Ian Kershaw gilt als bedeutender Experte auf dem Gebiet der deutschen Geschichte des 20. Jahrhunderts. Seine zweiteilige Hitler-Biografie ist eines seiner bekanntesten Werke. 2011 erschien sein Buch „Das Ende“, eine sehr detaillierte Erzählung des Endes des Hitlerregimes. Sein letzter Bestseller „To Hell and Back“ beschrieb Europa bis zum Jahre 1949. Nun lässt er als Fortsetzung sein aktuelles Werk im Jahre 1950 beginnen und 2017 enden. Die neuere Geschichte Europas auf mehr als 800 Seiten, die viele Leser noch selbst erlebt haben. Während der erste Band mit dem deutschen Titel „Höllensturz“, den Niedergang Europas beschreibt, das sich beinahe selbst zerstörte, sind für ihn die Jahrzehnte nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs für Europa eine „Achterbahnfahrt“ - voller Aufs und Abs. Ein schön und flüssig lesbarer Rundumschlag zur Geschichte Europas, denn Kershaw versteht es Geschichte mit Worten erfahrbar zu machen.
Kershaw ist im Gegensatz zu vielen seiner britischen Landsleute ein entschiedener Europäer und sieht in Deutschlands Umgestaltung einen Schlüsselfaktor der europäischen Nachkriegsgeschichte. Die Gründung der Europäischen Gemeinschaft ist für ihn die zentrale Weichenstellung für Frieden und wirtschaftlichen Aufstieg, aber auch für die Ost–West-Spaltung des Kontinents. Am Ende des Buches analysiert Kershaw die neuen Krisen. Er berichtet vom jugoslawischen Bürgerkrieg und über den Irakkrieg, kommt über die Finanzkrise und Flüchtlingskrise zum Brexit. Seines Erachtens alles Folgen von Fehlentscheidungen, wozu auch die Russlandpolitik und die Ostausdehnung der Nato gehören, die wiederum die aggressiven Reaktionen Putins auslösten und zu einem neuen gefährlichen Brandherd in der Ukraine führte. Der Irakkrieg habe den islamischen Terrorismus befördert und zur Destabilisierung des Nahen Ostens beigetragen, was wiederum Ausgangspunkt für den syrischen Bürgerkrieg war, der eine bis dahin unbekannte Fluchtbewegung auslöste. Der aufflammende Nationalismus und die Fremdenfeindlichkeit innerhalb Europas, erfüllen ihn mit Sorge für die Wertegemeinschaft Europa. Kershaws Buch endet mit folgendem Ausblick: „Europa hat sich in einen Kontinent von Zivilgesellschaften verwandelt, in denen in diametralem Gegensatz zur ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts das Militär in der Innenpolitik kaum noch eine Rolle spielt, was erheblich zur Festigkeit des demokratischen Fundaments beiträgt. Es hat, trotz aller Schwierigkeiten, Spannungen und Frustrationen, gelernt, Probleme durch Kooperation und Verhandlungen zu lösen, anstatt zu militärischen Mitteln zu greifen. Und es besitzt in seiner Mitte als mächtigstes und einflussreichstes Land ein friedliches, internationalistisches Deutschland, das den größten denkbaren Gegensatz zu dem Deutschland darstellt, das in den 1930er und 1940er Jahren die Menschenrechte mit Füßen trat und die europäische Zivilisation nahezu vernichtete. Europa hat für die Freiheit gekämpft und sie gewonnen. Es hat einen Wohlstand erlangt, um den ihn der größte der Welt beneidet. Doch sein Streben nach Einigkeit und einem klaren Identitätsgefühl geht weiter. Was in den kommenden Jahrzehnten geschehen wird, kann niemand wissen. Die einzige Gewissheit ist die Ungewissheit.“ Ein sehr lesenswertes Buch, das alle Länder, auch diejenigen Osteuropas, genauestens beschreibt und auch vor kulturellen Entwicklungen nicht Halt macht. Fast schon zu viel für ein einziges Buch. Ernst Reuß Ian Kershaw, Achterbahn, Europa 1950 bis heute, aus dem Englischen von Klaus-Dieter Schmidt, Originaltitel: Roller-Coaster. Europe 1950-2017, Originalverlag: Allen Lane, Hardcover mit Schutzumschlag, 832 Seiten, 15,0 x 22,7 cm, mit Abbildungen, Hardcover, € 38,00 Comments are closed.
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AutorErnst Reuß, geboren 1962 in Franken. Studium der Rechtswissenschaften in Erlangen und Wien. Promotion an der Humboldt - Universität zu Berlin. Danach als wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Freien Universität Berlin und im Bundestag beschäftigt. Archiv
März 2024
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