Jenny Erpenbecks neuer Roman handelt von der Liebe einer jungen Frau zu einem wesentlich älteren Mann in der untergehenden DDR. Beide lernen sich am 11. Juli 1986 zufällig in einem Ostberliner Bus kennen und kommen in den nächsten sechs Jahren nicht mehr voneinander los.
Während der Mann, der Schriftsteller und überzeugte Sozialist Hans, selbstverständlich noch eine Ehefrau und andere Geliebte hat, gesteht er dies der jungen Frau nicht zu. Es wird zu einer, wie es heute heißt, „toxischen Beziehung“. Er ist Anfang 50, arbeitet auch beim Rundfunk und lebt mit seiner Frau und seinem Sohn in einer großzügigen Altbauwohnung in Ost-Berlin. Katharina ist 19 Jahre jung, macht gerade eine Ausbildung und wohnt bei ihrer Mutter. Erpenbecks Roman „Kairos“ ist ein Liebesroman und ein Roman über die späte DDR. Dort gab es eine Bohème, die zum Teil den Niedergang der DDR bedauerte. Beide Protagonisten bewegen sich in dieser Kunst - und Kultur - Bohéme, dementsprechend tauchen im Buch von Heiner Müller bis Christa Wolf etliche reale Namen und Örtlichkeiten auf. Auch die Autorin Jenny Erpenbeck und ihre Vorfahren entstammen diesen privilegierten Kreisen, so dass ihre Heldin Katharina durchaus auch autobiografische Züge trägt. Kein Schlüsselroman, aber Anspielungen und Symbole sind durchaus gewollt. Den Privilegien, das feste Einkommen, die garantierten Aufträge und der großen gesellschaftliche Bedeutung von Kultur stehen Zweifel gegenüber. Es geht hier um die Innensicht der etablierten Kulturszene der DDR, die sich innerhalb des Systems bewegte und von den Repressionen wenig zu spüren bekam. Das Buch spiegelt die Endzeitstimmung dieser Szene in den letzten Jahren der DDR wider. Der Titel des Buches stammt aus der griechischen Mythologie. „Kairos“ ist der Gott des glücklichen Augenblicks oder des günstigen Zeitpunkts und beschreibt zugleich den Zeitpunkt des Zusammentreffens der beiden Protagonisten, als auch die Wiedervereinigung. Katharina ist vom viel älteren Hans beeindruckt und lässt sich von ihm formen. Das mit dem historischen Glücksmoment stellt Jenny Erpenbeck mit ihrem Roman aber in Frage, sowohl in ihrer fatalen Liebe, als auch in der deutsch-deutschen Geschichte. Am Ende schaut sie sich Hans’ Stasiakte an. Ernst Reuß Jenny Erpenbeck, Kairos, Penguin-Verlag, München 2021, 379 Seiten, 22 Euro. Comments are closed.
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AutorErnst Reuß, geboren 1962 in Franken. Studium der Rechtswissenschaften in Erlangen und Wien. Promotion an der Humboldt - Universität zu Berlin. Danach als wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Freien Universität Berlin und im Bundestag beschäftigt. Archiv
März 2024
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