Steven Robins, dessen Vorfahren Robinski hießen, bevor sie nach Südafrika auswanderten, wusste wenig bis gar nichts über seine Vorfahren. Erst nach seinem erfolgreichen beruflichen Werdegang, der ihm eine Professur für Anthropologie an der Stellenbosch Universität in Südafrika einbrachte, führte ihn ein altes Foto, das die Mutter und zwei Schwestern seines Vaters im Jahr 1937 in Berlin zeigt, auf ihre Spur. In Westpreußen hatte die Familie ein Wirtshaus und später ein Schuhgeschäft betrieben. Nach dem Ersten Weltkrieg, als ihr Heimatort plötzlich zu Polen gehörte, waren sie nach Berlin gezogen.
Robins erfuhr weiterhin, dass Großeltern und Tanten einige Jahre nach der Fotoaufnahme zu Holocaustopfern wurden und getötet worden waren. Nur seinem Vater und dessen jüngerem Bruder war 1936 die Flucht aus Deutschland gelungen. Die beiden in jungen Jahren Geflüchteten lebten lange mit den für Holocaustüberlebenden typischen nagenden Gedanken, warum es gerade sie waren, die überleben durften, und sprachen nicht über das Schicksal ihrer Familie. Robins schreibt: „Die Verpflichtung die er (der Vater, Anm. d. Autors) nach seiner Emigration der Familie gegenüber empfand, können heute viele Menschen nachvollziehen – besonders jene, die vor Krieg, Völkermord, politischer Gewalt und anderen Gesellschafts – oder Naturkatastrophen (…) geflohen sind.“ Das Schweigen seines Vaters durchbrach Steven Robins erst dann, als er ihn im Jahr vor dessen Tod 1990 über das Schicksal seiner Familie befragte und mit seinen Nachforschungen begann. Häufig ist es die Enkelgeneration, die die Schweigespirale durchbricht. Jahre später entdeckte Robins, der kein Deutsch mehr spricht, über einhundert deutschsprachige Briefe an den Vater, die die Familie während des nationalsozialistischen Terrors aus Berlin geschickt hatten. Man war mittels Briefe und Telegramme in Kontakt geblieben. Robins ließ die Briefe übersetzen - und sie liegen wohl wie Steine auf seiner Seele. Zumindest deutet der Titel des Buches: „Briefe aus Stein“, darauf hin. Ein Bruder und zwei Schwestern, sowie die Eltern seines Vaters konnten nicht mehr flüchten und wurden in Riga und Auschwitz ermordet. Alle Versuche, den Angehörigen die Ausreise aus Deutschland zu ermöglichen und sie vor dem Holocaust zu retten, scheiterten sowohl an Gesetzesverschärfungen gegen Juden in Deutschland als auch in Südafrika. Der Leser erfährt von der Verzweiflung, die die Familie Robinksi befiel, als sie von der Aussichtlosigkeit ihrer Auswanderungsbemühungen erfuhr. Steven Robins findet viel mehr auf der ganzen Welt verstreute Nachkommen, als er sich jemals erträumt hätte. Im Jahr 1998 lehrte er an der Humboldt-Universität in Berlin und entdeckte bei diesem Aufenthalt in Kreuzberg in die Straße eingelassene Steine mit Lebens- und Deportationsdaten von Juden. Sie gehörten zu den ersten 51 Stolpersteinen, die 1996 im Rahmen des Kunstprojektes „Künstler forschen nach Auschwitz“ ohne behördliche Genehmigung verlegt worden waren. Robins erreichte, dass im Jahr 2000 die Verlegung der ersten zwei amtlich genehmigten Stolpersteine für seinen Onkel und dessen Frau in der Naunynstraße 46 genehmigt wurden. Sie lebten am Oranienplatz in einem Nebengebäude des legendären „Kuchenkaisers“, einer immer noch existierenden gastronomischen Institution in Kreuzberg. Auch die Stolpersteine könnten ein Hinweis auf den Titel des Buches sein, genauer erklärt wird er nicht. Später wurden auch für seine Großeltern und zwei seiner Tanten in Berlin-Mitte Stolpersteine verlegt. Die von Robins 2000 initiierte Stolpersteinverlegung war der Anstoß für ein offizielles Stolperstein-Projekt in Berlin. Seine Forschungsergebnisse sind jetzt auf Deutsch im Metropol-Verlag erschienen. Mit „Briefe aus Stein“ ist ihm ein spannendes Buch gelungen, das nicht nur die damals schrecklichen Ereignisse in Europa beleuchtet, sondern auch Aspekte der Geschichte Südafrikas einbezieht. Zwar wurde die jüdische Bevölkerung in Südafrika während der Apartheid als „Weiß“ eingestuft, trotzdem gab es auch dort einen starken Antisemitismus. Steven Robins entdeckt inhaltliche Parallelen zwischen Nazi-Rassenideologie und der Apartheid. Schädelvermessungen gab es auch an seiner Universität in Südafrika. Robins verbindet auf interessante Weise seine Lebensgeschichte mit den Erfahrungen der langsamen Enthüllung der Lebensumstände seiner Familie in Nazideutschland, bis zu deren Tod. Ein eindringlich aufgeschriebenes Stück Zeitgeschichte über Flucht, Flüchtlinge, Rassismus und Antisemitismus. Ernst Reuß Steven Robins, Briefe aus Stein, Von Nazi-Deutschland nach Südafrika, Metropol Verlag, Berlin 2019, 24 € Comments are closed.
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AutorErnst Reuß, geboren 1962 in Franken. Studium der Rechtswissenschaften in Erlangen und Wien. Promotion an der Humboldt - Universität zu Berlin. Danach als wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Freien Universität Berlin und im Bundestag beschäftigt. Archiv
März 2024
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