Der ukrainische Nationalist Stepan Bandera, der sich im Zweiten Weltkrieg mit Hitler verbündete, gilt im Osten des Landes, sowie in Polen, Russland und Israel als Nazi-Kollaborateur und Kriegsverbrecher. Im Westen der Ukraine wird er dagegen von vielen Einheimischen als Nationalheld und Märtyrer hochgeschätzt. Dort gibt es nach ihm benannte Straßen und Denkmäler. 2009 wurde er sogar mit einer Briefmarke geehrt.
50 Jahre zuvor war er in München ermordet worden. Sein Münchner Grab ist noch heute eine Pilgerstätte für viele ukrainische Nationalisten. Ermordet wurde er von einem KGB-Agenten, der anschließend in den Westen flüchtete und sich den westlichen Geheimdiensten als Informant anbot. Obwohl er eigenhändig die Tat beging, wurde er nur wegen Beihilfe verurteilt, was Juristen bis heute beschäftigt. Gekürzter Ausschnitt aus Ernst Reuß, Mord? Totschlag? Oder was?, S. 23 ff.: „Wer eine Tötung eigenhändig begeht, ist im Regelfalle Täter; jedoch kann er unter bestimmten, engen Umständen auch lediglich Gehilfe sein.“, so entschied der Bundesgerichtshof 1962 beim so genannten Staschynskij-Fall Wie kann das sein? Jemand der einen anderen eigenhändig tötet, soll nun nur Gehilfe sein? Etwa Gehilfe seiner eigenen Hände? Oder wie ist das zu verstehen? Der 30-jährige Bogdan Nikolajewitsch Staschynskij war im KGB in der „Abteilung für Terrorakte im Ausland“ beschäftigt. Trotz des sehr bürokratisch klingenden Namens der Abteilung, in der Staschynskij ein kleiner Angestellter gewesen ist, war er auf „gut deutsch“ nichts anderes als ein gedungener KGB-Killer. 1957 erhielt er den Auftrag, einige als störend empfundene Exilpolitiker zu liquidieren. Dafür wurde er nach Ost-Berlin entsandt. Auftragsgemäß und zügig tötete er schon im Herbst 1957 Lew Rebet. 1959 „erledigte“ er dann Stepan Bandera, den Vorsitzenden der Ukrainischen Nationalisten, der im Zweiten Weltkrieg eine Zeit lang mit Hitler paktiert hatte. In beiden Fällen hatte es auf den ersten Blick nicht nach Mord ausgesehen: Rebet wurde am 12. Oktober 1957 im Treppenflur am Münchener Karlsplatz tot aufgefunden. Der unter dem Pseudonym Stefan Popel in München lebende Bandera starb zwei Jahre später, am 15. Oktober 1959, ebenfalls in einem Münchener Treppenflur. Bei Rebet wurde Herzschlag als Todesursache vermutet, bei Bandera glaubte man an Selbstmord. Als Tatwaffe hatte Staschynskij eine schon mehrfach und stets mit Erfolg verwendete Giftpistole zum Versprühen von Blausäuregas verwendet, welches er seinen Opfern direkt ins Gesicht sprayte. Durch die Blausäure wurde das Opfer durch Verengung der Atmungsorgane ohnmächtig und starb zwei oder drei Minuten später. Das war damals also die übliche KGB–Methode, um unliebsame Regimekritiker aus dem Verkehr zu ziehen! Soweit so schlecht. Für seine Verbrechen bekam Staschynskij den „Kampforden vom Roten Banner“. Verliehen wurde der Orden „für die Bearbeitung eines wichtigen Problems“. Staschynskij bekam aber nicht nur den Rotbanner-Orden, er durfte auch mit Erlaubnis des Komitees für Staatssicherheit – O-Ton „Die Welt“ 1962 – „das Ostberliner FDJ Mädchen Inge F.“ heiraten. Seine Frau war eine gelernte Friseuse. Staschynskij wäre ein hoch dekorierter Mann jenseits des Eisernen Vorhangs gewesen. In der BRD hätte es zwei ungesühnte und vielleicht noch unentdeckte Verbrechen gegeben, wenn alles wie immer gelaufen wäre. Es kam jedoch ganz anders. Das Problem für die bundesdeutsche Justiz entstand um den 13. August 1961, denn zum Zeitpunkt des Baus der Berliner Mauer war Staschynskij bereits mit seiner deutschen Ehefrau nach Westberlin geflüchtet. Dort kam er kurze Zeit später, am 1. September 1961, in Untersuchungshaft. Staschynskij hatte sich selbst angezeigt. Die Selbstbezichtigungen des Mannes vom KGB wurden von den zuerst ungläubig staunenden Ermittlungsbeamten ziemlich lange geprüft, ehe Anklage erhoben wurde. Um den angeblich reuigen Sünder Staschynskij, dem eine lebenslange Freiheitsstrafe nahezu gewiss schien, zu einer kürzeren Strafe verurteilen zu können, bemühten sich die bundesdeutschen Gerichte mit einem Kunstgriff um Abhilfe. Der Bundesgerichtshof stellte fest: „St‘s. Auftraggeber haben bei der Anordnung beider Attentate deren wesentliche Merkmale (Opfer, Waffe, Gegenmittel, Art der Anwendung, Tatzeiten, Tatorte, Reisen) vorher festgelegt. Sie haben vorsätzlich gehandelt.“ Und jetzt kommt’s: „Diese eigentlichen Taturheber sind daher Täter, und zwar mittelbare Täter. (…) Entgegen der Auffassung der Bundesanwaltschaft, die den Angeklagten als Täter ansieht, dies jedoch nicht näher begründet hat, war St. in beiden Fällen nur als Mordgehilfe zu verurteilen.“ Das ist natürlich ein dickes Ding! Staschynskij, der höchstpersönlich mindestens zwei Menschen umbrachte, war auf einmal kein Täter mehr. Das soll man mal einem klar denkenden Menschen erklären! Laut Bundesgerichtshof soll Staschynskij also – bei seinen in Deutschland begangenen Taten – in Wirklichkeit nur dem eigentlichen Täter, dem in Moskau verbliebenen Chef des KGB, Beihilfe zu dessen zwei Morden geleistet haben. Das Gericht begründete dies damit, dass Staschynskij „ohne Interesse an dem Erfolg der Tat“ gewesen sei. Er ermordete zwar zwei Menschen, aber eigentlich sei es ihm vollkommen egal gewesen. Er sprühte den Opfern zwar höchstpersönlich Blausäure ins Gesicht, aber beherrschte laut Gericht offenbar nicht den Geschehensablauf, denn laut Gericht täte er das nur, wenn „Durchführung und Ausgang der Tat maßgeblich auch von seinem Willen abhänge.“ Deshalb war er nicht als Täter, sondern lediglich als Gehilfe zu verurteilen. Seltsames Gerechtigkeitsverständnis. Aus diesen Gründen wurde er – obwohl die Bundesanwaltschaft auf zweimal lebenslänglich Zuchthaus wegen zweifachen Mordes und drei Jahren Gefängnis wegen verräterischer Beziehungen plädiert hatte – nur zu einer Freiheitsstrafe von acht Jahren verurteilt. Auf dem Höhepunkt des Kalten Krieges sollte das Urteil wohl ein Signal an ausländische Geheimdienstler senden, wer bei solchen Taten mit welchen Konsequenzen zu rechnen hat. Staschynskij lebt – wenn er noch nicht gestorben ist - nach seiner vorzeitigen Haftentlassung unter einer neuen Identität in der Bundesrepublik Deutschland, möglicherweise auch in den USA. Comments are closed.
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AutorErnst Reuß, geboren 1962 in Franken. Studium der Rechtswissenschaften in Erlangen und Wien. Promotion an der Humboldt - Universität zu Berlin. Danach als wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Freien Universität Berlin und im Bundestag beschäftigt. Archiv
Juni 2024
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