Dass die Renten in den Ländern der ehemaligen DDR im Schnitt deutlich höher als im Westen sind, klingt angesichts dessen was man immer so hört erst mal erstaunlich – aber es stimmt und liegt an den längeren Erwerbsbiographien im Osten. Wolfgang Thierse meint daher auch zu Recht, die Ostdeutschen müssten „doch auch anerkennen, dass sie Teil des bundesdeutschen Sozialsystems geworden sind, ohne vorher entsprechen einzahlen zu müssen.“ 2018 erhielten laut Deutscher Rentenversicherung ostdeutsche Männer 1198, westdeutsche 1095 Euro, ostdeutsche Frauen 928, westdeutsche Frauen lediglich 622 Euro. Jobs im Osten waren vor der Wende sicher und Frauen meist erwerbstätig.
Aufgeschrieben hat das der ehemalige Spiegel-Redakteur Norbert Pötzl in seinem Buch: „Der Treuhand-Komplex: Legenden. Fakten. Emotionen“ und räumt dabei mit einigen Fake News auf, die oft die „Wurzel allen Übels“ - die Treuhand-Anstalt betrifft. Der Autor recherchierte direkt im Treuhand-Archiv und zeichnet ein anderes Bild, als das gewöhnlicherweise Geschilderte. Pötzl warnt vor einem falschen ostdeutschen Opfernarrativ. Die Treuhand war eine Idee des Runden Tisches der DDR und nahm nach der Volkskammerwahl im März 1990 ihre Arbeit auf. Pötzl analysiert auch die Rolle ostdeutscher Beteiligter bei der Privatisierungspraxis, die größer ist als allgemein angenommen. Beispielsweise haben auch die Ministerpräsidenten der neuen Bundesländer im Verwaltungsrat der Treuhand mitgestimmt, sich danach aber über die Entscheidungen regelmäßig echauffiert und trugen zum Treuhand-Bashing bei. In den ersten Jahren der Treuhand saßen an den regionalen Schaltstellen mehrheitlich DDR-Bürger, vor allem alte SED Kader. 3718 von 12 000 Betrieben wurden letztendlich von der Treuhand liquidiert, was den Erwartungen der letzten beiden DDR-Regierungen entsprach. Die DDR-Wirtschaft war sehr marode, was auch der Regierung de Maizière bekannt war. Bundeskanzler Kohl versprach damals - wider besseres Wissen - „blühende Landschaften“ und trug damit ebenfalls zur Legende bei. Ob dies aus wahltaktischen oder psychologischen Gründen geschah ist umstritten. Sicher wurden auch Fehler gemacht und manch einer – nicht nur aus dem Westen - verdiente sich eine goldene Nase. Gerade diese Fälle wurden und werden natürlich ausführlich medial beleuchtet. Das führt zu einer Verzerrung der Wahrnehmung und viele gefühlte Wahrheiten haben nichts mit den Fakten zu tun, wie Pötzl an Einzelbeispielen eindringlich darlegt. Er berichtet nicht nur über misslungene Transaktionen der Treuhand, sondern auch über deren Erfolge. Populistische Politiker, nicht nur von der AFD, haben das Klischee der armen abgehängten ostdeutschen Opfer, die von Westdeutschen und der Treuhand ausgeplündert wurden, lange Jahre bedient. Offenbar verfängt das, denn auch in Regionen, denen es sehr gut geht, erreicht die AFD eine gewaltige Masse an Wählern. Viele Analysten führen das dennoch auf die traurigen Erfahrungen der Ostdeutschen mit der dämonisierten Treuhand zurück. Gerade jetzt möchte die Linke im Bundestag erneut ein Untersuchungsausschuss zur Treuhand einrichten. Dafür ist bisher nur die AFD. Die Stimmung im Osten sei schlechter als die Lage, meint der Autor. Die Arbeitslosigkeit war vor 20 Jahren noch zehn Prozent höher als im Westen gewesen, heute sind es keine zwei Prozent mehr. Nichts ist schwerer als mit Mythen aufzuräumen. Pötzl versucht es trotzdem und wird wahrscheinlich dafür auch einiges an Gegenwind bekommen. Das Buch regt sicherlich zum debattieren an. Ernst Reuß Norbert F. Pötzl: „Der Treuhand-Komplex: Legenden. Fakten. Emotionen“, kursbuch.edition, Hamburg 2019, 256 Seiten, 22 Euro Comments are closed.
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AutorErnst Reuß, geboren 1962 in Franken. Studium der Rechtswissenschaften in Erlangen und Wien. Promotion an der Humboldt - Universität zu Berlin. Danach als wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Freien Universität Berlin und im Bundestag beschäftigt. Archiv
März 2024
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