Die Tatsache, dass der Kreuzberg, mal Tempelhofer Berg hieß, weiß nicht jeder. Dass das Zentrum von SO36, die Oranienstraße, etwas mit hugenottischen Flüchtlingen zu tun hatte und diese durch ihr handwerkliches Können wesentlich zur wirtschaftlichen Entwicklung Berlins beitrugen, weiß man schon eher. Dass diese Flüchtlinge quasi die ersten Siedler Kreuzbergs waren, das es damals noch gar nicht gab und die Straße mal Orangenstraße hieß, da die Flüchtlinge meist aus der südfranzösischen Stadt Orange kamen, weiß man dagegen schon wieder weniger.
Jürgen Enkemann, der 1938 geborene Autor des im Verlag für Berlin - Brandenburg erschienenen Buches mit dem Titel „Kreuzberg – das andere Berlin“ beschäftigt sich in seinem Buch allerdings eher mit den Ereignissen und Entwicklungen, die er selbst miterlebt und mitgestaltet hat. Enkemann - seit 1963 in Kreuzberg wohnhaft - war Mitgründer und Mitglied zahlreicher kommunalpolitischer Initiativen in Kreuzberg und seit Jahrzehnten publizistisch tätig. Das moderne Kreuzberg und die dort ansässige Bohème entwickelte sich laut Autor mit der Galerie „Zinke“ in der Oranienstraße, mit der Künstlerkneipe „Der Leierkasten“ in der Zossener Straße und mit der Kneipe „Die kleine Weltlaterne“ in der Kohlfurther Staße. Seitdem gilt Kreuzberg als das alternative Viertel voller Aussteiger, interessanter Clubs und einer lebhaften Künstlerszene, aber auch von Hausbesetzungen und Krawall. Sogar Ingeborg Bachmann - offenbar keine Kreuzbergenthusiastin - war als Mitglied er Akademie der Künste häufiger zu Gast und sagte 1964 folgendes: „Die feuchten Keller und die alten Sofas sind wieder gefragt, die Ofenrohre, die Ratten, der Blick auf den Hinterhof. Dazu muss man sich die Haare lang wachsen lassen, muss herumziehen, muss herumschreien, muss predigen, muss betrunken sein und die alten Leute verschrecken …. Die Trödler verkaufen nicht mehr ganz so billig, weil der Bezirk im Kommen ist, .... die Prediger und die Jünger lassen sich bestaunen am Abend und spucken den Neugierigen auf die Currywurst ….“ In den ersten Jahren der Kreuzberger Bohème spielten Migranten kaum eine Rolle. Mit dem Zuzug türkischer Gastarbeiter, von denen sich einige Nachkommen weder als Deutsche noch als Türken, sondern als Kreuzberger fühlen, entstand „Multikulti“. Mit den Häuserbesetzungen begann eine andere widerständige Zeit über die der Autor ausführlich berichtet. Ton Steine Scherben und Rio Reiser sind nun die Protagonisten. Das besetzte Bethanien galt damals in der Presse noch als „Terrorzentrale“, während Rio Reiser sang: „Der Mariannenplatz war blau, so viele Bullen waren da.“ Die Kreuzberger 1. Mai Demo, begann übrigens bereits 1968 und nicht erst mit den Krawallen 1987, wie oft in der Presse kolportiert. Heute geht in Kreuzberg das Gespenst der Gentrifizierung um, viele alte Mieter müssen ihre Wohnungen verlassen und kleine Geschäfte können bei den steigenden Mieten nicht mehr mithalten. Die Änderung ist unverkennbar. Enkemann hofft, das der „widerständige Geist“ Kreuzbergs auch dem standhalten kann. Sein Buch ist eine reich bebilderte subjektive Analyse des Kiezes. Bizim Kiez heißt auf türkisch die Initiative, die sich heute gegen die Gentrifizierung wendet. Auf deutsch: „Unser Kiez“ Ernst Reuß Jürgen Enkemann: „Kreuzberg – das andere Berlin“, Verlag für Berlin und Brandenburg, Berlin 2020, 240 Seiten, 179 Abbildungen, 25 Euro Comments are closed.
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AutorErnst Reuß, geboren 1962 in Franken. Studium der Rechtswissenschaften in Erlangen und Wien. Promotion an der Humboldt - Universität zu Berlin. Danach als wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Freien Universität Berlin und im Bundestag beschäftigt. Archiv
März 2024
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