Am 4. Februar 1949 spaltete sich die Berliner Justiz. Mit der vom Kammergerichtspräsidenten Georg Strucksberg angeordneten Verlegung des Kammergerichts war die Spaltung perfekt. Von nun an existierten in Berlin zwei Kammergerichte und somit zwei Justizsysteme. Das höchste Berliner Gericht, zuvor in der Littenstraße im sowjetischen Sektor, hatte jetzt auch im britischen, im York-Haus am Fehrbelliner Platz, ein Domizil.
Zur Verlegung des Kammergerichts in den Westteil ließ die britische Militärverwaltung verlauten, die sowjetischen Behörden hätten versucht, »das Gerichtspersonal zum Kommunismus zu bekehren, indem sie die Teilnahme an politischen Kulturstunden während der Arbeitszeit anordneten«. Und: »Es ist für aufrechte Gerichtsbeamte unmöglich, Befehlen zu gehorchen, die rein politischer Natur und gesetzwidrig sind.« In Ostberlin sah man das anders. In einem an alle vier Besatzungsmächte gerichteten Bericht des Vizepräsidenten des Kammergerichts Richard Hartmann hieß es: »Um sich der Verantwortung... zu entziehen, hat der Kammergerichtspräsident Dr. Strucksberg am 3. Februar seinen Posten fluchtartig verlassen...« Der Kalte Krieg tobte heftig in Berlin. Neben den politischen Auseinandersetzungen und den alltäglichen Problemen einer Justiz hatten die Gerichte in jener Zeit vor allem mit Mangel an Papier, Stempeln und anderen Arbeitsmaterialien sowie Diebstählen zu kämpfen. Prozesse mussten ausfallen, weil begehrte Beweisstücke plötzlich aus der Asservatenkammer verschwanden. Gerichtsurteile wurden auf die Rückseite von Landkarten, eines Urlaubsantrags aus dem Jahre 1891 oder eines militärischen Führungszeugnisses von 1901 geschrieben. Nach Dienstschluss waren die Schreibmaschinen in den Kleiderschränken zu verstecken und die Glühbirnen herauszuschrauben. In Anbetracht des nahenden Winters wurde alles geklaut, was zu verheizen war: selbst Stühle, Tische und Holztäfelungen in den Sitzungssälen. Auch die Neurekrutierung des Justizpersonals führte zu erheblichen Problemen. Das Amtsgericht Berlin-Mitte war einem falschen Amtsrichter auf den Leim gegangen, der – wie sich herausstellte – ein vielfach Vorbestrafter war; er wurde schließlich wegen Betrugs, Abgabe falscher eidesstattlicher Versicherungen, Begünstigung im Amt und Fragebogenfälschung festgenommen. Dass in jener Zeit ein Pharmazieprofessor, Arthur Kanger, erster Kammergerichtspräsident wurde, war ebenfalls der Personalnot geschuldet. Kanger war aber immerhin langjähriger Gerichtschemiker und sprach russisch. Ständig gab es Reibereien zwischen neu eingesetzten und schon in der Weimarer Republik tätigen Richtern. Max Berger, der spätere Militäroberstaatsanwalt der DDR, hatte bereits Ende 1945 »an die Genossen Gerichtsoffiziere bei dem Amts- und Kammergericht Berlin-Mitte und den Staatsanwaltschaften« eine »Liste der politisch unzuverlässigen leitenden Beamten« geschickt. Darin nannte er das Gericht einen »Hort der Reaktion« und das Personal »die unverbesserlichen alten bürgerlichen Ideologen und Bürokraten mit starker reaktionärer Schlagseite, die ...eine Gefahr für die neue Demokratie in Deutschland und insbesondere für das klassenbewusste Proletariat« seien. Nachdem es bereits zur Spaltung der Polizei unter Markgraf im Osten und Stumm im Westen sowie der Stadtverwaltung in einen Ost-Magistrat (fortan in West-Zeitungen als »Opern-Magistrat« oder »Stadt-Sowjet« tituliert) und einen westliche Magistrat (in Ostzeitungen nur »Spalter-Magistrat«) gekommen war, schlug nun auch der sektorenübergreifenden Justiz die letzte Stunde. Bereits am 29. Mai 1947 war Generalstaatsanwalt Wilhelm Kühnast, der im Ostsektor wohnte, unter Hausarrest gestellt worden. Ihm wurde vorgeworfen, angezeigte Nazis zu zögerlich auf die Anklagebank gebracht zu haben. Von westlicher Seite wurden die sowjetischen Anschuldigungen in Verbindung mit Kühnasts Absicht gebracht, gegen Erich Mielke Anklage wegen der Bülow-Affäre 1932 zu erheben (bekanntlich nach der Wende aufgegriffen). Der Ex-Sozialdemokrat Kühnast konnte dem Hausarrest am 3. August 1948 in den Westen entkommen. Dahingegen floh in der Nacht zum 31. Januar 1949 der von der sowjetischen Besatzungsmacht unterstützte Vizepräsident des Landgerichts Jakob Blasse in den Ostteil der Stadt; er wurde später Zivilrichter am Landgericht-Ost und war einer der wenigen Nicht-SED-Mitglieder in der Ostberliner Justiz. Am 3. Februar 1949 wurde der 71-jährige Verwaltungsdirektor am Kammergericht Oskar Scheiblich verhaftet, in dessen Wohnung ein ansehnliches Lager an Literatur, Urkunden, Registern, Formularen, Haushaltslisten und anderen Gegenständen aus dem Gericht gefunden wurde. Er hatte von Strucksberg die Order bekommen, Akten in den Westen zu schaffen. Ein Kraftfahrer, der die Transporte durchführen sollte, deckte die Geheimaktion auf. Strucksberg hatte den Auftrag schon Wochen vor der Sitzverlegung des Kammergerichts erteilt, wie er später gestand. Und mehr noch: »Ich selbst habe fortgesetzt Akten und Bücher während mehrerer Wochen in meine Wohnung in den Britischen Sektor transportiert.« Angeblich tat er dies nur deswegen, um »sicherzustellen, dass, wenn das Kammergericht nach einem Westsektor verlegt würde, eine sofortige Weiterarbeit möglich wäre.« Eine recht durchsichtige Ausrede! Das Schnellgericht Berlin-Mitte verurteilte Scheiblich noch am Tag der Festnahme zu 18 Monaten Gefängnis. Im Rahmen der Ermittlungen gegen ihn wurde auch Kammergerichtspräsident Strucksberg mehrere Stunden vernommen. Nachdem dieser sich anschließend sofort nach Moabit begeben hatte, kündigte er dort vor versammelter Presse die Verlegung des Kammergerichts für den nächsten Tag an. Trotz seiner ausdrücklichen gegenteiligen Beteuerungen ist anzunehmen, dass Strucksberg die Verlegung des Kammergerichts nicht ohne Rückendeckung der Westalliierten geplant hatte. Während in Westberlin in der Nazizeit tätige Richter nach und nach wieder in ihre Ämter kamen, waren die neuen Richter in Ostberlin fast durchgängig Volksrichter. Die Justizsysteme in Berlin entwickelten sich auseinander, auch wenn das Strafmaß bei der Alltagskriminalität nicht unbedingt fundamental unterschiedlich war. Doch selbst hier schlug sich die Atmosphäre des Kalten Krieges nieder und trieb mitunter kuriose Blüten. So wurde in Ostberlin gegen einen Dieb eine mildere Strafe ausgesprochen, weil der »Schrottdiebstahl außerhalb des demokratischen Sektors von Berlin, und zwar im Westsektor, durchgeführt wurde«. Ein Fahrraddieb in Ostberlin wiederum wurde unverhältnismäßig zu acht Monaten Gefängnis verurteilt, weil es »allgemein bekannt« sei, »dass das Fahrrad wichtigstes Verkehrsmittel unserer werktätigen Bevölkerung ist. Millionäre fahren bekanntlich nicht auf Fahrrädern. Die Tat des Angeklagten ist daher umso verwerflicher.« Ernst Reuß (Mehr dazu im Buch: „Millionäre fahren nicht auf Fahrrädern: Justizalltag im Nachkriegsberlin.“) Comments are closed.
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AutorErnst Reuß, geboren 1962 in Franken. Studium der Rechtswissenschaften in Erlangen und Wien. Promotion an der Humboldt - Universität zu Berlin. Danach als wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Freien Universität Berlin und im Bundestag beschäftigt. Archiv
Juni 2024
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