Spätestens seit 2015, als „Flüchtling“ das Wort des Jahres wurde und von vielen abschätzig gemeint war, ist die Flucht in aller Munde.
In einem Leserbrief hieß es: „Ich bin mehr in den Medien als Donald Trump und seine Tweets (...) Ich war der Hauptgrund (...) für die Erstarkung der Rechten in Europa. Ich bin die große Sorge vieler Bürger in diesem Land, denn ich bin gefährlicher als Altersarmut, Misshandlungen in den Familien, Umweltverschmutzung, Drogenkonsum, Klimawandel, Mangel an Pflegekräften und Erzieher. (...) Ich bin die Flüchtlinge! Und es ist kein grammatikalischer Fehler aufgrund mangelnder Deutschkenntnisse. Ich bin die Flüchtlinge! Und zwar alle Flüchtlinge. Ich bin kein Arzt, kein Jurist, weder Bauer noch Journalist, kein Künstler, kein Verkäufer, weder Taxifahrer noch Lehrer, sondern die Flüchtlinge. (...) Obwohl wir unterschiedliche Sprachen sprechen, verschiedene Religionen und Vergangenheiten haben, geschweige denn Weltansichten und Meinungen. Aber wen interessieren solche Unterschiede, wir sind am Ende alle die Flüchtlinge.“ Flucht ist eine historische Konstante, überall auf der Welt. Der Historiker Andreas Kossert stellt in seinem inzwischen preisgekrönten Buch „Flucht. Eine Menschheitsgeschichte“ die Flüchtlingsbewegung anhand von vielen Einzelschicksalen in einen größeren geschichtlichen Zusammenhang. Kossert zeigt welche existenziellen Erfahrungen von Entwurzelung und Anfeindung mit dem Verlust der Heimat verbunden sind und warum es für Flüchtlinge und Vertriebene schon immer ziemlich schwer war in der Fremde anzukommen, wo ihr bisheriges Leben weder anerkannt wird und schon gar nicht nachvollzogen werden kann. Auch die Kinder von Flüchtlingen empfinden oft traumatisch die Hilflosigkeit ihrer Eltern, bei denen sie sich eigentlich in Sicherheit wähnten. In Deutschland war vor 2015 Flucht und Vertreibung weitgehend mit den Heimatvertriebenen aus dem Osten des ehemaligen Deutschen Reiches verbunden. Exil und Emigration ist dagegen der Begriff von Hitlervertriebenenen und impliziert es wäre ihre eigene Entscheidung gewesen - so als ob Emigranten nicht auch aus ihrer Heimat vertrieben worden sind. Bis zu etwa 14 Millionen Menschen flohen während und nach Ende des Zweiten Weltkrieges aus Ostpreußen zu ihren Landsleuten in die westliche davon gelegenen Gebiete. Bei der Ankunft in den vier Besatzungszonen erwartete sie Ablehnung und Diskriminierung, genauso wie andere Flüchtlinge immer wieder überall auf der Welt. Die Flüchtlinge, die als „Rucksackdeutsche“, „Flüchtlingspack“ und „Polacken“ beschimpft wurden, waren alles andere als willkommen. Dies und noch mehr wird in Kosserts Buch thematisiert. Es geht um Vertreibung, Umsiedlung, ethnische Säuberung und Zwangsdeportation. Er berichtet nicht nur von den europäischen Juden und den Heimatvertriebenen nach dem Krieg, sondern auch von Armeniern, Polen, Ukrainern, Finnen, Griechen, Russen, Jugoslawen, Tutsi und anderen. In seinem Buch lässt Kossert Menschen zu Wort kommen, die aufgrund politischer, religiöser oder ethnischer Verfolgung ihre Heimat verlassen mussten. Seine Quellen sind Tagebücher, Erinnerungen und Autobiographien, aber auch journalistische Reportagen und literarische Beiträge von Bertolt Brecht bis Stefan Zweig. Flüchtlinge waren zumeist eine Bereicherung der einheimischen Kultur, nicht nur kulinarisch. „Am Umgang mit Flüchtlingen lässt sich ablesen, welche Welt wir anstreben“, heißt es. Rupert Neudeck, der Gründer der Hilfsorganisation „Cap Anamur“ zur Rettung vietnamesischer Boatpeople, der selbst 1945 aus Danzig fliehen musste, zog aus seiner Flucht den Schluss: „Jeder kann morgen ein Flüchtling sein“. Andere, wie diejenigen, die noch 2018 in Sachsen „absaufen“ grölten, als es um die Seenotrettung ging, zeigten weniger Weitsicht und ein eher abstoßendes Weltbild. Eigentlich haben die meisten Menschen auch in Deutschland einen Hintergrund, der mit Migration und Flucht zu tun hat und selbst die biblische Überlieferung berichtet von Flucht und Heimatlosigkeit, aber offenbar reichen sogar religiöse Moralvorstellungen nicht aus um selbst ehemaligen Flüchtlingen die Xenophobie auszutreiben Ernst Reuß Andreas Kossert: Flucht. Eine Menschheitsgeschichte. Siedler-Verlag, München 2020. 431 Seiten, 25 Euro. Comments are closed.
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AutorErnst Reuß, geboren 1962 in Franken. Studium der Rechtswissenschaften in Erlangen und Wien. Promotion an der Humboldt - Universität zu Berlin. Danach als wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Freien Universität Berlin und im Bundestag beschäftigt. Archiv
März 2024
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