Der Ort Srebrenica steht für das kaltblütige Massaker an mehr als 8 000 wehrlosen muslimischen Männern und Jugendlichen aus Bosnien. Das Massaker gilt als das schwerste Kriegsverbrechen in Europa seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs. Am Abend des 11. Juli 1995 befanden sich in Potočari, nahe Srebrenica, bis zu 25 000 bosniakische Flüchtlinge. Tausende drängten sich auf einem UN-Blauhelm-Gelände, während der Rest sich auf benachbarte Felder verteilte. Die einmarschierenden Truppen der bosnischen Serben, selektierten die Menschenmassen unter den Augen der dort stationierten niederländischen UN-Soldaten. Frauen, Kinder und Männer wurden getrennt abtransportiert. Fast alle männlichen bosniakischen Gefangenen wurden zwischen dem 13. und 17. Juli in sorgfältig durchgeführten Massenexekutionen getötet.
Wie konnte es im Juli 1995 dazu kommen? Mitten im „aufgeklärten“ Europa, in einer Sicherheitszone der Vereinten Nationen? Matthias Fink, Autor und Journalist, beschreibt minutiös den Hergang des unerträglichen Geschehens. Fast tausend Seiten, voller Unmenschlichen, die sehr stark an Judenpogrome im Zweiten Weltkrieg erinnern. Täter und Opfer kannten sich teilweise. Sie waren in dieselben Schulen gegangen oder hatten jahrelang in denselben Dörfern gelebt. Der Hass wurde von nationalistischen Politikern geschürt. Die „Türken“, wie sie von den bosnischen Serben bezeichnet wurden, also muslimische Bosniaken, die nichts anderes als die „Islamisierung des Abendlandes“ im Sinne gehabt hätten, mussten aus deren Sicht eliminiert werden. Kommt einem bekannt vor. Offensichtlich kann sich Geschichte durchaus wiederholen. Beim Dankgottesdienst anlässlich des kurz nach dem Massaker erfolgten „militärischen Sieges“ in einer nahen christlichen Kirche ließ der Bischof die versammelte Gemeinde wissen: „Gott hat sich unserem Volke zugeneigt, und der Himmel war uns nie näher als jetzt. Wir fühlen, dass Gott mit uns ist. Wir spüren, dass die Hand Gottes uns führt, denn [...] ist es nicht ein Wunder und die Gnade Gottes, dass hier in drei Tagen mutige serbische Krieger serbisches Land, das seit der Zeit der Osmanen besetzt war, befreit haben? Dass dort, wo das altehrwürdige Kreuz geleuchtet hatte, sie den Schandfleck des Halbmonds entfernen?“ Fink lässt keinen Zweifel an der Schuld der bosnisch-serbischen Truppen und ihren Befehlsgebern, der als Hauptverantwortlicher für das Massaker geltende Ratko Mladić wurde im November 2017 zu lebenslanger Haft verurteilt, dokumentiert aber auch das Versagen der Staatengemeinschaft und verschweigt nicht die Verbrechen, die auf das bosniakische Konto gehen. Das akribisch recherchierte und umfangreiche Buch ist eine, anhand von Zeugenaussagen plastische und sehr erschreckende Schilderung der Mordtaten. Die Gebeine des 14jährige Mirnes Osmanovic wurden erst 14 Jahre später in einem Massengrab entdeckt. Die Mutter, die zwischendurch in Deutschland als Flüchtling geduldet war, erfuhr 2011 davon. Sie hatte nicht nur ihn, sondern auch ihren Mann bei dem Massaker in Srebrenica verloren. An die 8 500 Opfer wurden seit Ende des Bosnienkrieges exhumiert. Etwa 7 000 Leichen konnten bislang namentlich zugeordnet werden. Der Internationale Strafgerichtshof für das ehemalige Jugoslawien stufte das Verbrechen in Srebrenica als Völkermord ein. Ernst Reuß Matthias Fink, Srebrenica, Chronologie eines Völkermords oder Was geschah mit Mirnes Osmanovic, 992 Seiten, gebunden, 20 Abb., 12 Karten, Hamburger Edition 2015, 45 € Comments are closed.
|
AutorErnst Reuß, geboren 1962 in Franken. Studium der Rechtswissenschaften in Erlangen und Wien. Promotion an der Humboldt - Universität zu Berlin. Danach als wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Freien Universität Berlin und im Bundestag beschäftigt. Archiv
März 2024
|