Stephan Lambys sich über weite Strecken wie ein Krimi lesendes Buch liefert exklusive Einblicke in die Regierungszentrale. Lamby war auch während sehr kritischer Momente sehr nah dran an den führenden Politikern dieser Republik, die nur kurz nach ihrem Amtsantritt aufgrund des Krieges in der Ukraine unter größtmöglichen Druck gerieten. Am 7. Dezember 2021 prostete man sich noch auf den Koalitionsvertrag zu und hatte viel vor. „Fortschrittskoalition“ nannte man das Vorhaben, doch schon bald folgte der Schrecken. Die Koalition sollte immer tiefer in einen Krieg hineingezogen werden, den sie nicht gewollt und auch nicht zu verantworten hatte. Falsche politische Entscheidungen konnten zu einer unkontrollierbaren Eskalation des Krieges oder zu Unruhen im eigenen Land führen.
Wer die dreiteilige TV Dokumentation „Ernstfall – Regieren am Limit“ in der ARD gesehen hat, weiß das und kennt größtenteils den Inhalt des Buches. Aber es lohnt sich trotzdem das Buch zu lesen, das die Zeit von Dezember 2021 bis Juli 2023 zusammenfasst. Seit Kriegsbeginn mussten permanent Überzeugungen über Bord geworfen werden. Wie es dazu kam erzählt Lamby in „Ernstfall, Regieren in Zeiten des Krieges“ minutiös. Erst beim Rückblick auf die vielen Krisen, die man teilweise schon wieder verdrängt hat, erkennt man, was alles in dieser Zeit geleistet wurde. Seit Amtsbeginn der hoffnungsvoll gestarteten rot-grün-gelben „Ampelkoalition“ aus SPD, Grünen und FDP ist einiges passiert. Es gab Irrungen und Wirrungen, aber viele schwierig zu lösenden Probleme wurden trotzdem gemeistert. Dank erhalten die Protagonisten dafür nicht, vielmehr wird weiterhin von Menschen , die immer noch glauben, alles könne so sein wie vorher, gewehklagt. Diejenigen, die versuchen die größten Probleme zu lösen werden übelst beschimpft und bedroht. Populisten, die immer gegen alles sind, selbst aber keine Lösungen anbieten, profitieren von dieser Stimmung, die durch bestimmte Massenmedien weiter verstärkt wird. Lamby gelingt es ausgezeichnet, die Dramatik nach der Regierungsübernahme chronologisch einzufangen. Bundeskanzler Olaf Scholz sprach nach dem 24. Februar 2022, also dem Angriff Russlands auf die Ukraine, zurecht von einer „Zeitenwende“. Trotz der Warnungen der US-Geheimdienste wollte lange niemand so recht daran glauben. Auch die deutschen Nachrichtendienste lagen vollkommen daneben. Macron und Scholz glaubten Putin in vielen Gesprächen sein Vorhaben ausgeredet zu haben. Beide saßen dort an einem irritierend langen Tisch mit Putin. Für Putin ein propagandistischer Erfolg, denn er empfing sie als Bittsteller und lässt sie aus seiner Sicht wie Schulbuben aussehen. Das wirkt zwar weniger nach außen, aber sehr wohl nach innen. Doch Putin hatte sich damals schon längst entschieden und log westlichen Politikern dreist ins Gesicht. Für ihn ist Europa und die Demokratie das Feindbild, das seine eigenen diktatorischen Machtbefugnisse bedroht. Alles hat sich seit dem Krieg geändert. Jahrzehntelange Gewissheiten gelten nicht mehr. Nicht nur für die mehrheitlich als Kriegsdienstverweigerer im Kabinett vertretenen Regierungsmitglieder, wie Olaf Scholz, sondern auch für viele politische Beobachter und Bürger. Bang schaute man in die Ukraine. Viele hofften insgeheim, dass die Ukraine in wenigen Tagen den Krieg verlieren und danach alles wie vorher sein wird. Waffenlieferungen an die Ukraine seien daher völlig unnütz, argumentiert man. Doch man irrte sehr. Die Ukrainer wollten nicht kapitulieren. Der Nationalstolz und die Wut auf die als Okkupation empfundene lange Zeit mit den Russen waren viel stärker. In der deutschen Politik gab und gibt es immer wieder Zögerlichkeiten bei Waffenlieferungen, was man aufgrund der gefestigten jahrzehntelangen pazifistischen Grundhaltung einiger Politiker durchaus verstehen kann. Erstaunlicherweise sind es gerade die Grünen, die nicht nur diesbezüglich über ihren Schatten springen und dem Opfer des Angriffs beistehen wollen. Robert Habeck bekam noch viel Prügel, als er sich vor dem Krieg dafür aussprach an die Ukraine Abwehrwaffen zu liefern. Ebenso Annalena Baerbock, die sich gegen North Stream 2 aussprach. Andere wiederum betreiben Täter - Opfer - Umkehr und finden Unterstützung bei Besitzstandwahrern. Man fürchtet einen kalten Winter ohne russisches Gas. Rechtsradikale Parteien geben sich auf einmal als Pazifisten aus. Schwierige Zeiten! Die Lektüre lohnt und erzeugt Verständnis für Politiker am Limit. Inzwischen gibt es neue Brandherde. Ernst Reuß Lamby, Stephan, Ernstfall, Regieren in Zeiten des Krieges. Report aus dem Inneren der Macht, C.H. Beck, München 2023. 400 S., 26,90 Euro. Comments are closed.
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AutorErnst Reuß, geboren 1962 in Franken. Studium der Rechtswissenschaften in Erlangen und Wien. Promotion an der Humboldt - Universität zu Berlin. Danach als wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Freien Universität Berlin und im Bundestag beschäftigt. Archiv
Juni 2024
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