Ortrun kam 1939 kurz vor Kriegsbeginn als 14-Jährige nach Würzburg. Mit ihren Eltern hatte sie gerade eine Weltreise hinter sich. Sie hatte viel gesehen und war daher nicht so engstirnig, wie die meisten ihrer in Nazideutschland aufgewachsenen Mitschüler. Sie war eine junge Kosmopolitin. Ortrun unterhielt sich mit ihrer Schwester auf Englisch, mit den Eltern auf Deutsch und mit der in Japan geborenen jüngsten Schwester auf Japanisch. Ihre polyglotte Familie hatte zuletzt neun Jahre in Japan gelebt, wo der Vater an der Universität Deutsch lehrte.
Ihre Lehrer waren Engländer, Japaner und Amerikaner gewesen. Sie hatte japanische, amerikanische, englische und russische Freunde, bevor sie dem von ihr gehassten Bund Deutscher Mädel beitreten musste. Ortrun führte Tagebuch und erlebte die Nazizeit, der sie relativ wenig abgewinnen konnte. Zu Hause wurde diskutiert, man hörte heimlich BBC und Ortrun machte sich ein Bild von ihrer Umgebung. Sie schrieb am 4. Mai 1941: „Vor einigen Tagen hörten wir Churchill im Radio. Heute hörten wir Hitler. Welch ein Unterschied in der Art zu sprechen! Hitler spricht von den Engländern als den größten Feiglingen und Kapitalisten und Egoisten und weiß Gott noch was, und von Churchill als einem Irren, dem man nicht erlauben sollte, eine Nation zu führen. Auf der anderen Seite spricht Churchill von Deutschland als einer mächtigen Nation und er sagt, dies sei eine der ernstesten Epochen der englischen Geschichte. Jedes Mal wenn Hitler in Bezug auf England einen sehr hässlichen Begriff verwendet, spendet der ganze Reichstag Applaus. Wie gut die Nazis ihre Anhänger dressiert haben! Kürzlich hörte ich jemanden sagen, dass die Deutschen die freieste Nation der Welt seien. Frei? Mein Gott, wo ist diese Freiheit? Man darf nicht lesen, was man will, man darf im Radio nicht hören, was man will, man darf sich nie, nie über irgendetwas beschweren, man muss sagen, dass alles hier wunderbar ist, sonst. . . Oh, diese glorreiche Freiheit!“ Auch von der Shoa hatte sie gehört, denn wer Augen und Ohren nicht verschloss konnte es wissen. Am 10. Dezember 1942 schrieb sie: „Vor einigen Monaten zwangen die Nazis alle Juden, gelbe Sterne mit der Aufschrift „Jude" an ihre Kleidung zu nähen. (…) Seit einiger Zeit sehe ich keine Juden mehr in den Straßen, und das jüdische Altersheim ist jetzt mit Deutschen belegt. Ich hatte keine Ahnung, wohin sie alle gekommen waren, und war schrecklich schockiert, als ich hörte, dass alle Juden, die in Deutschland leben, nach Polen geschickt wurden, wo sie mit Tausenden von polnischen Juden - Männern, Frauen und Kindern - getötet werden sollen! Ist das möglich? Es ist so grausam, so unglaublich grausam! Ich dachte nicht, dass sogar die Nazis so etwas tun könnten.“ Ganz eindringlich schildert sie zuletzt auch die Bombenangriffe auf Würzburg, denen sie nahezu schutzlos ausgeliefert war: „Es geschah vor drei Nächten, am 16. (…) Mit einem Mal wurde unsere Hütte von einem unheimlichen gelben Licht durchflutet, das von draußen kam. (…) Tausende von geisterhaften Lichtern erhellten den Himmel, einige hingen direkt über uns. (…) Bomben fielen und explodierten jetzt ganz in unserer Nähe. (…) Wir lagen im feuchten Gras. Rosita war jetzt still, aber Ingrid weinte herzerweichend und starrte uns mit furchterfüllten Augen an. Es war so fürchterlich, der betäubende Donner der Bomben, das morbide, unnatürliche Licht und der Tod, der so nah war. Abertausende von Bomben wurden abgeworfen. Die Explosionen betäubten uns fast und ließen uns nach Luft schnappen. (…) Würzburg verbrannte in einem Meer von Flammen. Riesige Wolken aus Feuer und Rauch stiegen aus der Stadt empor, sogar der Wald über uns brannte. Ein Sturm, so stark wie ein Orkan, tobte.“ Würzburg gehörte wie Dresden zu den Städten im Deutschen Reich, die noch in den letzten Kriegswochen bombardiert wurden. Beim schwersten Angriff am Abend des 16. März 1945 starben etwa 5 000 Menschen und die historische Altstadt wurde zu 90 % zerstört. Ortruns letzter Eintrag in dem eben veröffentlichten Tagebuch ist vom 8. Mai 1945: „Der Krieg ist aus! Der Krieg ist aus! (…) In Amerika, in England, in fast allen Ländern wird es heute Nacht Freudenfeiern und Glücksgefühle geben. Auch ich bin glücklich, sehr glücklich, aber ich kann nicht lachen. Nicht weil ich Deutsche bin und Deutschland den Krieg verloren hat. Ich wusste, dass es so kommen würde, und ich habe es von ganzem Herzen herbeigesehnt. Ich kann nicht lachen, weil ich diese Jahre voller Terror, Verlust und Tod nicht vergessen kann. Ich kann nicht lachen, weil der Krieg uns so viel unwiederbringlich geraubt hat: die Zukunft, die wir uns vorgestellt hatten, Menschen, die wir liebten, unsere schöne Stadt - und noch so viel mehr. Und Vati? Wo ist er? Wann kommt er zurück? (…)“ Der Vater, der zu seinem Leidwesen noch am Ende des Krieges zum Volkssturm musste, kam zurück. Das Leben musste weitergehen. Ortrun blieb in Deutschland. Ein interessantes Zeitdokument. er Ortrun Scheumann: „Geliebte Feinde. Ein Mädchen erlebt das ,Dritte Reich‘ in Würzburg“. 116 Seiten, Würzburg 2015. 12,90 Euro. Comments are closed.
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AutorErnst Reuß, geboren 1962 in Franken. Studium der Rechtswissenschaften in Erlangen und Wien. Promotion an der Humboldt - Universität zu Berlin. Danach als wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Freien Universität Berlin und im Bundestag beschäftigt. Archiv
März 2024
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