Der Protagonist des Buches Michael Hansen, ein junger amerikanischer Offizier mit deutschen Wurzeln, soll kurz vor Ende des Krieges in Deutschland herausfinden, welche Rolle ein bedeutender Wissenschaftler während der Nazizeit gespielt hat. Bei dem Wissenschaftler handelt es sich um Alfred Ploetz, den Begründer der Eugenik und Großvater der Frau des Autors Uwe Timm. Der Begriff der „Rassenhygiene“ ging auf ihn zurück, führte zur Ermordung von Menschen mit Behinderungen während des „Dritten Reiches“ und letztendlich auch zu Auschwitz. Hansen will herausfinden, wie der kommunistische Student Ploetz zu dem wurde was er schließlich war. In Gesprächen mit einem Zeugen, einem ehemaligen Freund von Ploetz, den wegen seines Widerstands im Dritten Reich ein ganz anderes Schicksal ereilte, blickt er auf die Geschichte Deutschlands zurück und erlebt in einem anderen Handlungsstrang die unmittelbare Nachkriegsgeschichte mit, einschließlich einiger Liebeleien. Die Städte liegen in Trümmern und in Deutschland will keiner dabei gewesen sein bei der Nazibarbarei. Der Protagonist schaut als Außenstehender auf seine frühere Heimat, aus der seine Eltern zusammen mit ihm aus beruflichen Gründen ausgewandert waren.
Der Nationalsozialismus und die eigene Herkunft sind immer wieder die Themen des erfolgreichen Autors. Uwe Timm bleibt der brillante Erzähler, der auch diesen Stoff in verschiedenen Ebenen umsetzen kann. Sein neuer Roman heißt Ikarien, so wie der Name eines Staates in dem, laut eines 1842 erschienen utopischen Bestsellers, vollkommene Gleichheit und Gütergemeinschaft herrscht. Die Ikarier um den Schriftsteller Étienne Cabet selbst, wollten diesen Zukunftstraum Mitte des 19. Jahrhunderts in Amerika praktisch umsetzen, scheiterten aber an ihren gegensätzlichen Vorstellungen. Auch Ploetz war einst von der Idee der Ikarier begeistert und lebte bei ihnen für ein halbes Jahr. Danach wollte er mittels „Rassenauslese“ einen besseren Menschen schaffen - mit den bekannten Folgen, auf die Timm immer wieder hinweist. Timm treibt die Frage um, wo die Verantwortung der Wissenschaft liegt. Das sei Teil unserer Geschichte, derer man sich bewusst sein sollte, insbesondere angesichts der momentanen Forschungen im Bereich der Genetik. Auch dieses Mal gelingt es ihm, einen fesselnden 500-seitigen Roman zu schreiben. Ernst Reuß Uwe Timm, Ikarien, Kiepenheuer&Witsch, Köln 2017, 512 Seiten, 24 € Comments are closed.
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AutorErnst Reuß, geboren 1962 in Franken. Studium der Rechtswissenschaften in Erlangen und Wien. Promotion an der Humboldt - Universität zu Berlin. Danach als wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Freien Universität Berlin und im Bundestag beschäftigt. Archiv
März 2024
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