„All But My Life“ gilt in den USA als ein Klassiker der Holocaust-Literatur. In ihrem 1957 erschienenen Buch beschreibt Gerda Weissmann Klein die sechs schlimmsten Jahre ihres Lebens. Eine deutsche Übersetzung erschien erstmals 1999. In Deutschland sind das Buch und seine Autorin weitgehend unbekannt. Nun erschien das Buch im Metropol Verlag aus Berlin mit dem Titel: „Nichts als das nackte Leben“
Gerda Weissmann wurde am 8. Mai 1924 im schlesischen Bielitz (heute: Bielsko) geboren, etwa hundert Kilometer von Krakau und dreißig Kilometer von Auschwitz entfernt. Nach dem 1. Weltkrieg gehörte der Ort zum wiedergegründeten Polen. Bielitz war die wichtigste Stadt der schlesischen Wollindustrie. Die Bevölkerung war mehrheitlich seit Jahrhunderten deutschsprachig, das galt auch für die meisten Juden wie Gerda, die ungefähr 20% der Bevölkerung ausmachten. Gerdas Eltern hießen Julius und Helene, der fünf Jahre ältere, von Gerda sehr geliebte Bruder hieß Arthur. Der Vater war Mitbesitzer einer Pelzfabrik. Der Familie ging es gut. Gerda war fünfzehn als ihre unbeschwerte Jugend ein jähes Ende findet. Nach dem Einmarsch der Wehrmacht verschleppen die Deutschen Gerdas Bruder und drei Jahre später ihren kranken Vater, dann die Mutter. Gerda wird keinen von ihnen je wiedersehen. Für Gerda beginnt eine Odyssee durch mehrere Arbeitslager, die mit einem Todesmarsch endet, bei dem auch ihre Freundinnen sterben. Sie überlebt die Torturen des monatelangen grausamen Todesmarsches als eine von wenigen und beobachtet dabei die Bombardierung Dresdens verständlicherweise mit Genugtuung. Am 4. Mai 1945 erreichte der Todesmarsch nach fast 500 Kilometern durch Sachsen und Bayern das heute tschechische Volary. Die Häftlinge wurden in eine leere Fabrikhalle getrieben. Die SS flüchtete, versuchte zuvor aber noch das Gebäude zu sprengen. Ein Teil der jüdischen Frauen wurde noch weiter getrieben, wo deren Todesmarsch am 6. Mai nach der Flucht der Bewacher ebenfalls endete. Ihren späteren Mann Kurt Klein, einem 1937 aus Baden in die USA emigrierten Juden, der inzwischen Soldat in der US Armee war, lernt sie gleich nach ihrer Rettung kennen und lieben. Er, dessen Eltern auch in Auschwitz starben, kann sie verstehen und bringt die kranke und nur noch 31 Kilo schwere, inzwischen weißhaarig gewordene, Gerda in ein Lazarett und später nach ihrer Genesung in seine neue Heimat Amerika. 1994 entstand auf der Grundlage dieses Buchs der Dokumentarfilm „One Survivor remembers“, der 1995 den Oscar als Bester Dokumentar-Kurzfilm gewann. Es sind immer wieder diese erschütternden Zeitzeugenberichte, die zeigen was Menschen anderen Menschen im Rahmen einer absurden Ideologie antun können. Genau deswegen sind solche Bücher so außerordentlich wichtig und lesenswert. Gerda schreibt: „Warum? Warum liefen wir wie sanfte Lämmer zur Schlachtbank? Wieso wehrten wir uns nicht? Was hatten wir zu verlieren? Nichts, außer unser Leben. Wieso rannten wir nicht davon und versteckten uns? Wir hätten vielleicht eine Überlebenschance gehabt. Warum gingen wir ihnen freiwillig und gehorsam in die Fänge? Ich weiß wieso: Weil wir auf die Menschlichkeit vertrauten; weil wir nicht glauben wollten, dass menschliche Wesen solcher Verbrechen fähig wären.“ Ein Gedanke, den sie nicht nur einmal hatte. Gerda Weissmanns Erinnerungen geben trotzdem ein wenig Hoffnung. Neben dem ganzen unmenschlichem Leid, das sie erleben muss, findet sie immer wieder eine Spur von Menschlichkeit und neben einer unerfüllten einseitigen Liebe auch Freundschaften und kurz nach ihrer Befreiung den Mann fürs Leben. Das letzte Kapitel beschäftigt sich mit ihrer Rückkehr ins Leben. Ein fast schon hollywoodreifes „Happy End“. Sie spricht vor der UN und wird von Präsident Barack Obama geehrt. 1994 und 2019 schreibt sie selbst Epilog und Nachwort zum Buch. Unbedingt lesenswert! Gerda Weissmann starb im April 2022 mit 97 Jahren in Phoenix (Arizona), wo sie seit 1985 gelebt hatte. Ernst Reuß Gerda Weissmann Klein, Nichts als das nackte Leben. Studien und Dokumente zur Holocaust- und Lagerliteratur, Schriftenreihe der Arbeitsstelle Holocaustliteratur und der Ernst-Ludwig Chambré-Stiftung zu Lich, Band 14, Metropol Verlag, Berlin 2023, 320 Seiten, 24 €. Comments are closed.
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AutorErnst Reuß, geboren 1962 in Franken. Studium der Rechtswissenschaften in Erlangen und Wien. Promotion an der Humboldt - Universität zu Berlin. Danach als wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Freien Universität Berlin und im Bundestag beschäftigt. Archiv
Juni 2024
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