Klaus Kellmann, langjähriger Mitarbeiter der schleswig-holsteinischen Landeszentrale für politische Bildung und inzwischen im Ruhestand, hat ein Buch vorgelegt, das sich intensiv mit der europäischen Dimension der Kollaboration während der Nazizeit beschäftigt. „Dieses Buch hätte eigentlich von einem Franzosen, Norweger, Litauer oder Kroaten geschrieben werden müssen. Aber sie schrieben es nicht.“, merkt er in seinem Vorwort an.
Dem Buch vorangesetzt ist das Zitat: „Kein Verbrechen der Deutschen im Dritten Reich kann dadurch relativiert werden, dass es Kollaborateure in anderen Ländern gab. Umgekehrt kann sich kein Volk seiner Verantwortung für die eigenen Verbrechen entledigen, nur weil ein anderes weitaus größeres Unheil angerichtet hat.“ Damit umschifft er eine Klippe des Buches. Er kann über die Kollaboration in anderen Staaten berichten, ohne dabei die Verbrechen der Deutschen zu relativieren. Es ist eine ausführliche Analyse von 24 europäischen Staaten. Beginnend mit Österreich entlarvt Kellmann dabei sehr häufig die Mär von Widerstand und Opferrolle. Dort wo jeder zehnte Bürger Mitglied der NSDAP war und 50 Prozent des Wachpersonals in den KZs stellte, hielt man die Lebenslüge jahrzehntelang aufrecht, das erste Opfer des gebürtigen Österreichers Hitler gewesen zu sein. Eine Lebenslüge, die angesichts der Jubelorgien nach dem Anschluss und der anschließenden „Entjudung“ eigentlich sehr leicht zu entlarven war. Ein Geburtsfehler der österreichischen Republik und ein Opfermythos, der bis heute nachhaltig wirkt. In Italien wird Mussolini immer noch verehrt. Noch im Jahre 1960 waren 62 von 64 Präfekten des Landes ehemalige hohe Mussolinibeamte. Die „neutrale“ Schweiz wickelte Geldgeschäfte ab, lieferte Waffen und wies Juden an der Grenze in den sicheren Tod ab, weil das „Boot voll“ gewesen sein soll. Frankreichs jetziger Präsident Macron möchte mit dem „Volksmärchen“ aufräumen, das Vichy-Regime habe nichts mit Frankreich zu tun. Von dort wurden – aus dem einzigen unbesetzten Landesteil – Juden deportiert. Der nationale Mythos der meisten Länder besteht fast überall aus Überhöhung der Opferrolle und des heldenhaften Widerstands, auch in den Benelux-Staaten und in den skandinavischen Ländern. Willige Helfer beim Holocaust gab es auch in den zwischen Hitler und Stalin eingezwängten baltischen Staaten. Heydrich konnte daher schon auf der Wannseekonferenz verkünden, dass Estland als einziges Land Europas bereits „judenfrei“ sei. Auch dort, wie in anderen osteuropäischen und Stalin geplagten Staaten, werden die Deutschen anfangs noch euphorisch begrüßt. In Lettland beginnen sofort nach Einmarsch der Deutschen die Pogrome. Es sind Letten, die das tun – ohne von den Deutschen groß angestachelt worden zu sein. Die Todesschwadronen des Letten Viktor Arajs hatten ungefähr die Hälfte der getöteten Juden Lettlands auf dem Gewissen. Er hatte dabei willige Helfer und Denunzianten aus der Bevölkerung. Nach dem Krieg tauchte er in Deutschland unter, wurde erst 1974 zur Fahndung ausgeschrieben und 1979 zu lebenslänglicher Haft verurteilt. In Litauen kamen laut Kellmann 200 000 von 220 000 Juden um. Auch in diesem Land, gab es schon vor Einmarsch der Deutschen fürchterliche Pogrome an jüdische Nachbarn – begangen von einem litauischen, nationalistischen Mob. Die litauische Hauptstadt Vilnius in der ein Drittel der jüdischen Bevölkerung lebte, galt als „Jerusalem des Ostens“ und war für die Juden über Jahrhunderte geistiges Zentrum. Heute ist der jüdische Bevölkerungsanteil nur noch gering und eine Aufarbeitung findet kaum statt. In Polen gab es einen tief sitzenden, von der katholischen Kirche angestachelten Antisemitismus. Selbst nach dem Krieg gab es Pogrome, wie in Kielce, wohin 1000 Überlebende aus Auschwitz in der Hoffnung auf Frieden gegangen waren. Inzwischen wird „wegen Beleidigung der Nation“ strafrechtlich verfolgt, wer an derartige Verbrechen „öffentlich und entgegen den Fakten“ erinnert. Bis zu drei Jahre Haft waren bei dem inzwischen wieder etwas entschärften Gesetz vorgesehen. Auch in der Sowjetunion wurde kollaboriert. Wer daran oder an Stalins Verbrechen erinnert, ist auch im heutigen Russland verdächtig und kann durchaus als „ausländischer Agent“ deklariert werden. In der Ukraine hat die Aufarbeitung der eigenen Kollaborationsgeschichte und die Beteiligung am Holocaust keinen Platz und habe daher noch gar nicht begonnen, schreibt Kellmann. Er wundert sich nicht über die Kollaboration, weil dort zuvor unter Stalins Herrschaft Millionen Menschen verhungerten oder ermordet wurden. Auch hier wurden die Deutschen anfangs als Befreier bejubelt und Juden als Sündenböcke gemeuchelt. Alleine in der Schlucht von Babji Jar wurden innerhalb kurzer Zeit 33 771 Kiewer Juden von SS-Angehörigen und ukrainischen Nationalisten ermordet. Der Antisemitismus war hier weit verbreitet, schon lange bevor die Deutschen kamen. Die schwierige Geschichte der Ukraine wirkt bis heute nach. Während in der Ostukraine der Nationalist Stepan Bandera als Nazi-Kollaborateur und Kriegsverbrecher geächtet wird, wird er im Westen der Ukraine als Nationalheld und Freiheitskämpfer mit überlebensgroßen Denkmälern verehrt. Kellmann berichtet weiterhin von ungarischen Pfeilkreuzlern und von den Sudetendeutsche in der Tschechoslowakei, sowie von Rumänen, Bulgaren und Albanern, die teilweise schon in der EU, aber noch nicht richtig in Europa angekommen seien. Ferner informiert er über Jugoslawien und von Griechenland, also Ländern, in denen die Geschichte der Kollaboration sich noch heute auswirkt und vor nicht allzu langer Zeit zum Ausbruch von Kriegen beitrug. Kellmann ist der Ansicht, dass es ohne schonungslose Aufarbeitung der Kollaboration mit dem Dritten Reich keine gemeinsame europäische Erinnerungskultur und keine gemeinsame europäische Identität geben kann. Ein wirklich umfassendes, lesenswertes Werk. Einziger Kritikpunkt: Fast schon atemlos hechelt sich Kellmann mit seinem profunden Wissen durch die Geschichte der einzelnen Länder, so dass es dem Leser schwer fällt, allen Namen und Geschehnissen zu folgen. Doch es lohnt sich immer wieder nachzuschlagen und sich noch tiefer mit der Geschichte der einzelnen europäischen Länder zu beschäftigen. Ernst Reuß Klaus Kellmann, Dimensionen der Mittäterschaft, Die europäische Kollaboration mit dem Dritten Reich, Böhlau Verlag, Wien - Köln - Weimar 2018, Gebunden, 666 Seiten, 50,00 € Comments are closed.
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AutorErnst Reuß, geboren 1962 in Franken. Studium der Rechtswissenschaften in Erlangen und Wien. Promotion an der Humboldt - Universität zu Berlin. Danach als wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Freien Universität Berlin und im Bundestag beschäftigt. Archiv
März 2024
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