Deutschen besetzt, nachdem es zuvor, aufgrund des Hitler-Stalin-Paktes, von der Sowjetunion besetzt gewesen war. Die Juden galten danach als vermeintliche Nutznießer der sowjetischen Okkupationsherrschaft und das Massaker jahrzehntelang als ein Pogrom der deutschen Nazis, obwohl es im Nachkriegspolen einen Prozess gegen einige Täter gab. Ein trotzdem aufgestelltes Denkmal auf der 1 600 Opfer durch die Nazis beklagt worden waren, wurde erst 2001 beseitigt. Dem Verfasser des Buches „Nachbarn“, der von dieser Opferzahl, aber von anderen Tätern ausging, wurde nun auch aus wissenschaftlichen Kreisen wegen der Übernahme der damals von Behörden festgestellten Opferzahl Unredlichkeit vorgeworfen. Die Zahl der grausam ermordeten Opfer ist nämlich bis heute nicht genau verifizierbar. Ähnliche Pogrome wie in Jedwabne ereigneten sich zuvor auch in Nachbarorten, denen sich die Autorin Anna Bikont in ihrem nun auf Deutsch erschienen Buch ebenfalls widmet. Die Journalistin nahm um die Jahrtausendwende unbezahlten Urlaub und macht sich auf die Suche nach der Wahrheit. Sie reist immer wieder nach Jedwabne und beleuchtet in ihrem schon 2004 auf polnisch erschienenen und äußerst akribisch recherchierten Buch „Wir aus Jedwabne“, die schwierige Geschichte eines Landes und das Porträt einer Stadt, die sich der Erinnerung bis heute weitgehend verweigert. Mit ihren Recherchen zeigt Bikont auch den heutigen Antisemitismus, der mittlerweile „den polnischen Mainstream“ erreicht hat. Bikonts Rekonstruktion des Verbrechens und seiner Vorgeschichte ist eine erschütterndes Werk. Geradezu verstörend sind die Tagebuchaufzeichnungen der Autorin, in denen sie ihre Versuche beschreibt mit Augenzeugen und Bewohnern ins Gespräch zu kommen. Auch 60 Jahre danach wagen es viele Juden immer noch nicht, sich öffentlich zur Religion ihrer Vorfahren zu bekennen. Auch die Polen, die damals geholfen haben Leben zu retten, bekennen sich nicht zu ihrem Mut, denn das bringt immer noch Nachteile. Man hat Angst vor den Reaktionen der Nachbarn. Bikont fühlt sich in Jedwabne von einem „Meer des Antisemitismus überschwemmt“. Bei den Bewohnern von Jedwabne war die Autorin nicht willkommen. Ein Bewohner, eher die Ausnahme, meint resigniert: „Der Pfarrer ist so wie damals, die Leute sind so wie damals, das einzige Problem ist, dass es keine Juden mehr gibt, um sie zu ermorden.“ Er sagte auch: „Vor sechzig Jahren sind die jüdischen Einwohner von Jedwabne, die genauso Polen waren wie wir, von ihren Nachbarn umgebracht worden. Und die Nachkommen der Mörder hetzen jetzt gegen uns, weil wir die Wahrheit sagen.“ Er und die Autorin des Buches galten jetzt auch als Vaterlandsverräter. Nationalistische, antisemitische Parteien und die katholische Kirche und somit deren Presseerzeugnisse hetzten schon vor der deutschen Okkupation hemmungslos gegen Juden. So hieß es 1936 in einer Zeitung: „Nicht ohne Grund hat sich die Überzeugung verfestigt, dass die Juden Parasiten sind. In der Tat gleicht unsere emotionale Einstellung zu ihnen derjenigen, die wir gegenüber Flöhen und Wanzen haben. Töten, vernichten, loswerden. Nur dass der Jude etwas völlig anderes ist als der Floh. Das jüdische Problem kann auch dann noch bestehen, wenn es keinen Juden mehr gibt.“ Auch nach dem Krieg wurden überlebende, zurückkehrenden Juden von ihren katholischen Nachbarn ermordet. Man fürchtete die geplünderte Beute wieder zurückgeben zu müssen oder sie galten bei Mitgliedern der immer noch glorifizierten Heimatarmee als sowjetische Spitzel, auch wenn nur lästige Zeugen von zuvor begangenen Verbrechen beseitigt werden sollten. Dazu zählten offenbar auch Kinder, wie die Autorin in einem Fall feststellen musste. 2001 fand in Jedwabne eine Gedenkfeier statt, die von der Mehrheit der Einwohner abgelehnt und boykottiert wurde, denn dadurch wäre das gesamte polnische Volk besudelt. Der damalige Bürgermeister von Jedwabne, der sich stark für die Gedenkfeier eingesetzt hatte, wurde von nun ab verfemt und emigrierte anschließend in die USA. Die Ehrung einer Bäuerin, die sieben Juden vor dem sicheren Tod rettete, lehnte der Stadtrat ab. Ein außergewöhnliches Buch in dem - wie in Polen üblich - immer zwischen Polen und Juden unterschieden wurde. Besser wäre gewesen Christen und Juden zu unterscheiden, denn alle waren Polen - sowohl Opfer als auch Täter. In ihrem Nachwort zur jetzigen deutschen Ausgabe schreibt Bikont: „Die Aufdeckung des Verbrechens von Jedwabne war eine Revolution. Heute ist die Zeit der Konterrevolution gekommen.“ Die polnische Geschichte wird inzwischen neu geschrieben. Auf der Internetseite von Jedwabne hieß es laut Bikont zum Zweiten Weltkrieg lediglich, dass sich die örtliche Bevölkerung „durch einen besonders starken Patriotismus“ ausgezeichnet habe. Zwar wäre es möglicherweise ohne die Anwesenheit der Deutschen nicht zu diesen Pogromen gekommen, aber bisher wurden laut Bikont „keine deutschen Dokumente gefunden, die es erlauben würden festzustellen, worin der deutsche Anteil bestand." Ernst Reuß Anna Bikont: Wir aus Jedwabne. Polen und Juden während der Shoah. Aus dem Polnischen von Sven Sellmer. Jüdischer Verlag bei Suhrkamp, Berlin 2020. 699 S., 34 Euro. Comments are closed.
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AutorErnst Reuß, geboren 1962 in Franken. Studium der Rechtswissenschaften in Erlangen und Wien. Promotion an der Humboldt - Universität zu Berlin. Danach als wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Freien Universität Berlin und im Bundestag beschäftigt. Archiv
Juni 2024
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