Die erste von einem nichtalliierten Gericht ausgesprochene Todesstrafe im Nachkriegs-Berlin betraf den im Bezirk Friedenau wohnenden 56-jährigen Oberpostinspektor Karl Kieling, der noch Ende April 1945 einen Mann auf offener Straße erschoss. Kieling, der am 19. März 1889 in Halle an der Saale zur Welt gekommen war und seit geraumer Zeit in Berlin-Friedenau lebte, hatte vom Fenster seiner Wohnung aus ein Handgemenge zwischen einem Zivilisten und einem uniformierten NSDAP-Mitglied beobachtet. Als Amtsperson galt Kieling unabkömmlich und hatte Berlin, im Gegensatz zu vielen anderen, nicht verteidigen müssen. Er fühlte sich aber ob seines Amtes dennoch genötigt, etwas für seinen Parteifreund zu tun. Vergeblich versuchte seine Frau, mit der er wohl am Mittagstisch saß, ihn davon abzuhalten.
Kieling war einer der vielen Mitläufer, die Hitler zum Machterhalt dringend brauchte. Kurz nachdem die Nazis an die Macht gekommen waren, trat er am 1. April 1933 in die Partei ein, gehörte der Kreisleitung an und diente ihr in Friedenau als „Leiter des Reichsbundes der Deutschen Beamten“. Mit Kriegsbeginn erhielt er von seiner Partei auch eine Handfeuerwaffe (Walther PKK) übereignet. Es war der 24. April 1945, und der Geschützlärm der sowjetischen Panzer war schon mehr als deutlich zu hören, als Kieling den Arbeiter Erich Werner vor seinem Haus aus nächster Nähe niederschoss. Dies geschah drei Tage vor dem Einmarsch der Roten Armee in Berlin-Friedenau. Der 24. April war auch der Tag, an dem 15 mit Genickschüssen gerade exekutierte Leichen in einem Park in Moabit gefunden wurden. Dort, wo heute der Hauptbahnhof ist, waren in der Nacht zuvor 16 politische Gefangene des Moabiter Gefängnisses Lehrter Straße in den nahe gelegenen Park geführt und 15 von ihnen ermordet worden. Einer von ihnen überlebte mit einem Kopfschuss. Kieling war schon zum Ort des Geschehens unterwegs, als ein Schuss fiel. Laut Zeugenaussagen kam er mit weit aufgerissenen Augen und knallrotem Gesicht, die Pistole in der Hand, angerannt, als alles eigentlich schon vorbei war. Doch keiner konnte ihn mehr aufhalten. Auf der Straße stritten sich der in Friedenau als Denunziant bekannte NSDAP-Zellenleiter Finke und der leicht angetrunkene Arbeiter Werner, der 1942 von Finke denunziert worden war, weil er unvorsichtigerweise geäußert hatte, der Krieg sei nicht mehr zu gewinnen. Werner wurde deswegen „nur“ zu 6 Monaten Gefängnis verurteilt. In der Schlussphase des Krieges hätte das aber schon das Todesurteil wegen Defätismus bedeuten können. Zwischen den beiden Männern kam es zu einer lautstarken Auseinandersetzung, und Finke wurde durch einen Schuss leicht an der Hand verletzt. Mehrere Zeuginnen hatten den Streit mitbekommen und griffen ein, um zu schlichten. Ganz anders als Kieling, der offenbar kurzen Prozess machen wollte. Als er mit der Waffe in der Hand auf die Gruppe zugerannt kam, riefen die Frauen ihm zu, dass die Sache erledigt sei und er nicht schießen solle, aber Kieling brüllte laut Anklageschrift: „Der Hund muss erledigt werden, er hat einen politischen Leiter angeschossen.“ Finke und sein Kontrahent Werner standen sich ruhig gegenüber, als sie wohl erstaunt den offensichtlich wütend heranstürmenden Kieling sahen. Werner blieb regungslos, was Kieling jedoch nicht davon abhielt, ihm aus kurzem Abstand in den Bauch zu schießen. Er war bei Abgabe des Schusses etwa einen Meter von ihm entfernt. Die Kugel zerriss Werners Leber, und er starb wenig später im Krankenhaus an seinen Verletzungen. Laut einer Zeugenaussage wollten die beiden anderen Protagonisten den Transport des Schwerverletzten ins Krankenhaus noch verhindern und meinten, dass der „Hund“ aufgehängt werden müsse. In den letzten Kriegstagen wäre das sicherlich kein Einzelfall gewesen. Erstaunlicherweise erklärte sich nach der Tötung Erich Werners, der der KPD nahegestanden haben soll, kein sowjetisches Militärtribunal für den Fall zuständig, um schnellen Prozess zu machen. Man verwies auf die deutsche Strafjustiz. Zuständig war das gerade erst neu entstandene Bezirksgericht Friedenau. Ernst Melsheimer, der später in der DDR Karriere als Generalstaatsanwalt machen sollte, war der zuständige Oberstaatsanwalt. Seit 4. Juni 1945 saß Kieling in Untersuchungshaft. Am 27. Juni 1945, kurz vor dem Einzug der Amerikaner und Briten in die Berliner Westsektoren, wurde Kieling vom Amtsgericht Friedenau nach der alten Fassung des § 211 StGB angeklagt und zum Tod verurteilt. Laut Augenzeugen soll es ein fairer Prozess gewesen sein. Die dreistündige Hauptverhandlung fand öffentlich im überfüllten Großen Bürgersaal des Rathauses Friedenau statt, was wohl dem Mangel an geeigneten Gerichtssälen geschuldet war. Die Sympathien der Zuschauer waren klar verteilt, und die Emotionen kochten hoch, als der behandelnde Chefarzt des Krankenhauses aussagte, dass er von Werners Kontrahenten Finke aus dem Operationssaal geholt und aufgefordert worden war: „Operieren Sie den Mann so, dass er stirbt!“ Kielings Anwalt legte Berufung bei der zweiten und letzten Instanz, dem Stadtgericht Berlin, ein. Damit wird es kompliziert. Inzwischen hatten nämlich die Amerikaner in Berlin ihre Zone besetzt, und Kieling war Einwohner des amerikanischen Sektors. Er wurde ins amerikanische Gerichtsgefängnis in Lichterfelde gebracht, wo man sich weigerte, ihn zur Berufungsverhandlung ans Stadtgericht im sowjetischen Sektor zu überstellen. Dort bestätigte man das Urteil allerdings der Einfachheit halber auch ohne ihn. Nun waren die Amerikaner zuständig, für die § 211 StGB in der Fassung von 1941 galt, da er kein spezieller NS-Paragraf sei. Der amerikanische Stadtkommandant annullierte das vorhergehende Urteil und das nunmehr zuständige „Landgericht II“ in Berlin-Zehlendorf verurteilte Kieling nur wegen Totschlags zu acht Jahren, was in der Stadt bei vielen Menschen für heftige Empörung sorgte. Das im sowjetischen Sektor Kammergericht, als höchste Instanz in Berlin hob das Urteil des Landgerichts II wieder auf und ordnete eine erneute Verhandlung aam Kriminalgericht Moabit an, wo am 20. Februar 1946 erneut entschieden wurde und diesmal kam das Gericht eindeutig zu dem Schluss, dass ein niedriger Beweggrund vorliege und damit das Merkmal für Mord eindeutig feststehe. Das Kammergericht lehnte eine weitere Revision von Kielings Anwalt ab, Gnadengesuche wurden ebenfalls abschlägig beschieden. Karl Kieling starb am 21. August 1946 im Spandauer Gefängnis unter dem Schafott. (zitiert aus: Ernst Reuß, Endzeit und Neubeginn. Berliner Nachkriegsgeschichten, Metropol Verlag, Berlin 2022, 282 Seiten, S. 27 ff.) Comments are closed.
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AutorErnst Reuß, geboren 1962 in Franken. Studium der Rechtswissenschaften in Erlangen und Wien. Promotion an der Humboldt - Universität zu Berlin. Danach als wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Freien Universität Berlin und im Bundestag beschäftigt. Archiv
März 2024
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