Norman Davies ist ein britischer Historiker, der wie viele britische Historiker ein brillanter Erzähler ist. Er wurde mit umfangreichen Gesamtdarstellungen zur Geschichte Europas, insbesondere der britischen Inseln, bekannt.
Am Beispiel von Cornwall merkt Davies an, dass kein einziges angeblich „eingeborenes Volk“ dort ansässig gewesen ist, wo es heute lebt. Auch wer Stonehenge errichtet hat, weiß immer noch niemand. Es waren jedenfalls weder Kelten noch Engländer. Er schreibt: „Letzten Endes stammen wir alle von Immigranten ab, und das Konzept eines „ewigen Vaterlandes“ lässt sich - wenn überhaupt - nur als Ausdruck einer imaginären Rekonstruktion der Vergangenheit verstehen.“ Immer wieder stellt Davies auch auf seinen Reisen fest, dass die jeweilige dominante Migrantengruppe, die betreffende Gegend in der sie wohnen als ihr „angestammtes Vaterland“ betrachten und vormalige Immigranten zu „Eingeborenen“ machen, die meist gering geschätzt werden. So wie zum Beispiel auch in den von ihm bereisten Ländern Malaysia, USA, „Down under“ und anderen Staaten. Migration sei eine „Grundtatsache der Menschheitsgeschichte“, stellt er fest. Kluge Ansichten eines kenntnisreichen Kosmopoliten, der in seinem neuen Buch „Ins Unbekannte“ von seiner Weltreise berichtet, die er als Pensionär unternommen hatte. Er folgt den Reiserouten und den Berichten alter Seefahrer mit dem Flugzeug. Dafür hatte er ein „Round-the-World-Ticket“ erworben. Bei mangelnden Geographiekenntnissen lohnt es sich diese Reisen mit dem Finger auf der Landkarte nachzuvollziehen. Es ist ein Reisebericht der besonderen Art. Er umfasst die Geschichte und Geschichten des jeweiligen Landes, das er besucht. Davies ist ein historischer Spurensucher und eine unablässige Wissensquelle, nicht nur amüsanter Anekdoten. Aber wer weiß schon was der „Würgegriff von Singapur“ ist und das dort nach 23 Uhr das Pinkeln im Stehen verboten ist. Er reist über Baku und Abu Dhabi, wo man Goldbarren aus dem Automaten ziehen kann, nach Delhi. Er beschäftigt sich dort mit dem indischen Kastensystem. Ein unerbittliches, archaisches System, das „Unberührbare“ schafft und besonders Frauen zum Freiwild macht. Ein kurzer Blick auf die verschiedensten dort praktizierenden Religionen ergänzt das Ganze. Auf Tahiti und Mauritius macht er philatelistische und linguistische Studien, versucht das Rätsel des verschwundenen Flugzeuges MH370 zu ergründen und präferiert dabei erstaunlicherweise eine der Verschwörungstheorien. Davies ist den Aborigines in Tasmanien, als auch den Maoris in Neuseeland auf der Spur und befindet sich somit auch auf den Spuren des nicht nur britischen Kolonialismus. Auch die Geschichte von Texas und Manhattan dröselt er auf, wobei er auch hier sein Steckenpferd Linguistik nicht ganz vernachlässigt. Spannende Zeitzeugenberichte von den ersten Begegnungen mit den indigenen Völkern zeigen die Anfänge von Manhattan, zeigen auch wie aus dem dortigen Landstrich erst Nieuw Amsterdam und dann New York wurde. Zum Schluss ist er dann wieder in Europa und gewährt einen besonderen Blick auf die Umgebung des Frankfurter Flughafens, beziehungsweise auf die „Unterschweinstiege“. Seine Gedanken zum Imperialismus, Kolonialismus und der nationalen Geschichtsschreibung runden das Buch ab. Davies ist ein guter und scharfer Beobachter mit viel Humor. Seine anscheinend reichlich vorhandenen Sprachkenntnisse stellt er immer wieder gerne mit Originalzitaten dar. Er referiert auch über die Verhaltensmuster von Einheimischen und deren Moden, wie zum Beispiel in Malaysia und Singapur, wobei er, der sich nicht nur dort jeweils in der „upper class“ bewegt, die unteren Bevölkerungsschichten lediglich beobachtet und dabei mitunter die Überheblichkeit eines kolonialen Empire-Beamten an den Tag legt. Dennoch eine amüsante und spannende Lektüre für Weltenbummler. Es wäre wünschenswert, aber wohl zu viel verlangt, wenn alle Reisenden sich so intensiv mit den von ihnen besuchten Ländern beschäftigen würden. Ernst Reuß Davies, Normanm Ins Unbekannte, Eine Weltreise in die Geschichte, Aus dem Engl. v. Tobias Gabel u. Jörn Pinnow, wbg Theiss, Darmstadt 2020, mit 57 Farb- und 49 sw-Abb., 39 Karten, 896 Seiten, 39,95 € Comments are closed.
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AutorErnst Reuß, geboren 1962 in Franken. Studium der Rechtswissenschaften in Erlangen und Wien. Promotion an der Humboldt - Universität zu Berlin. Danach als wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Freien Universität Berlin und im Bundestag beschäftigt. Archiv
März 2024
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