Gibt es ein richtiges Leben im falschen? Und wenn ja, kann ausgerechnet ein SS-Richter es gelebt haben? Dieser Frage gehen Herlinde Pauer-Studer und J. David Velleman in ihrem Buch über den SS-Richter Konrad Morgen nach: „Weil ich nun mal ein Gerechtigkeitsfanatiker bin“. Tatsächlich glauben die Autoren, in Konrad Morgen einen „Fall moralischer Komplexität“ zu erkennen. Zu Recht?
Der 1909 geborene Georg Konrad Morgen war promovierter Jurist und seit 1933 Mitglied der SS und der NSDAP. Als SS-Richter untersuchte er Korruptionsfälle unter hochrangigen SS-Offizieren im besetzten Polen und verfolgte finanzielle Unregelmäßigkeiten in den Konzentrationslagern. Morgen war innerhalb der SS eher ein Sonderling, kein Typ für Kameradschaftsabende und gemeinsame Besäufnisse. Die SS-Gerichtsbarkeit war zu Kriegsbeginn 1939 mit der Begründung eingeführt worden, dass die normale Militärgerichtsbarkeit nicht in der Lage sei „die spezifische Weltanschauung und politische Mentalität der SS-Leute zu verstehen“. Eigentlicher Grund war wohl der, dass Himmler befürchtete seine Untergebenen würden für ihre Kriegsverbrechen in Polen vor Wehrmachtsgerichten angeklagt werden. Im weiteren Verlauf des Krieges hatten die SS-Gerichte die grassierende Korruption in den eigenen Reihen zu bekämpfen. Himmler schärfte 1943 in der berüchtigten „Posener Rede“ seinen SS-Gruppenführern ein: „Wir hatten das moralische Recht, wir hatten die Pflicht gegenüber unserem Volk, dieses Volk, das uns umbringen wollte, umzubringen. Wir haben aber nicht das Recht, uns auch nur mit einem Pelz, mit einer Uhr, mit einer Mark oder mit einer Zigarette oder mit sonst etwas zu bereichern.“ Morgens erster größerer Fall im Generalgouvernement betraf den SS-Mann Georg von Sauberzweig. Der Sohn eines berühmten Generals aus dem Ersten Weltkrieg hatte geplündertes polnisches Eigentum auf dem Schwarzmarkt verkauft und wurde nach einem entsprechenden Urteil im März 1942 erschossen. Morgen ging seine Aufgabe ziemlich geflissentlich an. In den Wochen vor Weihnachten 1941 fällte er innerhalb von zehn Tagen fünf Todesurteile. Ein weiterer wichtiger Fall waren seine Ermittlungen gegen den Lagerkommandanten von Buchenwald Karl Otto Koch, der zuvor von Himmler protegiert wurde. Morgen entschloss sich, gegen Koch zu ermitteln, weil er sich „als Gerechtigkeitsfanatiker“ sah, wie er nach dem Krieg erklärte. Das besondere daran war, dass er ihn nicht nur wegen Korruption, sondern auch wegen Mordes anklagte. Koch hatte mehrere Zeugen seiner Korruptheit beseitigt und spielte willkürlich Herr über Leben und Tod. Konrad Morgen argumentierte, dass dies illegal sei, denn Kommandanten eines Konzentrationslagers seien nur dann zur Tötung von Häftlingen befugt, wenn Himmler oder das Reichssicherheitshauptamt die Exekutionen anordnen. Kurz vor Kriegsende wurde Karl Otto Koch durch ein Erschießungskommando im KZ Buchenwald hingerichtet – wegen Veruntreuung und Betrug, nicht wegen Mordes. Die Autoren des Buches über Konrad Morgen sind Philosophen, bemühen bei ihrer Studie sowohl Aristoteles als auch Dworkin und versuchen Morgen in den rechtstheoretischen Kontext der Zeit einzuweben, um seine Motivgrundlage zu verstehen. Sie schreiben: „Wir verstehen unser Buch als ‚moralische Biografie‘ – als Studie darüber, wie das moralische Bewusstsein eines Mannes mit einer zutiefst unmoralischen Welt zurechtzukommen versuchte, teils aber daran scheiterte.“ Sie tun das mit viel, teilweise unverständlicher Empathie für den Protagonisten und führen aus: „Wir zeichnen nach, wie Morgen über die dramatischen Ereignisse, die er miterlebte, fühlte, dachte und urteilte.“ Nicht ganz nachvollziehbar dabei ist jedoch, dass viele von Morgens Aussagen, die nach dem Krieg gemacht wurden, trotz einiger Ungereimtheiten, relativ unkritisch für bare Münze genommen wurden. Morgen gerierte sich als Widerstandskämpfer und behauptete mit seinen begrenzten Mitteln, die „Endlösung“ juristisch zu stoppen versucht zu haben, Zwar mag es stimmen, dass Morgen nicht besonders empfänglich für rassistische oder totalitäre Einstellungen war, aber Tatsache ist, dass er, als das „Dritte Reich“ um ihn herum zusammenbrach, sich noch unverdrossen „seinem Kampf gegen kriminelle Umtriebe in den Reihen der SS“ widmete und „das Elend des Krieges um ihn herum (…) gar nicht richtig wahrgenommen“ hatte. Trotzdem glauben die Autoren in Morgen einen „Fall moralischer Komplexität“ zu erkennen. Seine Eingaben und Berichte während des Krieges sollen „echte menschliche Anteilnahme für die Opfer des KZ-Systems“ zeigen. Sie widersprechen ausdrücklich, dass Morgens „Gerechtigkeit“ schlicht auf die rigide Einhaltung von Regeln und Vorschriften im Dienste der SS reduziert werden kann. Rechtspositivismus alleine erkläre Morgens Verhalten nicht. Doch diesbezüglich kann man auch anderer Ansicht sein, so wie einige Juristen und Historiker zuvor. Tatsache ist jedenfalls, dass seine Schlussfolgerung wegen eines beschlagnahmten Goldklumpens aus Auschwitz nicht von Empathie geprägt war, sondern von der Empörung darüber, dass SS-Personal diesen Goldklumpen unterschlagen hatte, obwohl Gold als Devise ablieferungspflichtig gewesen wäre. Zwar hatte Morgen ausgerechnet, dass das Zahngold von 50 000 bis 100 000 Leichen stammen müsse, resümierte aber: „Ein erschütternder Gedanke. Aber das geradezu Unfaßbare daran war, daß der Täter unbemerkt derartig bedeutende Mengen beiseite bringen konnte“. Einen noch größeren Schock erfuhr er bei seiner darauf angesetzten Inspektion des Lagers Auschwitz. Allerdings nicht beim Anblick von Selektion und Gaskammer, sondern beim Anblick betrunkener SS-Leute, die von jungen Frauen, die sie duzten, mit Kartoffelpuffern gefüttert wurden. Er stellte empört fest: „Es waren offensichtlich Jüdinnen, sehr schöne, orientalische Schönheiten, vollbusig, feurige Augen, trugen auch keine Häftlingskleider, sondern normales, ganz kokettes Zivil.“ Nach dem Krieg, als Zeuge der Verteidigung in Nürnberg, bemühte er sich dem Gericht glaubhaft zu machen, die SS habe nichts mit dem Massenmord an den Juden zu tun gehabt. Konrad Morgen arbeitete nach seiner Entnazifizierung als Rechtsanwalt und Notar in Frankfurt am Main. Ernst Reuß Herlinde Pauer-Studer/J. David Velleman: „Weil ich nun mal ein Gerechtigkeitsfanatiker bin“. Der Fall des SS-Richters Konrad Morgen. Suhrkamp Verlag, Berlin 2017. 348 S., 26 €. Comments are closed.
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AutorErnst Reuß, geboren 1962 in Franken. Studium der Rechtswissenschaften in Erlangen und Wien. Promotion an der Humboldt - Universität zu Berlin. Danach als wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Freien Universität Berlin und im Bundestag beschäftigt. Archiv
Juni 2024
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