Prof. Dr. Jörg Kinzig ist Direktor des Instituts für Kriminologie an der Eberhard-Karls-Universität Tübingen und widerlegt in seinem klugen und gut lesbaren Essay „Noch im Namen des Volkes? Über Verbrechen und Strafe“ gängige Klischees.
Er schreibt: „Betrachtet man die Entwicklung der Kriminalität (…) über einen längeren Zeitraum, ergibt dies keinen Anlass zu besonderer Beunruhigung. Ein Hoch mit insgesamt über 6,5 Millionen Straftaten hatten wir zuletzt in den Jahren 1993-1997 und dann wieder von 2002-2004 zu verzeichnen. (…) Im Krisenjahr 2016 waren es gut 6,3 Millionen, im Folgejahr dagegen nur 5,7 Millionen und aktuell gar nur 5,6 Millionen Straftaten. Das ist zugleich der niedrigste Stand seit 1992!“ Auch die Gewaltkriminalität ist gesunken, obwohl immer wieder das Gegenteil behauptet wird. Bei der Ausländerkriminalität gilt es kriminologische Faktoren zu berücksichtigen. Der Autor meint jedenfalls, dass „das Label Deutscher oder Ausländer (…) für kriminologische Aussagen weitgehend untauglich“ ist. Nicht die Nationalität, aber „Geschlecht, Alter, Bildung, Beruf, Einkommen“ sind dagegen kriminologische Faktoren, die es sinnvollerweise zu berücksichtigen gilt. Sexualmorde, von denen es in den 90er Jahren jährlich um die 40 gab, sind auf durchschnittlich 14,3 in der letzten Dekade zurückgegangen. Durch die Befeuerung in den (sozialen) Medien kann man diesbezüglich einen ganz anderen Eindruck haben und den haben auch viele Menschen, die sich in ihrer Furchtsamkeit nicht von Fakten beeindrucken lassen. Besonders nach spektakulären, grausamen oder gewalttätigen Verbrechen wird die Angst gerne angeheizt. Selbst dem Autor wird nach eigenem Bekunden mulmig, wenn er Aktenzeichen XY gesehen hat; eine Sendung, die seit über 50 Jahren Zuschauer fesselt und auch Furcht verbreitet. Genau erforscht ist diese Kriminalitätsfurcht jedoch nicht und Kinzig gibt selbst zu derartige Ängste zu kennen. Er hat sie beispielsweise dann, wenn er abends alleine im Wald joggt, auch wenn er weiß, dass die Wahrscheinlichkeit Opfer eines Verbrachens zu werden verschwindend gering ist. Der Begriff der deutschen „Kuscheljustiz“ ist ein Dauerbrenner nicht nur an den Stammtischen der Republik. In Deutschland sind pro 100 000 Einwohner etwa 77 Menschen im Gefängnis. In den USA sind das dagegen 650. Der Autor sieht nicht, dass es diesbezüglich einen amerikanischen Sicherheitsvorsprung gibt, auch nicht durch die Todesstrafe. Kinzigs Büchlein ist der Versuch, den irrational geführten und von manchen Politikern geschürten Debatten Fakten eines Fachmanns entgegenzusetzen, auch wenn viele Menschen faktenresistent sind. Ausgesprochen lesenswert! Sei es auch nur zur Vorbereitung auf den nächsten Stammtischbesuch. Ernst Reuß Jörg Kinzig: Noch im Namen des Volkes? Über Verbrechen und Strafe, Orell Füssli, Zürich 2020, 124 Seiten, 10 Euro. Comments are closed.
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AutorErnst Reuß, geboren 1962 in Franken. Studium der Rechtswissenschaften in Erlangen und Wien. Promotion an der Humboldt - Universität zu Berlin. Danach als wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Freien Universität Berlin und im Bundestag beschäftigt. Archiv
Juni 2024
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