Wieder ist im Elsengold Verlag ein großformatiger Bildband erschienen, der die Berliner Alltagsgeschichte wunderbar visualisiert.
Diesmal wurden Farb- und Schwarzweißfotografien aus Ost- und Westberlin zwischen 1956 und 1978 abgedruckt, aus einer Zeit, an die sich viele Leser noch erinnern werden können. Trotzdem wirkt vieles fremd. Gegliedert ist das Buch nach den einzelnen Stadtbezirken. Es beginnt mit dem alten Bezirk Mitte und dem Brandenburger Tor. Man sieht die 1970 noch mit Bäumen und Büschen zugewucherte Nikolaikirche. In der Stalinallee kostete das „genaue Wiegen“ 10 Pfennige. Eine Frau mit Schürze und Kopftuch überwacht den Ablauf und kassiert den begehrten Groschen. Der Bildband ist dem Berliner Fotografen Jürgen Grothe zu verdanken. Grothe hat sich trotz Mauerbaus unermüdlich in seiner Heimatstadt umgesehen. Er schreibt selbst in seinem Vorwort: „Die Aufnahmen sind keine Schnappschüsse, sondern kontrollierte Augenblicke. Sie zeigen bewusst das Stadtbild mit seinen durch den Zweiten Weltkrieg verursachten Wunden, Ruinen und dem ersten Wiederaufbau. Mir ist es auch immer um die Menschen gegangen, um das Leben auf den Straßen und Höfen, in den Häusern der verwundeten Stadt.“ Der 1936 in Berlin geboren Fotograf übernahm 1980 die Leitung des Fotoarchivs des Landes Berlin und beschäftigt sich seit Jahrzehnten in Zeitungsartikeln und Büchern mit der Geschichte Berlins. Das 1956 eröffnete Metro-Goldwyn-Meyer Kino, zeigt dort, wo heute der Zoo-Palast steht, Tom und Jerry. VW Käfer und aus heutiger Sicht schicke Oldtimer parken davor. Ein älterer Mann im Sonntagsstaat blickt im August 1963 durch ein Loch im Bauzaun auf die neueste Großbaustelle Berlins, das Europacenter. An der Brandmauer der Baustelle wird mit einem Wandbild groß für „Sinalco“ geworben. Man kann sich anhand der Passanten gut vorstellen, dass der Kudamm damals noch eine elegante Flaniermeile war. Das hat sich wie so vieles verändert. Vor dem Betreten der Gedächtniskirche wir mittels eines „Vorsicht Einsturzgefahr – Schild“ noch 1957 gewarnt. Da wo heute Hochbeete sind fährt noch 1964 eine Straßenbahn vom Wittenbergplatz in Richtung Gedächtniskirche. Auch den frisch restaurierten und umgebauten Ernst-Reuter-Platz umrundete noch 1967 eine Straßenbahn. Leider wurden später die Schienen entfernt. Man glaubte das Heil im individuellen Autoverkehr zu finden. Ein Foto zeigt die feierliche Verabschiedung der letzten Straßenbahn am 2. Oktober 1967. Pferdefuhrwerke sind in der Stadt auch in den 70ern noch präsent und transportieren beispielsweise Bierfässer der Engelhardt Brauerei. Auch zwischen den Hochhausschluchten des damals neu errichteten hochmodernen Märkischen Viertels sind Pferdefuhrwerke und Leiterwagen unterwegs. Dort wo heute gigantische und an Satellitenschüsseln reiche Wohnblocks zu finden sind, stand der Sportpalast, der noch 1965 ziemlich imposant wirkt. 1973 wurde er abgerissen. Die Ruine des berühmten „Haus Vaterland“ in der Nähe des Potsdamer Platzes erlitt 1976 das gleiche Schicksal. Leider auch die Kreuzberger Kneipe „Zum nassen Dreieck“. Selbstverständlich ist auch der Tag des Mauerbaus am 13. August 1961 dokumentiert und die Patrouillen fahrenden Jeeps der Alliierten. Die Versöhnungskirche in der Bernauer Straße stand noch bis 1985 im Todesstreifen. Die „Bockwurst Emmy“ war 1968 noch am Eingang des beliebten Wochenmarkts an der Schloßstraße zu finden, wo heute das Forum Steglitz steht. Eine ausgesprochen angenehme nostalgische Reminiszenz an die jüngere Vergangenheit. Ernst Reuß Jürgen Grothe, Berlin: Fotografien aus Ost und West 1957–1978, Gebundenes Buch, Elsengold Verlag Berlin 2019, 232 Seiten, 36,00 € Comments are closed.
|
AutorErnst Reuß, geboren 1962 in Franken. Studium der Rechtswissenschaften in Erlangen und Wien. Promotion an der Humboldt - Universität zu Berlin. Danach als wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Freien Universität Berlin und im Bundestag beschäftigt. Archiv
März 2024
|