Als der ORF-Auslandskorrespondent Ernst Gelegs den Nachlass einer „Erbtante“ sichtet, die er kaum kannte, stößt er auf eine Schachtel mit fast 100 Briefen. Die Briefe sind ein sehr spannendes, detailliertes Zeitdokument einer bewegten Familiengeschichte und geben Einblick in das Leben eines jungen Frontsoldaten im Zweiten Weltkrieg. Im Zentrum des Buches steht der Bruder der „Erbtante“ Leonhard Wohlschläger, Sohn eines renommierten Wiener Architekten. Offenbar ein „Bruder Leichtfuß“, der das Leben genießt und sich nicht um das Morgen schert. Der Krieg kommt ihm gerade recht, da seine Schuldner ihm hartnäckig auf den Fersen sind.
Anfangs als Kraftfahrer in Belgien und Frankreich, genießt er das Leben eines Besatzers und schickt teure Waren nach Hause. Später als Schreiber in der Sowjetunion, kurz hinter der Front, vergeht ihm die „Leichtigkeit des Seins“, obwohl er - im Gegensatz zu den Soldaten an der Front - es auch dort immer wieder schafft, genügend für sich abzuzweigen. Mit den armen Menschen vor Ort kann er allerdings keine Geschäfte machen, sie haben nichts was es lohnt nach Hause zu schicken. Die Nazipropaganda verfängt auch bei dem jungen vorankommen wollenden Soldaten. Er hat wenig übrig für die „Kommunisten“ und ist wohl auch in den Verbrechen vor Ort involviert. Gelegs veröffentlicht einen Teil von Leonhards Briefen unter dem Titel „Liebe Mama, ich lebe noch!“ und versucht sich in den jungen Frontsoldaten Wohlschläger hineinzuversetzen. Zudem kommentiert er an Hand der Datierung der Briefe die Geschehnisse in der Heimatstadt Wien und den Kriegsverlauf. Gelegs bezeichnet dabei General Paulus, der letztendlich gegen Hitlers Willen mit den Resten seiner aufgezehrten Truppe vor Stalingrad kapitulierte, mehrfach als Hitlers feigster General, der von den „Kommunisten“ instrumentalisiert wurde. Dieses Urteil kann man durchaus differenzierter fällen und es spricht nicht unbedingt für eine tiefergreifende Recherche, was auch das kurze Literaturverzeichnis zeigt. Möglicherweise ist die Einschätzung bezüglich Paulus auch persönlichen Befindlichkeiten des Autors geschuldet, denn sein Großvater kämpfte in Stalingrad und überlebte. Interessant wäre auch gewesen zu erfahren, wo genau Leonhard Wohlschläger im Krieg gewesen ist, was bei entsprechenden Auskunftsbegehren sicherlich detailliert in Erfahrung hätte gebracht werden können. Trotzdem ein interessantes Büchlein, das unter seinem etwas abrupten Schluss leidet. Der Briefwechsel endet im Juni 1944. Über den weiteren Werdegang des jungen Soldaten erfährt man nur, dass er wohlbehalten nach Wien zurückgekommen ist und offensichtlich auch nach dem Krieg ein „Hallodri“ geblieben ist. Ernst Reuß Gelegs, Ernst, Liebe Mama, ich lebe noch!: Die Briefe des Frontsoldaten Leonhard Wohlschläger, Kremayr & Scheriau, Wien 2019, Hardcover, 208 Seiten, 22,00 € Comments are closed.
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AutorErnst Reuß, geboren 1962 in Franken. Studium der Rechtswissenschaften in Erlangen und Wien. Promotion an der Humboldt - Universität zu Berlin. Danach als wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Freien Universität Berlin und im Bundestag beschäftigt. Archiv
März 2024
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