Siegfried Lichtenstaedter wurde 1865 im fränkischen Baiersdorf bei Erlangen geboren. Nach dem Studium der Orientalistik und der Jurisprudenz war er zuletzt als Oberregierungsrat in der bayrischen Finanzverwaltung in München tätig. Als Jude war er auch in seinem Amt dem alltäglichen Antisemitismus seiner Mitbürger ausgesetzt. 1942 starb der inzwischen Deportierte in Theresienstadt, angeblich an Altersschwäche.
Als Jude war er auch in seinem Amt dem alltäglichen Antisemitismus seiner Mitbürger ausgesetzt. 1942 starb der inzwischen Deportierte in Theresienstadt, angeblich an Altersschwäche. Lichtenstaedter schrieb viele politische Analysen und Satiren, die er als Beamter nur unter den Pseudonymen Mehemed Emin Efendi, Ne'man und U.R. Deutsch veröffentlichen konnte. Götz Aly, der nun Teile seiner wichtigsten Schriften herausgegeben und kommentiert hat, bezeichnet ihn als „Prophet der Vernichtung“, denn Lichtenstaedter warnte frühzeitig vor einer drohenden Vertreibung und Vernichtung der Juden. Bereits den Genozid an den Armeniern hatte er lange vorher vorausgesagt. Als überaus kluger Chronist beschäftigte sich Lichtenstaedter intensiv mit den politischen und gesellschaftlichen Entwicklungen seiner Zeit. Götz Aly zeigt, wie aktuell seine Texte über Antisemitismus, Völkermord und Hass heute wieder sind. Ein kurzer Ausschnitt: „Der erledigte Posten des Gerichtsvollziehers war neu besetzt worden - und mit wem? Man höre und staune: mit einem Juden, wogegen die übrigen Bewerber - zwölf Arier - übergan- gen wurden. Seit der Erschaffung der Welt war es das erste Mal, dass der Gerichtsvollzieher in Anthropopolis ein Jude war; die öffentliche Meinung - mit Ausnahme derer, die in sträflicher Gleichgültigkeit gegenüber den heiligsten Fragen der Menschheit dahinvegetierten - geriet in die lebhafteste Bewegung. (…) Doch dies waren noch nicht die ernstesten Bedenken. Die grundlegende, prinzipielle Frage lag tiefer: Im Großherzogtum Anthropopolitanien gab es - wohl deswegen, weil die Bevölkerung wohlhabend und nicht gerade prozesssüchtig war - nur einen Gerichtsvollzieher. Da nunmehr dieser eine Gerichtsvollzieher Jude war, so konnte man mit Fug und Recht darauf hinweisen, dass das Gerichtsvollzieheramt zu hundert Prozent in jüdischen Händen war, während die jüdische Bevölkerung nur ein Prozent der Gesamtbevölkerung betrug, so dass das normale Zahlenverhältnis der Juden in der Gerichtsvollzieherei genau um das Hundertfache überschritten war. Nach der anthropopolitanischen Verfassung sollten die Juden mit der übrigen Bevölkerung gleichberechtigt sein. Die Gerichtsvollzieherei in jüdischen Händen bedeutete aber - wie selbst der schlechteste Rechenkünstler in Anthropopolis bald herausfand - hundertfach höhere Rechte!! Nein, diese Berechnung war noch weit zu niedrig. Die anthropopolitanischen Mathematiker versäumten nicht, die öffentliche Meinung daran zu erinnern, dass die arische Bevölkerung mit 0 - sage und schreibe null - in der Gerichtsvollzieherei vertreten sei, und dass die Zahl 1 dividiert durch 0 keineswegs 100, sondern die Unendlichkeit ergebe, sonach die Juden in einem wahrhaft unendlichen Maße bevorzugt, die Arier in gleichem Maße zurückgesetzt seien. In weiten Kreisen gewann die Überzeugung Boden, dass hier große, versteckte Pläne des internationalen Judentums zugrunde liegen müssten.“ Das Lachen über seine überaus gelungen Satiren kann einem im Hals stecken bleiben, wenn man darüber nachdenkt, dass er diesem Alltagsantisemitismus täglich ausgesetzt war und offensichtlich sehen konnte, was auf ihn zukam. Früh erkannte er die Gefahren des oft schnell hervorbrechenden Minderheitenhasses. Seine Satiren lesen sich, als seien sie als Mahnung für heute geschrieben. Interessant wäre es zu wissen, was Lichtenstaedter heutzutage zum Alltagsrassismus von deutschen Biedermännern zu sagen hätte. Seine Schriften gibt es inzwischen auch in der Digitalen Sammlung der Bayerischen Staatsbibliothek: https://www.digitale-sammlungen.de/index.html?projekt=1533642471 Ernst Reuß Siegfried Lichtenstaedter, Prophet der Vernichtung. Über Volksgeist und Judenhass, Herausgegeben und mit begleitenden Essays von Götz Aly, Fischer Verlag, 2019, 288 Seiten, Hardcover 22,00 € Comments are closed.
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AutorErnst Reuß, geboren 1962 in Franken. Studium der Rechtswissenschaften in Erlangen und Wien. Promotion an der Humboldt - Universität zu Berlin. Danach als wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Freien Universität Berlin und im Bundestag beschäftigt. Archiv
März 2024
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