Ein Berliner Jurist schreibt über die Kriegsgefangenen an der Ostfront Am 22. Juni 1941, überfiel Nazideutschland die Sowjetunion. Millionen Menschen gerieten an der Ostfront in Gefangenschaft – auf beiden Seiten. Für den Berliner Rechtswissenschaftler Ernst Reuß ist das Teil seiner Familiengeschichte: Ein Großvater war als Besatzer in einem Lager für sowjetische Kriegsgefangene tätig, ein anderer kam später als deutscher Kriegsgefangener in dieses selbe Lager. Von Ernst Reuß Es war im Oktober 1999, als ich eine Ausstellung zum Holocaust sah und ein Foto mich sehr berührte: das Foto einer Erschießung im Zweiten Weltkrieg. Zu sehen ist ein am Rande einer Grube mit Leichen kniender einzelner Zivilist, der direkt in die Kamera des Fotografen blickt, während ein deutscher Soldat von hinten die Pistole auf seinen Kopf richtet. Der Fotograf hatte offensichtlich kurz vor der Liquidierung auf den Auslöser gedrückt. Als Bildunterschrift war auch der Ort angegeben, an dem die Erschießung stattfand. Es war Winniza in der Ukraine. Winniza? Das hatte ich schon gehört. Dort war während des Krieges mein Großvater, erzählte man sich. Mein Großvater Ernst, der zu früh verstorbene, nach dem ich benannt wurde. Er war zwar Parteimitglied, aber weit hinter der Front in einer Schreibstube tätig, hieß es. Vom Krieg soll er kaum etwas mitbekommen haben. Von da an interessierte mich brennend, was in Winniza geschehen war. Ich begann nachzuforschen und fand heraus, dass mein Großvater in der Kommandantur eines Lagers für sowjetische Kriegsgefangene in Winniza gearbeitet hatte. Ich las alles, was ich dazu auftreiben konnte, und erfuhr, dass in derartigen Lagern entsetzliche Verbrechen geschehen sind. Erstaunt stellte ich fest, dass in Deutschland zwar viel über deutsche Kriegsgefangene in Sibirien geschrieben wurde, es aber kaum etwas über das Schicksal der sowjetischen Kriegsgefangenen gibt, obwohl 3,3 Millionen von ihnen – mehr als die Hälfte – in deutschen Lagern umgekommen sind. Noch größer war mein Erstaunen, als ich bei meinen Recherchen darauf stieß, dass mein anderer Großvater Lorenz, der kein Nazifreund war, mehrere Jahre – als Gefangener in russischer Hand – in eben diesem Lager in Winniza verbringen musste, nachdem die Deutschen abgezogen waren. Nun ließ mich das Thema erst recht nicht mehr los. Ich durchstöberte alle deutschen Archive, die dazu etwas in ihren Beständen hatten, und wurde auch fündig. Die Ergebnisse waren begrenzt, doch viele Originalakten führten dazu, dass das Bild immer klarer wurde. Das Bild von zwei einfachen Soldaten an der Ostfront und schrecklichen, zumeist ungesühnten Verbrechen. In Winniza, wo mein Großvater Ernst als Feldwebel tätig war, gab es drei Lager: Von Juli bis September 1941 existierte ein Ghetto für die jüdische Zivilbevölkerung. Es hatte ungefähr 7000 Bewohner und mindestens 2000 Tote durch Erschießungen zu beklagen. Als zweites Lager wurde in Winniza ein Zwangsarbeitslager für männliche Juden unter SS-Verwaltung errichtet, das von 1941 bis 1944 bestand. Seine Insassen hat man zu Gleisbauarbeiten herangezogen. Als die Arbeiter nicht mehr gebraucht wurden, sollen auch sie erschossen worden sein. Für das dritte Lager, das eigentliche Kriegsgefangenenlager Stalag 329, war die Wehrmacht zuständig. Dort wurden zwischen Oktober 1941 und September 1943 bis zu 20 000 sowjetische Soldaten gleichzeitig gefangen gehalten. Stalag 329 war nicht das schlimmste der Lager im Osten. Es fanden aber auch dort Aussonderungen, Sonderbehandlungen und Morde statt. Ganz zu schweigen davon, dass es außerhalb der drei Lager im Herbst 1941 und Frühjahr 1942 zu Massenerschießungen kam. Es wird geschätzt, dass dabei zwischen 15 000 und 30 000 Einwohner von Winniza umgebracht wurden. (Anmerkung zu neueren Zahlen, siehe unten) Ernst muss von den Verbrechen zumindest gewusst haben, auch wenn er wahrscheinlich nicht direkt involviert gewesen ist. Wir haben uns nicht kennengelernt. Er ist mit nur 42 Jahren 1950 an einem Herzleiden gestorben, das er sich während des Krieges zugezogen hatte. Mein anderer Großvater Lorenz wurde erst Ende Januar 1942 eingezogen und bereits einige Wochen später an die Ostfront ins Kubangebiet geschickt. Er war einfacher Gefreiter. Kanonenfutter nannte man diese kurz ausgebildeten Soldaten. Da sie keinerlei Kampferfahrung besaßen, war ihre Lebenserwartung an der Front nicht sonderlich hoch. Nur wenige aus seinem Regiment überlebten den Zweiten Weltkrieg. Lorenz hatte Glück im Unglück und wurde bei Noworossijsk im Juli 1943 bei einem Granatenangriff schwer verletzt. Nach seiner Genesung musste er allerdings wieder ran, um die Reichshauptstadt zu verteidigen. Am 2. Februar 1945 schrieb er zum letzten Mal an seine Frau: „Man könnte aus der Haut fahren, wenn man dieser ekligen Zeit gedenkt. Zwölf Jahre Haß und Elend und wie lange wird es noch dauern?“ Lorenz geriet am 16. April 1945 in der Nähe von Berlin in sowjetische Gefangenschaft. Bereits am 10. Mai 1945 kam er in der Ukraine im Lager Winniza – dem früheren Stalag 329 – an. Dort sollte er erst einmal bis Ende Juli 1947 bleiben. Danach wurde er ins Lager Kiew verlegt, wo es ihm nach eigenem Bekunden bis zum Ende seiner Kriegsgefangenschaft im Mai 1949 als Lagerfriseur nicht schlecht ging. Er litt allerdings zeit seines Lebens an den im Krieg erlittenen Verletzungen. Mein Großvater war einer von etwa zwei Millionen der 3,1 Millionen deutschen Kriegsgefangenen in der Sowjetunion, die wieder nach Deutschland zurückkehrten. Demnach ist über ein Drittel in den Lagern – oder auf dem Weg dorthin – gestorben. Doch die häufigen Todesfälle auf sowjetischer Seite konzentrierten sich vor allem auf die Zeit unmittelbar nach Stalingrad und sind weitgehend mit der Auszehrung und dem schlechten Gesundheitszustand der deutschen Soldaten nach den langen Kämpfen zu erklären. Ein weiterer Grund war die allgemein schlechte Lebens- und Versorgungssituation in der ausgebluteten Sowjetunion. Im Großen und Ganzen hielt sich Moskau an die Genfer Konvention. Das unterschied sich fundamental vom Umgang mit sowjetischen Kriegsgefangenen auf deutscher Seite. Dort war man mitnichten an einer menschenwürdigen Behandlung der „Untermenschen“ interessiert. Die Leiden der Überlebenden hatten auch nach dem Krieg kein Ende. Bereits am 16. August 1941 war Gefangenschaft durch Stalins Befehl Nr. 270 mit Verrat gleichgesetzt worden. Von denen, die heimkehrten, wurden vier Fünftel verurteilt oder als Zwangsarbeiter in entlegene Gegenden geschickt. Erst 1957, nach dem 20. Parteitag der KPdSU, kamen sie im Rahmen einer Amnestie frei, blieben aber bei der eigenen Bevölkerung häufig geächtet. Der Autor, Jahrgang 1962, ist Jurist und lebt in Berlin. Zuletzt ist sein Buch „Gefangen! Zwei Großväter im Zweiten Weltkrieg“ in aktualisierter Fassung erschienen. Seit 29. Dezember 2020, gibt es in Winnyzja/Ukraine, Teatralnaja 15 dazu eine Ausstellung. Es geht um NS-Verbrechen in Winnyzja 1941-1944: um sowjetische Kriegsgefangene und um ermordete Patient*innen der dortigen psychiatrischen Klinik. Ausstellungsdesign: Andrij Yermolenko. Nach der Übersetzung wird die Ausstellung hoffentlich auch in Deutschland zu sehen sein. Anmerkung: „Auch außerhalb dieser drei Lager kam es zu Erschießungen. Im September 1941 und im Frühjahr 1942 sogar zu Massenerschießungen. 33 150 Juden hatten 1939 in Winniza gelebt, was immerhin 35,6% der Gesamtbevölkerung war. Als die Deutschen am 19. Juli 1941 die Stadt einnahmen waren noch 18 000 jüdische Bürger in der Stadt, der Rest war geflohen. Schätzungen gehen davon aus, dass am 19. September 1941 mehr als 10 000 Juden durch das 45. Reserve-Polizeibataillon erschossen wurden. Am 15 April 1942 wurden nochmal knapp 5 000 Juden kurz vor den Toren der Stadt Winniza umgebracht. Ungefähr 1 000 unabkömmliche Handwerker ließ man vorerst noch am Leben. Direkt nach dem Krieg sollen gerade noch 74 Bürger jüdische Überlebende gezählt worden sein. Heute ist nur noch 1 % der Bevölkerung jüdischen Glaubens.“ (Ernst Reuß, Zwei Großväter im Zweiten Weltkrieg, S. 84) Comments are closed.
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AutorErnst Reuß, geboren 1962 in Franken. Studium der Rechtswissenschaften in Erlangen und Wien. Promotion an der Humboldt - Universität zu Berlin. Danach als wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Freien Universität Berlin und im Bundestag beschäftigt. Archiv
März 2024
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