Das aktuelle Buch der konservativen Pulitzer-Preisträgerin Anne Applebaum beginnt mit einer Silvesterparty zum Jahrtausendwechsel, zu der sie und ihr Mann in ein Landhaus nach Polen eingeladen hatten. Es kamen Journalisten, Diplomaten und Freunde aus aller Welt.
Ihr und ihrem Mann waren die konservativen Intellektuellenkreise ebenso vertraut wie der nationale und internationale Politikbetrieb. Alle glaubten an die Demokratie, an den Rechtsstaat, die Gewaltenteilung, an die EU und an ein Polen als festen Bestandteil des modernen Europas. Mit vielen der damaligen Gäste redet sie heute nicht mehr, beziehungsweise die nicht mehr mit ihr, denn vieles ist anders gekommen als vermutet und daran hatten auch einige Silvestergäste ihren Anteil. Einige wurde zu Internettrollen, Verschwörungstheoretikeren oder Antisemiten. Die, die sich radikalisierten, gehörten sicherlich nicht zu den „Abgehängten“, stellt Applebaum fest. Sogar die Autorin selbst, die seit 1988 in Polen lebt und mit dem ehemaligen polnischen Außenminister verheiratet ist, wurde als „jüdische Drahtzieherin einer internationalen Pressekampagne gegen Polen“ denunziert. Trotzdem und ungeachtet ihrer Aufzählung von rechten Mordanschlägen aufgehetzter Täter, blickt sie besorgt immer wieder nach links, was wohl ein alter Reflex sein muss - aber auch der Denk- und Verhaltensmuster einer Neuen Rechten geschuldet ist, die sich auch des Arsenals altlinker Ressentiments bedient. Man inszeniert sich dabei als „wahre Stimme des Volkes“ und betreibt Elitenbashing, auch wenn man weit vom Volk entfernt zu sein scheint. Applebaum erzählt wie sie den elitären Tunichtgut Boris Johnson vor langer Zeit in Brüssel kennenlernte, wo der erfolgreich Artikel wie „Gefahr für das britische Frühstückswürstchen“ verbreitete. Artikel, die viele Jahre später den Weg zum Brexit ebnete. In ihrem Buch „Die Verlockung des Autoritären. Warum antidemokratische Herrschaft so populär geworden ist“ versucht Applebaum zu ergründen warum das so gekommen ist. Wer sind die „master minds“ hinter Machtmenschen wie Putin, Erdogan, Orban und Kaczynski und deren autoritärer Welle? Das erkundet die Autorin anhand von den von Autokraten beauftragten Autoren, Intellektuellen, Bloggern und sonstige Meinungsmacher, die der Öffentlichkeit ihre Sicht der Dinge verkauften und von denen sie einige gut kennt. Kaum hatte in Polen die PiS 2015 die Wahl mit knapper Mehrheit gewonnen, kaperte sie den staatlichen Rundfunk sowie den Obersten Gerichtshof und versuchten unliebsame Kritiker mundtot zu machen. Muslime wurden zur Zielscheibe, was nicht einfach zu sein scheint in einem Land, in dem es kaum welche gibt, aber dennoch gelang. Man schoss sich im katholischen Polen aber auch auf die LGBT-Gemeinschaft ein, wurde frauenfeindlich, paranoid und offen autoritär. Applebaum beschreibt auch welche Bedeutung dabei soziale Medien und Verschwörungserzählungen hatten. „Wir stehen auf entgegengesetzten Seiten eines tiefen Grabens, der die einstigen Konservativen Polens, aber auch Ungarns, Spaniens, Frankreichs, Italiens und zum Teil auch Großbritanniens und der Vereinigten Staaten in zwei Lager spaltet“, schreibt sie und befürchtet, dass die Verachtung von Institutionen und von Minderheiten die offene Gesellschaft zerstören könnte. Ernst Reuß Anne Applebaum: „Die Verlockung des Autoritären. Warum antidemokratische Herrschaft so populär geworden ist“. Aus dem Amerikanischen von Jürgen Neubauer. Siedler Verlag, München 2021, 208 Seiten, 22 Euro . Comments are closed.
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AutorErnst Reuß, geboren 1962 in Franken. Studium der Rechtswissenschaften in Erlangen und Wien. Promotion an der Humboldt - Universität zu Berlin. Danach als wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Freien Universität Berlin und im Bundestag beschäftigt. Archiv
März 2024
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