Das Kölner Ehepaar Margret und Werner Müller hat seit 20 Jahren Kontakt zu Opfern des Nazi-Terrors in Osteuropa. Nun haben sie zusammen mit dem Historiker Boris Zabarko, einem Überlebenden, die Sammlung von Berichten weiterer Überlebender veröffentlicht. Entstanden ist laut Verlag eine „Geografie des Holocaust“ in der Ukraine. Zabarko sammelte hunderte Zeitzeugenberichte von Überlebenden. An Hand dieser Berichte wird das Vorgehen der deutschen Mörder und ihrer Helfershelfer genau lokalisiert.
In der Sowjetunion war es lange Zeit politisch unerwünscht, die Juden als eigenständige Opfergruppe anzusehen. Untersuchungen wurden zurückgehalten und der Wissensstand über den Judenmord in der Ukraine blieb lange Zeit erstaunlich gering. Erst Anfang der neunziger Jahre konnte man sich fast uneingeschränkt engagieren. Zabarko begann seine Interviews zu führen. Er hatte damit seine Lebensaufgabe gefunden und die Berichte bereits auf Russisch veröffentlicht. Den Herausgebern Margret und Werner Müller ist es zu verdanken, dass die Berichte heute in Deutsch zu lesen sind. Wie ein Mosaik setzen sich die Schilderungen zu einem Bild zusammen. Zielgerichtet und brutal gingen die deutschen Einsatzgruppen und Sonderkommandos vor. Die jüdische Bevölkerung in den besetzten Gebieten wurde brutal ermordet. In der Ukraine sollen mindestens 1,5 Millionen Juden ermordet worden sein. Babi Jar ist ein Synonym für derartig grausame Verbrechen geworden. Die Buchhalter des Grauens listeten in der Schlucht von Babi Jar bei Kiew am 29. und 30. September 1941 insgesamt 33 171 Menschen bestialisch Ermordete auf. Da auch bei den Erschießungen alles seine deutsche Ordnung haben musste, wurde die Kleidung der Massakrierten fein säuberlich auf Lastwagen verfrachtet, desinfiziert und der NS-Volkswohlfahrt zugeführt. 137 Lastwagen waren dazu notwendig. Auch das wurde penibel dokumentiert. Die Täter führten ihre Verbrechen unter den Augen der übrigen ortsansässigen Bevölkerung durch, die teilweise zu Komplizen wurden. Die Pogrome erfolgten überall nach demselben Muster. Elisaweta Kremers Bericht aus Mariupol ist einer von vielen derartigen Schilderungen, die sich ähneln. Zehn Kilometer vor der Stadt wurden am 20. und 21. Oktober 1941 mindestens 8 000 Menschen von Mitgliedern des Sonderkommandos 10a ermordet: „Die Juden mussten einen Davidstern tragen. Dann wurde die Anordnung bekannt gegeben, die besagte, dass alle Juden mit ihren Wertsachen und warmer Kleidung an einem Sammelpunkt einfinden sollten. Angeblich sollten wir zur Arbeit an einen anderen Ort gebracht werden. (…) Das war im Oktober 1941, ich war erst 18 Jahre alt. Dann begannen die Erschießungen. (…) Wir wurden an den Panzergräben erschossen. Auf beiden Seiten wurden Maschinengewehre aufgestellt. Ich weiß nicht wie ich am Leben blieb. Wahrscheinlich fiel ich zu früh in den Graben und wurde nur an den Beinen verletzt. Ich lag im Graben, und die Menschen fielen auf mich. Kleinkinder wurden von ihren Müttern getrennt. Man stach ihnen die Augen aus und warf sie in den Graben. (…) Mich überfiel eine große Angst, und ich schrie: „Tötet mich; ich lebe noch!“ lch wollte die Hand heben, um zu zeigen, wo ich lag. Aber ich konnte es nicht, weil ganz viele Leichen auf mir lagen. Die Maschinengewehre ratterten und ratterten. Als die Deutschen abgezogen waren, krochen die noch Lebenden aus dem Graben und versuchten zu fliehen. Neben mir lag ein Mädchen. Es hieß Shenja. Sie stammte aus Mariupol und bat mich mit ihr zu gehen. Ich versuchte, mich auf die Beine zu stellen, konnte es aber nicht. Ich hatte eine Schussverletzung in meinen Beinen. Das Mädchen floh alleine, kehrte aber nach einiger Zeit zurück und zwang mich, ihr zu folgen, sagte, wir müssen uns retten, sonst würde man mich lebend begraben. Nach all dem Geschehenen war mir alles egal. Ich wollte nicht gehen, aber Shenja überredete mich.“ Homo homini lupus, der Mensch ist dem Menschen ein Wolf. Es ist immer wieder ausgesprochen erschreckend zu lesen, wozu Menschen fähig sein können. Ernst Reuß Boris Zabarko, Margret und Werner Müller (Herausgeber), Leben und Tod in der Epoche des Holocaust in der Ukraine: Zeugnisse von Überlebenden (Deutsch), Metropol Verlag, Berlin 2019, Gebundene Ausgabe, 1152 Seiten, € 49.00 Comments are closed.
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AutorErnst Reuß, geboren 1962 in Franken. Studium der Rechtswissenschaften in Erlangen und Wien. Promotion an der Humboldt - Universität zu Berlin. Danach als wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Freien Universität Berlin und im Bundestag beschäftigt. Archiv
Juni 2024
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