Ungefähr 10 % der Bevölkerung Wiens waren Juden. Viele davon prägten die Geisteslandschaft der Kulturstadt Wien, auf die sich der Autor Manfred Flügge in seinem Buch „Stadt ohne Seele“ konzentriert.
Das Buch ist jedoch, anders als der Titel vermuten lässt, eigentlich eine Hommage an Wien. Allerdings an das Wien, das es einmal war. An das Wien voller Kultur, Künstler und Wiener Schmäh. 1938 habe die Stadt ihre Seele verloren, schreibt der Autor. Im März 1938 fiel „die letzte Zuflucht der deutschen Geistesfreiheit“. Der Weg in die Barbarei sei nun erst vollkommen frei gewesen. 1933, nach der Machtübernahme durch Hitler, hatte es in Deutschland einige Monate gedauert, bis die Macht vollständig in den Händen der NSDAP lag. Die Entrechtung, Beraubung, Vertreibung und Ermordung von Juden wurde erst in den nächsten Jahren zunehmend schlimmer, stellt der Autor fest und vergleicht dies mit Wien, denn dort: „geschah das alles innerhalb weniger Tage, und der Terror setzte gleichsam über Nacht ein. Das plötzliche Hereinbrechen einer schrankenlosen Gewaltherrschaft macht die Besonderheit der Wiener Märzereignisse aus.“ Unter dem Jubel der meisten österreichischen „Arier“ kam es zwischen dem 11. und 15. März 1938 zum „Anschluss“ und der dumpfe, braune Ungeist setze sich in Wien endgültig durch. Schon in den nächsten Tagen wurden wohlhabende Juden dazu gezwungen, das Kopfsteinpflaster mit Zahnbürsten zu reinigen. Am Heldenplatz jubelten tausende fanatisch jubelnde Anhänger ihrem neuen Führer Adolf Hitler zu. Schon sein Autokonvoi von München nach Wien glich einem Jubelkorso für einen Heilsbringer. Der „Führer“ wurde auf seinem Weg frenetisch gefeiert und mit Blumen beworfen. Minutiös zeichnet der Autor nach was vor und nach dem Anschluss an Hitlerdeutschland geschah und zeigt was daraus resultierte, vor allem für die jüdischen Mitbürger, von denen die weitaus meisten in Wien lebten. Er zeichnet die politischen Versuche österreichischer Politiker nach, die Eigenständigkeit zu behalten, die aber letztendlich erfolglos blieben. Durch Anbiederung an Deutschland wollte man die Unabhängigkeit bewahren. Kanzler Dollfuß, meinte die „braune Welle“ nur dann aufhalten zu können „wenn wir das was die Nazis versprechen (…) selber machen.“ Ein schwerer Irrtum, dem heutzutage auch noch viele Politiker nachhängen. Dollfuß, der seine Theorie umzusetzen versuchte, sollte seinen Irrtum bald bitter bereuen, denn schon 1934 wurde er in seinem Amtssitz durch Nazis ermordet. Ausführlich und mit einer gewissen Wehmut beschreibt Flügge die vielen Schicksale berühmter jüdischer Literaten, Künstler und Wissenschaftler aus Wien und ihren Weg in das Exil oder in den Tod. 130 000 Juden gelang die Flucht, mehr als 65 000 wurden in den Osten deportiert, wo nur wenige überlebten. Antisemitismus, angefacht durch die katholische Kirche, gab es in Österreich und daher auch in Wien, schon vorher. Hugo Bettauer hatte bereits 1922 das Buch „Stadt ohne Juden“ verfasst, um zu zeigen was aus der Stadt werden würde, wenn der grassierende antisemitische Slogan „Hinaus mit den Juden!“ Wirklichkeit werden würde. 1924 wurde das Buch sogar mit dem berühmten Volksschauspieler Hans Moser verfilmt. Bettauer wurde deswegen von den zahlreichen Antisemiten gehasst und schließlich 1925 von einen von ihnen ermordet. Der Mörder, kam kurz in die Psychiatrie, wurde aber von den „Hatern“, die damals noch kein Facebook hatten, als Held gefeiert und soll von der NSDAP unterstützt worden sein. Flügge schreibt, dass die Stadt Wien durch den massiven Exodus seiner jüdischen Mitbürger, letztendlich das verloren hat, was diese an sich großartige Stadt vorher ausmachte. Kulturell und geistig ausgeblutet verlor sie 1938 ihre Seele. Allerdings schließt er seinen „Zeitroman“, der mitunter an fehlenden Quellenangaben leitet, dennoch hoffnungsvoll: „Alles, was man der verlorenen Stadt nachrühmen konnte, Wien als geistige, stilvolle Lebensform, fähig zu Offenheit, Zusammenfügung und Verständnis, gemischt mit einem Schuss kreativer Bosheit, all das haben die Vertriebenen und Verstoßenen gerettet und in alle Welt verpflanzt und für die Nachwelt aufbewahrt. Vieles davon ist nach und nach in das Wien der Gegenwart wieder heimgekehrt.“ Bleibt die Hoffnung, dass es so bleiben wird, auch wenn man angesichts der momentanen politischen Strömungen in Wien wieder eher skeptisch sein muss. Ernst Reuß Manfred Flügge, Stadt ohne Seele. Wien 1938, Aufbau Verlag, Berlin 2018, 479 Seiten, 25 Euro Comments are closed.
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AutorErnst Reuß, geboren 1962 in Franken. Studium der Rechtswissenschaften in Erlangen und Wien. Promotion an der Humboldt - Universität zu Berlin. Danach als wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Freien Universität Berlin und im Bundestag beschäftigt. Archiv
März 2024
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