Die 1929 geborene Rywka Lipszyc begann ihr Tagebuch kurz nach ihrem 14. Lebensjahr. Zu diesem Zeitpunkt lebte sie schon über drei Jahre im Ghetto von Litzmannstadt, beide Elternteile waren dort bereits gestorben. Rywka war die Älteste von den vier nun verwaisten Geschwistern, die von Verwandten adoptiert worden waren.
Rywka stammte aus einer angesehenen ortsansässigen jüdischen Familie. Ihr Vater, der von deutschen Herrenmenschen brutal zusammengeschlagen worden war, trug bleibende Gesundheitsschäden davon und starb infolgedessen am 2. Juni 1941. Die Mutter, die sich nun alleine um ihre vier gemeinsamen Kinder kümmern musste, überlebte ihren Mann jedoch nur knapp über ein Jahr. Sie starb am 8. Juli 1942, vermutlich an Unterernährung und Erschöpfung. Verhungern war eine der häufigsten Todesursachen im Getto von Lodz. Knapp zwei Monate nach ihrem Tod mussten auf Anordnung der deutschen Behörden 15 000 Ghettobewohner zur Deportation ausgeliefert werden. Es traf die Kinder unter 10 Jahren und Senioren, die älter als 65 Jahre waren. Mordechai Chaim Rumkowski, der oft arrogant und machtbewusst auftretende, sogenannte Älteste der Juden, musste dies organisieren. In einer Rede bat er die Bewohner, sie sollten das Undenkbare tun, um noch Schlimmeres vom Getto abzuwenden. Er beschwor die Eltern, dass „man Glieder amputieren müsse um den Körper zu retten“ und sagte: „Doch nun (…) muss ich meine Hände ausstrecken und bitten: Brüder und Schwestern, gebt sie mir! Gebt mir eure Kinder!“. Der Judenälteste und seine Polizeikräfte sorgten dafür, dass die von den Deutschen erwünschte Anzahl von Deportierten erreicht wurde. Die Unglückseligen kamen ins Vernichtungslager Kulmhof und wurden dort umgebracht, was man im Ghetto zum Zeitpunkt des Aufrufs ahnte, aber nicht mit absoluter Sicherheit wusste. Zwischen 1941 und 1943 ermordete die SS in Kulmhof laut Schätzungen zwischen 150 000 und 350 000 Juden aus Lodz und Umgebung. Die Rote Armee fand im Januar 1945 nach der Einnahme der Stadt nur noch 877 überlebende Juden. Rywkas beim Onkel lebenden 10 und 5-jährigen Geschwisterchen Abramek und Tamarcia wurden bei der „Aktion“ im September 1942 deportiert und getötet. Rywka und die 1933 geborene Cipka, die - zusammen mit ihren drei Cousinen und einem weiteren Pflegekind - bei der Tante wohnten, entkamen vorerst der Deportation. Als auch die Tante, deren Ehemann bereits in Kulmhof ermordet worden war, am 11. Juli 1943 starb, übernahm deren älteste Tochter die Verantwortung für die jüngeren Kinder. Doch auch Rywka und Cipka entgingen einer Deportation letztendlich nicht. Es war nur ein Aufschub gewesen. Bei der Auflösung des Ghettos im August 1944 war es schließlich soweit und sie kamen nach Auschwitz. Während ihre kleinere Schwester sofort vergast wurde, überlebte Rywka – wenn auch todkrank - nicht nur Auschwitz, sondern später auch einen Todesmarsch nach Bergen-Belsen. Am 15. April 1945 erlebte sie dort noch zusammen mit zwei übriggebliebenen Cousinen die Befreiung durch britische Truppen, die älteste der Cousinen war tragischerweise just an diesem Tag gestorben. Was mit Rywka geschah bleibt weitestgehend im Dunkeln. Ihre beiden schwerstkranken Cousinen wurden nur Genesung nach Schweden gebracht, Rywka blieb als nicht transsportfähig in ein Hospital am Timmendorfer Strand. Die Cousinen lebten fortan im Glauben Rywka hätte dort die nächsten Wochen nicht überlebt, bis sie im Jahr 2000 von Wissenschaftlern kontaktiert wurden. Offenbar überlebte Rywka auch diese Tortur, seitdem fehlt allerdings fast jede Spur. Das letzte Dokument mit ihrem Namen findet sich in einem Camp von Displaced Persons im September 1945. Ein Grab oder eine Sterbeurkunde gibt es nicht. Da nie wieder ein Lebenszeichen von ihr auftauchte, steht die Vermutung im Raum, dass sie letztendlich doch noch an den Folgen der von Deutschen begangenen Verbrechen verstarb. Das Tagebuch wurde im Frühjahr 1945 der Befreiung des Konzentrationslagers Auschwitz von einer russischen Ärztin gefunden. Es wurde erst 1995 in ihrem Nachlass wiederentdeckt und 2014 in den USA erstmals veröffentlicht. Rywkas über 100 Seiten Aufzeichnungen machen ungefähr die Hälfte des Buches aus und betreffen den Zeitraum zwischen Oktober 1943 und April 1944. Ein bewegendes Dokument mit ausführlicher historischer Einordnung, Bildern und persönlichen Zeugnissen der überlebenden Cousinen und der das Schicksal Rywkas erforschenden Wissenschaftler. Das Buch endet mit einem Aufruf an alle Leser, sich zu melden falls sie etwas zum weiteren Schicksal von Rywka Lipszyc beitragen können. Ernst Reuß Rywka Lipszyc, Das Tagebuch der Rywka Lipszyc, Aus dem Polnischen und Englischen von Bernhard Hartmann, Suhrkamp 2015, 237 Seiten 22,95 € Comments are closed.
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AutorErnst Reuß, geboren 1962 in Franken. Studium der Rechtswissenschaften in Erlangen und Wien. Promotion an der Humboldt - Universität zu Berlin. Danach als wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Freien Universität Berlin und im Bundestag beschäftigt. Archiv
März 2024
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