„Mindestens 5 Millionen Menschen verhungerten in der ganzen Sowjetunion zwischen 1931 und 1934, darunter mehr als 3,9 Millionen Ukrainer. Wegen ihres Ausmaßes wurde die Hungersnot von 1932/33 (…) als »Holodomor« bezeichnet, eine Zusammensetzung der ukrainischen Wholodörter (Hunger) und mor (Tötung, Mord).“, schreibt Anne Applebaum im Vorwort zu ihrem neuen Werk: „ROTER HUNGER. Stalins Krieg gegen die Ukraine.“ Die in Washington geborene Historikerin, die für ihr 2003 erschienenes Buch „Der Gulag“ den Pulitzer-Preis erhielt, ist mit dem ehemaligen polnischen Außenminister verheiratet und lebt inzwischen in Warschau.
Ihr sehr detailliertes Buch beginnt 1917 mit der ukrainischen Revolution; den eigentlichen Holodomor thematisiert sie erst ab der Mitte des Buches. Der Begriff „Holodomor“ impliziert eine menschengemachte Hungersnot und die sei die Folge von brutaler Repression gegen den ukrainischen Nationalismus gewesen. Bis zum Ende der Sowjetunion wurde der Holodomor verschwiegen. Nun versucht die Ukraine die internationale Anerkennung der Hungerkatastrophe als Genozid zu erreichen. Bereits in den 20er Jahren hatte es in der gesamten Sowjetunion eine große Hungersnot gegeben. Genauso wie ein Jahrzehnt später aßen die Bauern Hunde, Katzen, Ratten und es gab Fälle von Kannibalismus. Niemand hat die Toten genau gezählt. Eine sowjetische Statistik kam auf fünf Millionen Tote. Getreide wurde von Komitees der Dorfarmut zwangseingezogen, die laut Autorin von Lenin den Befehl bekamen: „Nehmt in jedem Dorf zwischen 15 und 20 Geiseln, und wenn die Abgabequoten nicht erreicht werden, stellt sie an die Wand.“ Laut seiner Anweisungen wurden auch solche Vorräte beschlagnahmt, die für den Eigenverbrauch und die Aussaat des nächsten Jahres benötigt wurden. Das und das Fehlen von Arbeitskräften sollte sich nach einer Dürre im Sommer 1921 rächen. Die eingelagerten Getreideüberschüsse, auf die früher bei Schlechtwetterperioden zurückgegriffen werden konnte, waren alle weg. In einem äußerst wichtigen Punkt unterschied sich nach Ansicht von Applebaum diese erste sowjetische Hungersnot, die sich im „Kleinen“ Ende der 20er Jahre noch einmal wiederholen sollte, jedoch von der, die ein Jahrzehnt später folgte: der Massenhunger wurde nicht geheim gehalten. Man versuchte den Hungernden zu helfen und ließ sogar fremde Hilfe ins Land. Das war später beim Holodomor anders. Besonders betroffen waren vor allem die Bauern auf dem Land. Eine Zeitzeugin erinnerte sich: „Frösche haben nicht lange überdauert, die Leute fingen sie alle. Alle Katzen wurden gegessen, die Tauben, die Frösche; die Leute aßen alles.“ Andere im Buch zitierte Zeitzeugen erinnern sich an Kannibalismus und an Menschen, die nicht davor zurückschreckten, die eigenen Kinder für diesen Zweck zu töten. Stalin hatte Maßnahmen zur beschleunigten Industrialisierung der Sowjetunion beschlossen und begann mit der Zwangskollektivierung der Bauern, die in drei Kategorien eingeteilt wurden: „Kulaken“ (wohlhabende Bauern), Serednjaki (Mittelbauern) und Bednjaki (arme Bauern). Letztendlich galt aber jeder als „Kulak“, der mit der Zwangskollektivierung nicht einverstanden war. „Kulaken“ galten als Feinde und Verräter. Sie verloren alle Eigentumsrechte und sowohl ihre Geräte als auch ihr Vieh konnte straflos beschlagnahmt werden. Bei der Suche nach versteckten Getreidevorräten kam es zu brutalen Plünderungen und mindestens 100 000 „Kulaken“ wurden in den Gulag verschleppt. Sie sollten später als Arbeitskräfte fehlen. Für Stalin waren die Hungernden keine Opfer, sie waren Täter und an ihrem schrecklichen Schicksal selbst schuld. Später sollte dasselbe für sowjetische Kriegsgefangene gelten. Die ukrainische Geheimpolizei ließ Hungerflüchtlinge erschießen und konfiszierte deren Lebensmittelvorräte und Vieh. Die Bewertung dieser Katastrophe ist umstritten. Wurde die Hungersnot durch die Politik Stalins vorsätzlich verursacht wurde, um den Widerstand der Ukrainer zu brechen, oder war die Katastrophe den Missernten und der Zwangskollektivierung geschuldet? Die Autorin schließt sich der ersten Meinung an und schreibt: „Schritt für Schritt setzte die Sowjetführung mit Befehlen eine Hungersnot innerhalb der Hungersnot in Gang – eine Katastrophe, die sich speziell gegen die Ukrainer und die Ukraine richtete.“ Unbestritten jedenfalls ist, dass auch die von Stalin befohlene menschenverachtende, brutale und repressive Politik Grund für den Hunger war. In der Ukraine ist das Angedenken des Holodomor seit der Lossagung von der Sowjetunion ein Hauptthema, das auch politisch instrumentalisiert wird. Die Beschäftigung mit den stalinistischen Verbrechen ist weit intensiver als mit denen, die im Namen von Adolf Hitler begangen worden sind. Man kann angesichts der Repressalien in der Sowjetära diese Sichtweise durchaus verstehen. So wurden im 2. Weltkrieg deutsche Soldaten von Teilen der ukrainischen Bevölkerung freundlich als Befreier begrüßt, nicht wissend, dass kurze Zeit später ein „Hungerplan“ existierten würde, mit dem die „slawischen Untermenschen“ ausgerottet werden sollten, um Arier anzusiedeln. Den Nazis blieb dazu aber nicht genügend Zeit. Das kenntnisreiche, gut lesbare und akribische Buch trägt auf jeden Fall dazu bei, die überaus blutige Geschichte der Ukraine und auch die Auswüchse des neu erwachten Nationalbewusstseins besser begreifen zu können. Nikolai Gogol schrieb in „Betrachtung über das Werden Kleinrußlands“, wie Teile der heutigen Ukraine einst genannt wurden: „Alle Flüsse (…) fließen ins Land hinein, kein einziger nimmt seinen Weg dort, wo die Grenze verlief, so konnte keiner als natürliche Grenze gegen die Nachbarvölker dienen.“ Wie Gogol meint auch Applebaum, dass das Fehlen natürlicher Grenzen einer der Gründe gewesen sei, warum es den Ukrainern bis zum Ende des 20. Jahrhunderts – außer einige Monate im Jahre 1917 - nicht gelang, einen unabhängigen ukrainischen Staat zu bilden. Sowohl von den Nachbarländern als auch während des Zweiten Weltkriegs vom Deutschen Reich, wurde die fruchtbare Ukraine als „Kornkammer“ kolonialisiert. Zum Holodomor gibt es dort inzwischen viele Denkmäler. Das eindrucksvollste Mahnmal steht in Kiew an prominenter Stelle, von der aus ein wunderbarer Ausblick über den Dnjepr und den östlichen Teil der Stadt möglich ist. Es wurde 75 Jahre nach dem Holodomor im Jahr 2008 eingeweiht. Ernst Reuß Anne Applebaum, ROTER HUNGER, Stalins Krieg gegen die Ukraine, aus dem Englischen von Martin Richter, Originaltitel: Red Famine. The Ukranian Genocide 1932-33, Originalverlag: Doubleday NY/Penguin London, Hardcover mit Schutzumschlag, Siedler Verlag, München 2019, 544 Seiten, € 36,00 Comments are closed.
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AutorErnst Reuß, geboren 1962 in Franken. Studium der Rechtswissenschaften in Erlangen und Wien. Promotion an der Humboldt - Universität zu Berlin. Danach als wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Freien Universität Berlin und im Bundestag beschäftigt. Archiv
März 2024
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