„,Schwarzes Eis‘ ist eine Erinnerung an das große Experiment, das 1917 begann und siebzig Jahre später im völligen Zusammenbruch endete. Es ist eine Geschichte aus einem Jahrhundert voller Aufbruch und Hoffnung, aber auch voller Willkür, Grausamkeit und Blut. Es ist die Geschichte meiner Familie“, schreibt der ehemalige Chefredakteur der Thüringer Allgemeinen Sergej Lochthofen in seinem Vorwort. Der 1953 in Vorkuta geborene Journalist ist der Sohn des 1989 gestorbenen Lorenz Lochthofen, der von 1963 bis 1967 Mitglied des Zentralkomitees der SED war.
Lorenz Lochthofen floh Anfang der dreißiger Jahre aus dem Ruhrgebiet in die Sowjetunion und absolvierte dort ein Studium des Journalismus und der politischen Ökonomie. 1937 wurde er Opfer der stalinistischen Säuberungen. Ebenso erging es seiner ersten Frau. Ihre gemeinsame Tochter starb. Lochthofen wurde zu fünf Jahren Zwangsarbeit im Arbeitslager Vorkuta verurteilt, der Grund war ihm unklar. Neun Jahre Zwangsarbeit wurden es schließlich, bis er 1946 „frei“ kam, aber weiterhin als Verbannter in Vorkuta wohnen bleiben musste. Dort lernte er seine spätere Ehefrau kennen, gründete eine neue Familie, machte seinen Abschluss als Ingenieur und wurde in der Sowjetunion zum anerkannten Werktätigen. Bereits 1947 schrieb er an Wilhelm Pieck „Ich verfolge mit lebhaftem Interesse euren Kampf um die Organisation eines neuen demokratischen Deutschland. Ich möchte und will mit dabei sein und in euren Reihen kämpfen.“ Er bekam nie eine Antwort. Der Brief blieb in seiner Kaderakte jedoch bis heute erhalten. Erst 1956 wurde Lochthofen vollständig rehabilitiert und konnte mit seiner Familie 1958 in die DDR ausreisen. Dort begann er eine erstaunliche Karriere, die ihn schließlich sogar ins ZK der SED führte. Letztlich scheiterte er aber an der schwerfälligen Bürokratie und der Engstirnigkeit von Politbürokraten und zog sich 1967 nach einem Herzinfarkt ins Privatleben zurück. Der Titel Schwarzes Eis beschreibt das vom Kohlestaub gefärbte Eis in Vorkuta. Der Weg dorthin und seine Erlebnisse umfassen mehr als zwei Drittel des Buches. Es ist die in Romanform geschriebene Geschichte, die der Vater seinem Sohn erzählte, vermischt mit eigenen Kindheitserinnerungen. Während die DDR noch existierte, schrieb der Autor die Erzählungen auf und versteckte sie vor der Stasi. Lorenz Lochthofen blieb Zeit seines Lebens ein Verdächtiger. Zuerst in der Sowjetunion als Deutscher misstrauisch betrachtet, dann in der DDR als ehemaliger Vorkuta-Häftling beargwöhnt und selbst noch kurz vor seinem Tod 1989 von der Stasi bespitzelt. Als ein Film über ihn gedreht werden sollte, wurden aus den Jahren im Gulag schlichtweg Jahre im KZ Buchenwald gemacht. Das passte besser ins politische Weltbild der Nachkriegs-DDR. Einiges aus seinem Leben bleibt trotzdem rätselhaft, wie zum Beispiel die Zeitspanne vom Ende der Karriere bis zu seinem Tod 1989. Es wäre interessant gewesen, die Gedanken eines Lorenz Lochthofen auch aus jener Zeit zu erfahren. Gespickt mit Anekdoten wird der Roman immer mehr zu einer Hommage an den Vater. Mitunter droht er in ein Heldenepos abzugleiten über den die schwerfällige Bürokratie überwindenden Vater, der gegen alle Widerstände in das ZK der SED aufsteigt. Dabei werden einige Details sicherlich der beschriebenen Fabulierkunst des Vaters geschuldet sein. Folgerichtig bezeichnet der Verlag das Buch als einen tatsachengestützten Roman. Insgesamt ist es ein sehr leicht zu lesendes interessant geschriebenes Stück Zeitgeschichte, in dem nicht nur die Brutalität der stalinistischen Sowjetunion beschrieben, sondern auch Eigentümlichkeiten im Alltag der DDR plastisch und nachvollziehbar geschildert werden. Ernst Reuß Sergej Lochthofen, Schwarzes Eis, Der Lebensroman meines Vaters, Berlin 2012, Rowohlt, Hardcover, 448 S., 19,95 €, ISBN: 978-3-498-03940-0. Comments are closed.
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AutorErnst Reuß, geboren 1962 in Franken. Studium der Rechtswissenschaften in Erlangen und Wien. Promotion an der Humboldt - Universität zu Berlin. Danach als wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Freien Universität Berlin und im Bundestag beschäftigt. Archiv
März 2024
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