Nach Hitlers Tod ist der Krieg noch nicht zu Ende, aber es sollte nicht mehr lange dauern. Acht Tage danach kapitulierte die deutsche Wehrmacht. Am frühen Morgen des 7. Mai 1945 unterzeichnete Generaloberst Alfred Jodl im Namen des deutschen Oberkommandos die Gesamtkapitulation aller Streitkräfte im Alliierten Hauptquartier in Reims. Am nächsten Tag wird die Zeremonie in Berlin-Karlshorst wiederholt.
Bereits am 28. April hatte Generaloberst Bersarin, der Militärkommandant der Stadt Berlin, bekannt gegeben, dass die gesamte administrative und politische Macht in Berlin auf ihn übergegangen sei. Doch erst als Hitler sich selbst umbrachte, fühlte sich General Weidling, der letzte verbliebene Kampfkommandant der Wehrmacht, nicht mehr an seinen Eid gebunden und gab auf. Sein Kapitulationsbefehl am 2. Mai lautete: „Am 30. April 45 hat sich der Führer selbst entleibt und damit uns, die wir ihm Treue geschworen hatten, im Stich gelassen [...]. Jede Stunde, die ihr weiterkämpft, verlängert die entsetzlichen Leiden der Zivilbevölkerung Berlins und unserer Verwundeten. Jeder, der jetzt noch im Kampf um Berlin fällt, bringt seine Opfer umsonst [...].“ Der Historiker und Journalist Volker Ullrich schildert diese letzten acht Tage des „Tausendjährigen Reiches“, indem er Ereignisse schildert, die an diesem Tage passiert sind. Tage in denen niemand wusste wie es weitergeht. Ein großes Durcheinander, bestehend aus deutschen Flüchtlingen aus dem Osten, KZ Häftlingen auf ihrem letzten Todesmarsch, bereits befreiten KZ-Häftlingen und Zwangsarbeitern, sogenannten Displaced Persons. Ein „Ameisenhaufen“. Ullrich schreibt: „In den letzten Wochen des ‘Dritten Reiches’ war es ein alltägliches Bild: Tausende von KZ-Häftlingen schleppten sich, häufig wandelnden Skeletten gleichend, über Landstraßen durch Dörfer.“ Viele wurden noch in den letzten Kriegstagen vor Ort gemeuchelt, auch ohne Befehle von ganz oben. Ullrich berichtet mit wohltuend objektiven und vorurteilsfreien Blick aber nicht nur davon, sondern auch von Vergewaltigungen und Nachkriegsprostitution. Ergänzt wird die Schilderung der letzten acht Tage mit einem Prolog über Hitlers Selbstmord und einem Epilog. Dönitz, Speer und andere versuchen die Zeit zu nutzen, um vor dem Sieger gut dazustehen. Zu vielen von ihnen gelang das auch und sie führten nach dem Krieg ein gutbürgerliches Dasein. Ihre Reden und Handlungen sind damals ausgesprochen nationalistisch und selbstmitleidig. Über das von ihnen mitverursachte Massenmorden scheinen sie sich wenig Gedanken zu machen. Während Protagonisten des „Dritten Reiches“ versuchen ihre Haut zu retten, suchen Amerikaner nach Wissenschaftlern, wie Wernher von Braun, die sie sofort in die USA verfrachten. Die Rote Armee sucht währenddessen nach Adolf Hitler, dessen vollkommen verbrannte Leiche man schließlich anhand seines Gebisses identifiziert. Es sind keine spektakulären neuen Erkenntnisse, die Ulrich darlegt, aber es gelingt ihm wunderbar ein Bild der letzten Tage in ganz Deutschland zu zeichnen. Von Berchtesgaden, dem Hitlerrefugium am Obersalzberg bis nach Flensburg, dem Rückzugort der letzten Naziregierung unter Karl Dönitz. Außerdem geht die spannend erzählte Reise in einige besetzte Länder. Viele persönliche Dramen spielen sich ab. Erich Kästner schrieb in sein Tagebuch: „Leute laufen betreten durch die Straßen. Die kurze Pause im Geschichtsunterricht macht sie nervös. Die Lücke zwischen dem Nichtmehr und dem Nochnicht irritiert sie.“ Ullrich schreibt nicht so sehr von den Erlebnissen des „Kleinen Mannes“, sondern es sind die Erlebnisse von Protagonisten des Nazireiches und von Menschen, die auch nach dem Krieg eine wesentliche gesellschaftliche Rolle spielten. Beispielsweise von Helmut Schmidt, der in der Wehrmacht auch an der Ostfront diente und noch in den 90er Jahren gegen die Wehrmachtsausstellung negativ eingestellt war. Sein Vorgänger als SPD-Vorsitzender Kurt Schumacher hatte 1932 in einer Rede im Reichstag gesagt: „Wenn wir irgend etwas beim Nationalsozialismus anerkennen, dann die Tatsache, dass ihm zum ersten Mal in der deutschen Politik die restlose Mobilisierung der menschlichen Dummheit gelungen ist“. Zehn Jahre saß er danach im KZ, bevor er 1943 schwer krank entlassen wurde und nach dem Krieg als Invalide der SPD vorstand. Auch deren Nachfolger Willy Brandt wird beleuchtet, der in diesen Tagen nichts sehnlicher wünschte als nach Deutschland zurückzukehren. In einer Episode berichtet Ullrich von der wie Brandt des Vaterlandsverrats bezichtigten Marlene Dietrich, die ihre Schwester im Konzentrationslager Bergen-Belsen traf, allerdings unter ganz anderen Umständen als gedacht. Bis zum 23. Mai durfte Dönitz als Nachfolger Hitlers noch im Amt bleiben, dann wurde auch er verhaftet. Die Hitlerporträts hingen wahrscheinlich noch immer in seinen Amtsstuben, kurz zuvor hatte er sich noch geweigert sie abzuhängen. Mit Verbrechen des Naziregimes habe er nichts zu tun gehabt, erklärte er, wie so viele andere: Man hatte ja von nichts gewusst. „Niemand ist ein Nazi. Niemand ist je einer gewesen.“ bemerkte eine Kriegsreporterin. Man jammerte hauptsächlich um das eigene vermeintlich ungerechte Schicksal. Mitgefühl mit den gemeuchelten Opfern zeigte man kaum. Ullrich schreibt zum Schluss: „Man muss (...) begreifen (...) welche Errungenschaft es bedeutet, heute in einem stabilen, freiheitlichen und friedlichen Land leben zu können. Vielleicht ist es an der Zeit, daran zu erinnern.“ Ein absolut lesenswertes Buch. Ernst Reuß Volker Ullrich: Acht Tage im Mai. Die letzte Woche des Dritten Reiches. Verlag C.H. Beck, München 2020. 317 Seiten, 24 Euro. Comments are closed.
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AutorErnst Reuß, geboren 1962 in Franken. Studium der Rechtswissenschaften in Erlangen und Wien. Promotion an der Humboldt - Universität zu Berlin. Danach als wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Freien Universität Berlin und im Bundestag beschäftigt. Archiv
Juni 2024
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