In der Stresemannstraße, die damals noch Königgrätzer Straße hieß, war das sagenumwobene Haus Vaterland.
Das mehrstöckige Gebäude mit vielen Restaurants, einem Ball- und Kinosaal, mit diversen musikalische und künstlerischen Attraktionen und Varietéprogrammen, befand sich am Potsdamer Platz in Berlin, an der Ecke Köthener Straße. Heute würde man es als Eventgastronomie bezeichnen. Das Gebäude bot einschließlich des Kinos Platz für ungefähr 8000 Gäste und wurde beim Umbau 1928 mit modernster Technik ausgestattet. Man hatte dort rund eine Million Besucher im Jahr. Das sechsgeschossige Gebäude wurde 1912 fertiggestellt und firmierte zunächst als Haus Potsdam. Schon da gab es neben Büroräumen und einem Kino der UFA, das damals 2500 Sitzplätze große Café Piccadilly, welches aus patriotischen Gründen während des Ersten Weltkriegs in Kaffee Vaterland umbenannt wurde. In den Räumen des 1928 neu eröffneten und vollkommen umgebauten Haus Vaterland gab es eine Vielzahl von unterschiedlichen Themenrestaurants. Es gab die Rheinterrasse, das Löwenbräu, das Grinzing, das Türkische Café, die Spanische Bodega, das Czardas, die Japanische Teestube, die Bremer Kombüse, die Wild-West-Bar, die Osteria, das Teltower Rübchen mit dem jeweiligen Flair des durch den Namen charakterisierendes Themas. In einem neuen, schön illustrierten Buch des Elsengold Verlages schildert nun die Historikerin Vanessa Conze die Geschichte dieses legendären Vergnügungsetablissements. Schön, dass sie nicht nur die technischen Details und die Erbauer und Architekten aufzählt, sondern auch die, die hinter den Kulissen für den Betrieb sorgen, wie die Vaterland Girls oder dem Kellner Bayume Mohamed Husen. Im Buch abgebildet als schwarzer Cowboy in der Wild-West-Bar. Dort gab es zwar keine Indianer, aber als Schwarzer erfüllte er wohl einen gewissen exotischen Anspruch. Gelegentlich musste er auch einen Türken spielen, auch wenn er eigentlich aus Tansania kam, als 10-jähriger Kindersoldat für die deutsche Kolonialmacht im Ersten Weltkrieg dienen musste und eigentlich nur deswegen nach Berlin kam, um seinen nicht ausbezahlten Sold einzufordern. Er arbeitete dann hier als Kellner und Schauspieler an der Seite von Hans Albers und Zarah Leander. Zwischen 1934 und 1941 hatte er in mindestens 23 deutschen Filmproduktionen mitgemacht. Zuletzt in einem NS-Propagandafilm, wo er ein Verhältnis mit einer deutschen Schauspielerin begann und deshalb wegen „Rassenschande“ins KZ Sachsenhausen kam, wo er mit 40 Jahren starb. Ähnlich wie ihm erging es vielen jüdischen Künstlern, die im Haus Vaterland aufgetreten waren. Conze erwähnt einige von ihnen. Viele endeten in Auschwitz, weil sie eine andere Religion hatten. Nach der Machtergreifung der Nazis war jedenfalls vieles anders. Nach einem alliierten Luftangriff brannte das Haus 1943 teilweise aus. 1944 wurden die noch nutzbaren Räume als Wehrmachtsheim für durchreisende Soldaten zur Verfügung gestellt. Später brannte das Haus erneut. Nach dem Krieg lag das Gebäude im sowjetisch besetzten Sektor Berlins und wurde zu einer HO-Gaststätte: Beim Volksaufstand am 17. Juni 1953 brannte das Gebäude schließlich völlig aus. Die Fenster wurden zugemauert und weitere Sicherungsmaßnahmen im Zuge der Grenzbefestigung, insbesondere nach dem Bau der Berliner Mauer 1961, vorgenommen, da das Gebäude unmittelbar an die zum Westteil Berlins gehörende Köthener Straße grenzte. Am 21. Juli 1972 kam die Ruine durch Gebietstausch zu West-Berlin. Aus Verkehrssicherungsgründen wurde sie schließlich im Jahr 1976 abgetragen. Nach 1990 entstand an dieser Stelle ein Büro- und Geschäftshaus. Ernst Reuß Vanessa Conze, Haus Vaterland, Der große Vergnügungspalast im Herzen Berlins, Elsengold Verlag, Berlin 2021, 144 Seiten, 100 Abbildungen, 25 € Comments are closed.
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AutorErnst Reuß, geboren 1962 in Franken. Studium der Rechtswissenschaften in Erlangen und Wien. Promotion an der Humboldt - Universität zu Berlin. Danach als wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Freien Universität Berlin und im Bundestag beschäftigt. Archiv
März 2024
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